Читать книгу Blutrausch - Andreas M. Sturm - Страница 15
Mittwoch, 09.30 Uhr
Оглавление»Guten Morgen«, wünschte Karin träge, nachdem sie Platz genommen hatte. Die euphorischen Mienen der Kollegen verrieten ihr, dass sie mit einem raschen Fahndungserfolg rechneten. Sie selbst klammerte sich ebenfalls an diese Hoffnung. Alles deutete auf einen Raubmord hin und ein Täter, der derart brutal vorging, würde über kurz oder lang einen Fehler machen. Doch ein böser Verdacht pochte in der hintersten Ecke ihres Gehirns. Im Haus des Anwalts war etwas gewesen. Etwas Unbestimmtes, schwer Greifbares, das sich in ihrem Unterbewusstsein eingenistet hatte und keine Ruhe gab.
Karin schüttelte das Gefühl ab. Sie hatte eine Ermittlung zu leiten und konnte sich nicht von einer nebulösen Eingebung ablenken lassen.
»Der Chef kann leider nicht an der Sitzung teilnehmen, ist bei einer Versammlung im Führungsstab.« Karin zuckte mit den Schultern. »Wir kommen auch so zurecht. Er hat mich zur Ermittlungsleiterin bestimmt und für die Öffentlichkeitsarbeit unserer Gruppe den Namen ›Anwalt‹ verpasst. Das Team besteht bis auf Weiteres aus uns.« Sie nickte Sandra, Heidi, Rolf und Jan zu. »Wir müssen ohne den Doktor anfangen, unser Gerichtsmediziner steckt noch mit beiden Händen in der Arbeit.« Sie merkte selbst, dass ihr Witz lausig war, und wechselte deshalb schnell das Thema. Mit knappen Worten informierte sie die Kollegen über die Befragung von Frau Bergmann und schloss mit den Worten: »Wir trauen der Dame nicht über den Weg, aber ob sie mit der Ermordung des Anwalts zu tun hat, können wir nicht sagen.« Karin hob die Hände.
Mit einem leisen Hüsteln machte Oberkommissar Rolf Brückner auf sich aufmerksam. »Eins stimmt schon mal nicht. Laut Aussage der Eltern von Weise haben die ihren Sohn vor einem halben Jahr zuletzt gesehen. Der war also nicht alle vierzehn Tage bei ihnen zum Essen. Entweder die Bergmann hat euch angelogen oder sie wusste es nicht besser. Der Kontakt beschränkte sich im Wesentlichen auf Geburtstags- und Weihnachtskarten.«
»Kann ja sein, dass er seiner Mitarbeiterin das innige Verhältnis nur vorgeschwindelt hat, um wenigstens einigermaßen als Mensch durchzugehen«, warf Sandra ein.
»Möglich ist es, aber wir merken uns das gut. Eventuell war doch mehr zwischen den beiden als nur eine simple Chef-Angestellten-Beziehung«, gab Karin zu bedenken. »Wie haben die Eltern den Tod des Sohnes verkraftet? War es sehr schlimm für dich?« Sie sah Rolf mitfühlend an.
»Sie waren auf ihre Art traurig, es hielt sich aber in Grenzen. Obwohl beide das Rentenalter erreicht haben, sind sie noch schwer aktiv, und das war wohl schon immer so. Der Vater ist Mediziner und in der Forschung tätig, die Mutter bezeichnet sich als Mäzenin.« Rolfs Oberlippe kräuselte sich verächtlich. »Sie organisiert Kunstausstellungen. Ich hab nicht ganz verstanden, was sie da macht. Sie findet ihre Arbeit jedenfalls bedeutend. Nach meinem Empfinden war für den Sohn kein Platz im Leben der Eltern. Mit zwölf Jahren kam er auf ein Internat, danach kam das Studium.« Er stieß ein kurzes freudloses Lachen aus. »Kein Wunder, wenn der Filius auf Abstand gegangen ist.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme, mehr hatte er nicht beizusteuern.
Karin nickte Rolf anerkennend zu. »Gute Arbeit. Durch deine Infos können wir den Menschen hinter dem Anwalt wesentlich besser einschätzen.« Sie drehte sich im Stuhl und lächelte Jan auffordernd an.
Der hatte nur auf Karins Signal gewartet und legte begeistert los: »Weise hat seinen Beruf streng vom Privatleben getrennt. Obwohl …« Jan machte eine vage Handbewegung. »Den Laptop aus seinem Haus hat der Mörder mitgenommen. Wir können also nicht sagen, ob er zu Hause gearbeitet hat oder nicht. Die Unterlagen, die ich in seinem Arbeitszimmer entdeckt habe, waren aber ausschließlich privater Natur. Wer die sichten darf, ist deine Entscheidung, Karin.« Er warf einen listigen Blick in Heidelindes Richtung.
Die präsentierte ein Pokerface und tat, als hätte sie nichts gehört.
»Den Rechner aus seiner Kanzlei habe ich gleich eingesackt.« Er langte unter den Tisch und legte eine Laptop-Tasche vor Heidelinde auf den Tisch. »Für dich. Ich hab natürlich reingesehen. Ist nicht passwortgesichert und eine Fundgrube für unsere Spezialistin.«
»Schleimer«, entgegnete Heidelinde, ohne eine Miene zu verziehen.
Karin hüstelte dezent. »Wir haben bereits die erste Beschwerde wegen dir bekommen, Jan. Eine ›Bachelor of Laws‹ hat angemerkt, dass die Kanzlei versiegelt ist, und das ohne Gerichtsbeschluss. Wenn die wüsste, dass du dir den Laptop gekrallt hast, würde die am Rad drehen.«
Jan grinste spitzbübisch und schnippte eine SD-Karte über den Tisch zu Heidelinde. »Ich hab mir gedacht, wenn ich einmal da bin, kann ich gleich ein paar Akten fotografieren. Nicht, dass irgendein Anwalt um die Ecke kommt und uns den Zugang zur Kanzlei verwehrt. Allerdings steht dort so einiges in den Regalen, daher habe ich mich auf die letzten zwei Jahre beschränkt, sonst würde ich immer noch in der Kanzlei rumhängen.«
Heidelinde beäugte die Karte mit einem kritischen Blick und legte sie dann ordentlich neben die Laptoptasche.
Karin reckte Jan den ausgestreckten Daumen entgegen.
Vor Zufriedenheit strahlend holte Jan tief Luft und wollte mit dem Bericht der Hausdurchsuchung weitere Pluspunkte sammeln, da stoppte ihn Günther Lachmanns Hand, die sich schwer auf seine Schulter legte.
Unbemerkt war der Chef der KTU in den Raum geglitten und hatte still auf die Gelegenheit gewartet, sich zu Wort zu melden. Er beugte sich vor und klopfte auf den Tisch, ließ die andere Hand aber weiter auf Jans Schulter ruhen. »Sollte sich jemand von euch über die tiefen Augenringe wundern, die mein Gesicht zieren, ich habe bis zum frühen Morgen gearbeitet. Und kaum hatte ich mich hingelegt, reißt mich dieser Lümmel hier aus dem Schlaf. Sag mal«, er zog die Augenbrauen drohend zusammen und schaute Jan strafend in die Augen, »du gönnst es mir wohl nicht, dass ich wenigstens drei Stunden Schlaf bekomme?«
Jan spielte den Zerknirschten und stammelte eine Entschuldigung.
Knurrend nahm Günther seine Hand von Jans Schulter, wandte sich ab und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Wenn du hier fertig bist, bringst du mir einen Kaffee, stark und mit viel Milch, ist magenfreundlicher. Und wehe du schleppst die Automatenbrühe an. Geh zu Tchibo auf den Pirnaischen Platz und beeile dich auf dem Rückweg. Wenn der Kaffee kalt wird, musst du noch mal los.«
Jan wagte keine Widerrede. Froh, so billig davongekommen zu sein, nickte er wortlos.
Günther lehnte sich zurück und streckte sich, dass die Gelenke knackten. Dann grinste er freundlich in die Runde. »Wenn ihr auf Hinweise hofft, dann muss ich euch enttäuschen. Sämtliche Fingerabdrücke im Haus stammen vom Toten und einer zweiten, vermutlich weiblichen Person.«
»Was macht dich so sicher, dass die anderen Abdrücke von einer Frau stammen?«, wollte Karin wissen.
»Sind für Männerhände zu schmal.« Zur Bestätigung hielt er eine seiner Pranken in die Höhe. »An der Eingangstür haben wir Abdrücke zweier weiterer Personen gefunden. Den einen Satz Abdrücke konnten wir bereits zuordnen. Sie passten wie die Faust aufs Auge zu den Fingern des Herrn vom Schlüsseldienst. Den habe ich heute Morgen aufgesucht, um ihn zum Zustand des Türschlosses zu befragen. Viel konnte er nicht sagen, nur dass weder Tür noch Schloss Anzeichen von Beschädigungen aufwiesen. Das zweite Paar Fingerabdrücke wird von der Frau stammen, die das Verbrechen entdeckt hat. Das zu überprüfen, ist eure Sache. Tja, und zusätzlich hat der liebe Günther das Türschloss genau unter die Lupe genommen. Ein geschickter Einbrecher ist durchaus in der Lage, es mithilfe eines Picks zu öffnen. Da hat der Anwalt wohl an der falschen Stelle gespart.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir haben Haare und Hautschuppen aufgelesen. Mit der Auswertung der DNA-Spuren kann ich allerdings frühestens morgen dienen.«
»Könnt ihr nicht einmal so schnell sein wie die Jungs bei CSI?« Sandra spielte die Genervte und verdrehte die Augen.
Günther ignorierte die Bemerkung. »Das Einzige, was ich anzubieten habe, ist der Fußabdruck. Ja, der ist wirklich schön, Größe 48 und stammt von einem Dunlop Langschaftgummistiefel. Die Fotos und entsprechenden Daten liegen auf dem Server. Ihr müsst nur noch die dazugehörigen Füße auftreiben. So«, er stemmte sich hoch, »das war es für mich. Ich erledige noch den Schreibkram und dann mache ich Feierabend. Die Zeiten, in denen ich ungestraft eine Nacht durchmachen konnte, sind vorbei.« Bevor er den Raum verließ, formte er mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger ein V, zeigte zuerst auf seine, dann auf Jans Augen und nickte bedeutungsvoll.
»Was?«, fragte Jan, nachdem er sich das Grinsen seiner Kollegen eine Weile angesehen hatte. »Ich wollte nur von ihm wissen, ob die Techniker das Haus freigegeben haben.«
Karin unterdrückte ein Grinsen und winkte ab. »Ist das, was du gefunden hast, einen Kaffee wert?«
»Und ob!« Jan war die Begeisterung über seine Ergebnisse deutlich anzusehen. »Zuerst das Offensichtliche. Haus und Garten waren mustergültig gepflegt. Ich tippe auf eine Reinigungskraft und einen Gärtner.«
»Der Gärtner ist immer der Mörder«, trällerte Sandra los.
Jan holte tief Luft. »Wenn ich dann weitermachen dürfte?«
Sandra verbiss sich ein Grinsen und blickte angestrengt auf ihre Schuhe.
»Jedenfalls denke ich nicht, dass der feine Herr Anwalt selbst geputzt und Unkraut gezupft hat.«
Karin machte sich eine Notiz.
»Der Täter hat nur das Antennen- und HDMI-Kabel zurückgelassen«, sprudelten die Worte weiter aus Jan heraus. »Die Netzkabel hat er mitgenommen. Der weiß genau, dass selbst der dümmste Ankäufer hellhörig wird, wenn jemand ein Gerät ohne Netzkabel auf den Ladentisch stellt. Wir sollten die An- und Verkäufe kontaktieren und nach hochpreisigen Geräten fragen.«
Karins Notizzettel füllte sich.
»Weise lebte allein und hatte wahrscheinlich nie Gäste«, fuhr Jan fort und untermauerte seine Behauptung durch die gemachten Beobachtungen. »Das hatte er auch nicht nötig, denn er holte sich das pralle Leben in die heimische Klause«, ließ er gleich darauf die Bombe platzen.
Seinen Worten folgte eine angespannte Stille. Vier Augenpaare starrten ihn gespannt an.
Nach einer Kunstpause beschrieb Jan genüsslich und detailliert das Auffinden der SD-Karte, bis er zum Kern der Sache kam. »Vermutlich lag die SD-Karte im Rack und der Mörder hat sie runtergerissen, als er die Geräte rauszerrte. Natürlich habe ich es nicht ausgehalten und mir den Inhalt der Karte angesehen. Weise hat mehrere Leute beim Sex gefilmt.« Jan holte Luft. »Der musste ein super Equipment haben, die Aufnahmen sind gestochen scharf.« Er fasste in seine Hosentasche und legte die SD-Karte vor Sandra. »Ich hoffe, da sind keine Viren drauf, sonst habe ich jetzt ein Problem.«
Sandra winkte lächelnd ab. »Wenn ja, mache ich deinen Rechenknecht im Handumdrehen wieder flott.« Danach berichtete sie vom Inhalt des gefundenen Rucksacks.
»Okay«, sagte Jan gedehnt, »Weise konnte sich solche Teile leisten. Damit ist auch das Rätsel der Camouflage Klamotten gelüftet, im Gucci-Anzug kriecht man nachts nicht durch die Büsche.«
Karin hob die Hand, bedankte sich mit einem Lächeln bei Jan für die gute Arbeit und fasste die Ergebnisse zusammen. »Damit haben wir bis jetzt zwei Tatmotive. Erstens, das Offensichtliche: Raubmord. Zweitens ist es möglich, dass einer der Gefilmten nicht damit einverstanden war, dass er in seinen intimsten Momenten abgelichtet wurde. In diesem Zusammenhang kann es sein, dass unser lieber Anwalt nebenbei ein kleines Erpressungsgeschäft am Laufen hatte. Ich schlage vor, dass wir in alle Richtungen ermitteln.«
Karin stand auf und begann im Raum hin und her zu laufen. »Bevor wir loslegen, möchte ich, dass sich jeder die Filme ansieht. Wir werden in den nächsten Tagen mit einer Menge Leute sprechen und da ist es von Vorteil zu wissen, ob einer von denen Darsteller in den Filmchen ist. Jan und Rolf, ihr macht euch im Anschluss nach Weißig auf und sprecht mit den Nachbarn. Findet heraus, ob es in der Gegend Einbrüche gegeben hat und ob Weise eine Putzfrau und einen Gärtner beschäftigt hat. Solltet ihr auf jemanden treffen, den ihr in Weises Filmen gesehen habt, versucht mit viel Fingerspitzengefühl herauszubekommen, ob derjenige davon wusste. Und vergesst nicht, den Leuten auf die Füße zu gucken. Ach ja, fahrt auf dem Hinweg bei Frau Bergmann vorbei und lasst euch ihre Fingerabdrücke geben.« Karin überlegte kurz und schnaufte gleich darauf genervt. »Sollte unsere Super-Juristin sich weigern, nehmt sie mit aufs Revier.«
»Wenn es eine Haushaltshilfe gibt, dann könnte es durchaus sein, dass diese durch Zufall oder gezieltes Schnüffeln die Filme entdeckt hat«, klang plötzlich Heidelindes Stimme durch den Raum. »Möglich ist ebenfalls, dass diese Person sich wiedererkannt und sehr ungehalten reagiert hat.«
»Guter Einwand.« Karin nickte ihrer Kollegin zu und schaute dann Jan und Rolf eindringlich an. »Berücksichtigt das. Aber bitte, seid diplomatisch und stellt niemanden unter Generalverdacht.«
Rolf seufzte deutlich genervt. »Wir machen das nicht zum ersten Mal, weißt du.«
Karin nickte, nahm die Kritik wortlos entgegen und fuhr fort: »Heidi, du mit deiner langjährigen Erfahrung in Wirtschaftskriminalität nimmst dir die Akten und den Rechner vor. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass er mit seiner Anwaltstätigkeit ein weiteres Mordmotiv heraufbeschworen hat.«
Heidelinde nickte eifrig, woraufhin ihre Ohrringe zu schaukeln begannen.
»Sandra, du durchforstest die sozialen Netzwerke nach der Bergmann und Weise. Manchmal stellen die Leute die unmöglichsten Dinge online. Und überprüfe bitte das Alibi der Bergmann. Danach nimmst du dir die An- und Verkäufe in Dresden und Umgebung vor. Ich werde dem Tennisfreund von Weise einen Besuch abstatten und auf dem Rückweg ein Plauderstündchen mit unserem Doc abhalten.« Karin klatschte in die Hände. »Auf gehtʼs, die Uhr tickt. Wir haben einen Mörder zu fangen.«
Als Heidelinde aufstand, pfiff Sandra erstaunt. »Hübsches Kleid, Heidi. So etwas solltest du öfter tragen, du hast ein megascharfes Fahrgestell.«
Ihre Worte bewirkten, dass die blonde Oberkommissarin auf einmal im Fokus des allgemeinen Interesses stand. Bisher war sie ausschließlich in Hosen zur Arbeit erschienen. Heute trug sie ein weinrotes Minikleid, das ihre schlanke Figur betonte.
Eine feine Röte überzog Heidelindes Wangen. »Danke«, hauchte sie kaum hörbar.
»Aber was hast du denn mit deinen Haaren angestellt? Ist das Farbe?« Sandra trat zu ihr, schnappte sich eine der langen blonden Strähnen und hielt sie gegen das Licht.
»Das habe ich ganz vergessen, euch zu erzählen. Ich ziehe um. Der lange Weg von Moritzburg, und das jeden Tag, wird mir einfach zu beschwerlich. Ich habe mir eine hübsche Dreizimmerwohnung in Johannstadt besorgt. Eigentlich wollte ich selbst renovieren, habe aber schnell gemerkt, dass das nichts für mich ist. Jetzt malert mir ein Profi die Wände.«
Karin konnte es nicht fassen. »Warum hast du denn nichts gesagt? Ich hätte dir gern geholfen. Und wieso musst du eigentlich renovieren, heutzutage sind die Wohnungen doch bezugsfertig?«
»Nur, wenn man es mag, in langweiligen, weiß eingeschlagenen Zimmern zu hausen. Da kann ich ja gleich in einen Briefumschlag kriechen.«
Sämtliche Anwesenden pflichteten ihr wortlos bei. Besser hätte Heidelinde es nicht formulieren können.