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Salutogenese

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Das Konzept der Salutogenese wurde erstmals 1979 von Aaron Antonovsky vorgestellt.39 Salutogenese ist dabei als Gegenbegriff zur Pathogenese gedacht – anstelle der Entstehung von Krankheit soll untersucht werden, was die Bedingungen der Aufrechterhaltung bzw. Reproduktion von Gesundheit sind. Hier wird also die heute populäre Fokussierung auf Gesundheit eingeführt, wobei Antonovsky Gesundheit und Krankheit als Kontinuum auffasst, dessen beiden Endpunkte Ideal- bzw. Extremzustände sind.40 Zentral ist das Konstrukt eines Kohä renzbewusstseins bzw. Kohärenzgefühls (im Original: Sense of Coherence, kurz SoC), das den Umgang mit krankmachenden Einflüssen bzw. Stressoren reguliert. Antonovsky definiert den SoC als eine Art übergreifendes Vertrauen in eine geordnete und vorhersagbare Umwelt, das Gefühl, dass die Welt geordnet ist und die Dinge in einem vernünftig erwartbaren Rahmen dazu tendieren, gut auszugehen.41 Die Ähnlichkeit zu psychologischen Konzepten wie positiven Kontrollüberzeugungen bzw. hohen Selbstwirksamkeitserwartungen ist naheliegend.42 Der Unterschied liegt laut Antonovsky in der stärkeren Handlungsorientierung von Kontrolle und Selbstwirksamkeit, während der SoC sich auch auf Aspekte bezieht, die grundsätzlich nicht direkt kontrolliert werden können. Er verdeutlicht dies später anhand einer Aufgliederung in drei Einzelkomponenten ( Tab. 2), für die er auch einen Fragebogen mit 29 Items entwickelt hat.43

Tab. 2: Sense of Coherence (Kohärenzgefühl) nach Antonovsky


Wenn man Kontrolle und Selbstwirksamkeit nicht nur auf aktives Handeln beschränkt, sondern auch als eine Form der Deutung von Wahrnehmungen auffasst, kann man sie gut in den SoC integrieren. Ein Erkennen der Geschehnisse in der Umwelt als sinnvoll und erwartbar ist demnach eine Form der Kontrolle, speziell in der Systemtheorie, wo stets subjektive Prozesse maßgeblich sind, da kein direkter Zugriff auf die Umwelt möglich ist ( Kap. 2.4). Antonovsky erweitert mit seinem Modell der Salutogenese auch die klassischen Stressmodelle. Der Mensch ist demnach Stressoren ausgesetzt und setzt ihnen Widerstandsressourcen entgegen (General und Substantial Resistance Ressources, kurz GRR und SRR).44 Hurrelmann gliedert diese Ressourcen in fünf Kategorien:45

• physikalisch und biochemisch (die Leistungsfähigkeit des Immunsystems)

• materiell (finanzielle Möglichkeiten, Wohlstand)

• kognitiv und Emotional (Intelligenz, Optimismus)

• sozial (Soziale Einbindung, Beziehungsnetzwerk)

• makrostrukturell (gesellschaftliche bzw. kulturelle Integration mit einem Gefühl von Status und Bedeutung)

Physikalische oder biochemische Stressoren sind z. B. Umweltgifte oder Mikroben, deren krankheitserzeugende Wirkung sich von Mensch zu Mensch verschieden auswirkt (manche werden krank, andere aber nicht). Der SoC ist ein begünstigender psychologischer Faktor, der die Widerstandsressourcen (auch das Immunsystem) unterstützt und in einer Art Rückkopplungsschleife dabei selbst gestärkt wird; er erweitert so das Vulnerabilitäts-Stress-Modell. Die Grafik gibt das Modell in der stark vereinfachten Darstellung bei Hurrelmann wieder ( Abb. 6).46


Abb. 6: Salutogenese

Der SoC verliert an Strahlkraft, wenn man die behaupteten Beziehungen von Ursache und Wirkung versuchsweise umkehrt betrachtet; empirisch nachweisen lassen sich nur Korrelationen, die Zuschreibung von Ursache und Wirkung ist letztlich immer eine Sache der Interpretation.47 Antonovsky sieht den SoC als wichtigen Agenten der Gesunderhaltung, ebenso kann man den SoC aber auch als Begleiterscheinung, Teilaspekt oder Folge von Gesundheit interpretieren. Menschen, deren Leben bisher vorhersehbar, geordnet und positiv verlief, deren Erfahrungen weitgehend ihren Erwartungen entsprachen, die vor allem bisher noch nicht krank waren oder Krankheiten gut überstanden haben, werden die Welt entsprechend interpretieren und sich positiv aufgehoben fühlen. In diesem Sinne wäre der SoC ein habitueller Optimismus; das subjektive Vertrauen, dass alles schon gut laufen wird, als stabiles Persönlichkeitsmerkmal und/oder aus entsprechenden Erfahrungen heraus. Die Soziologie kennt das Konzept des Systemvertrauens:48 Es wird darauf vertraut, dass die Gesellschaft, ihre Teilsysteme und Institutionen erwartungsgemäß funktionieren; ohne dieses Vertrauen wäre die Komplexität der Welt nicht bewältigbar. Eine neuere psychologische Variante des SoC ist das Konzept der Resilienz, der psychischen Widerstandskraft eines Individuums gegen schädliche Einflüsse aus der physischen und sozialen Umwelt. Auch mit Resilienz soll erklärt werden, weshalb manche Menschen durch ungünstige Umwelt- bzw. Lebensbedingungen geschädigt werden, andere aber nicht. Ein Beispiel sind Kinder alkoholabhängiger oder gewalttätiger Eltern. Eine derart erschwerte Kindheit dient oft als Erklärung für spätere Krankheit oder soziale Abweichungen wie Kriminalität oder mangelnden gesellschaftlichen Erfolg; es gibt aber viele Kinder, die sich trotz solcher Umstände später normal bzw. unauffällig entwickeln. Eine gute Kenntnis von der Entstehung von Resilienz bzw. einem SoC kann helfen, Programme zur Stärkung benachteiligter oder gefährdeter Menschen zu entwickeln. Es könnte versucht werden, die individuelle Resilienz zu stärken, ähnlich wie das Training des Immunsystems durch Impfen. Allerdings kann eine Möglichkeit der Diagnostik des SoC auch dazu verleiten, schlecht ausgestattete Menschen einfach auszusortieren. Chancen werden dann eher denjenigen geboten, die aufgrund nachgewiesen guter Resilienz besser mit Schwierigkeiten werden umgehen können.

Jegliche Möglichkeit der Früherkennung von Vulnerabilität hat diese zwei Seiten – besondere Risiken erkennen, um zu helfen oder um sich die Betroffenen vom Hals zu halten. Die Beliebtheit des SoC beruht auf seiner positiven Grundfärbung, darüber hinaus wohl auch auf seiner Anschlussfähigkeit für religiöse Deutungen von Gesundheit.49 Mit der Komponente Sinnhaftigkeit lässt sich die These stützen, dass der Mensch an sich ein Grundbedürfnis nach Religion hätte und Religiosität bzw. Spiritualität grundsätzlich gesund seien.50 Die Einführung von systeminternen Komponenten wie dem SoC oder der psychischen Resilienz soll die Bandbreite der Reaktionen auf Stressoren und die unterschiedliche Stabilität von Gesundheit erklären. Sie können aber auch als Ansatzpunkt für die Zuweisung von Schuld oder Verantwortung verwendet werden. Schuld an der Krankheit sind dann weniger die identifizierten Stressoren als vielmehr ein Mangel an Resilienz oder ein unterentwickelter SoC. Und entsprechend sind diese dann Ziel von Behandlungsbemühungen: Wenn jemand z. B. unter zunehmender Arbeitsverdichtung leidet, muss er eben fit dafür gemacht werden, das auszuhalten.

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