Читать книгу Blutrausch - Andreas M. Sturm - Страница 9
Dienstag, 16.30 Uhr
ОглавлениеEr empfand weder Enttäuschung noch Wut. Inzwischen hatte er sich an dieses Gefühl gewöhnt. In gewissen Situationen hatte er gar den Eindruck, wie ein unbeteiligter Beobachter neben sich selbst zu stehen, so wenig brachten ihn die Vorgänge und das Leben in der Stadt aus dem Gleichgewicht. Dabei war er weder phlegmatisch noch an seiner Umwelt desinteressiert. Zurückschauend musste er sich eingestehen, dass das nicht immer so gewesen war. In der Kindheit und Pubertät hatte ihn nichts von seinen Klassenkameraden unterschieden. Er hatte mit ihnen gelacht und war über Ungerechtigkeiten ebenso empört gewesen wie die anderen.
Jetzt, mit einem gewissen Abstand, glaubte er, dass die Ereignisse, die sein Leben verändert hatten, kein Zufall gewesen waren und ihn neu geformt hatten.
Es war Schicksal.
Er war auserwählt worden und hatte Macht in die Hände gelegt bekommen. Dieser Macht musste er sich würdig erweisen und furchtlos den neuen Weg beschreiten.
Natürlich war die Veränderung nicht von heute auf morgen über ihn hereingebrochen. Es war ein langwieriger Prozess gewesen, voller Selbstzweifel, Angst und Wut. Ein schwächerer Mensch wäre mit Sicherheit an dieser Metamorphose zugrunde gegangen – er jedoch war wie ein Phönix aus der Asche gestärkt ins Leben zurückgekehrt.
So machte es ihm heute nicht das Geringste aus, dass die Kosmetikerin nicht die ihr zugewiesene Rolle gespielt hatte. Dabei kostete es endlose Mühe einen Plan auszuarbeiten und wenn dann wegen einer Kleinigkeit das Vorhaben scheiterte, wäre es nur natürlich, wenn die Emotionen in ihm hochkochen würden.
Warum musste die Frau ausgerechnet heute ihr Geschäft überpünktlich verlassen? Für gewöhnlich machte sie sich noch einen Kaffee und räumte auf. Er wüsste zu gern, was sie zu der ungewöhnlichen Hast getrieben hatte. Vermutlich würde er das nie erfahren und eigentlich kümmerte ihn das auch nicht. Wenn er in sich hineinhorchte, stellte er fest, dass er die Sache entspannt sah. Morgen war auch noch ein Tag.
Genieße deine vierundzwanzig geschenkten Stunden, Mädchen!
Gerade als er das Kosmetikstudio verlassen wollte, fiel ihm im letzten Moment ein, dass Frau Schubert ihn gehört haben könnte. Es war nicht erforderlich, ihr Misstrauen zu wecken. Unnötiges Grübeln gräbt Falten in die Haut und schadet dem guten Aussehen und schließlich wusste er, mit welcher Sorgfalt die Kosmetikerin ihr Äußeres pflegte.
Über seinen Witz grinsend, nahm er eine Tüte mit Kosmetikpads aus einem offenstehenden Schrankfach und ließ sie zu Boden fallen.
Das gelegentliche Rascheln, das sich bei seiner Arbeit trotz größter Vorsicht nicht vermeiden ließ, war ein Ärgernis. Aber eine andere Möglichkeit, sauber und diskret zu arbeiten, sah er nicht.
Nach einem letzten prüfenden Blick, dass er auch keine Spuren hinterließ, verließ er das Studio durch die Hintertür, durch die er es zuvor betreten hatte. Dabei versäumte er es nicht, den Schlüssel zweimal im Schloss umzudrehen. Genauso, wie es Frau Schubert stets tat.