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Dienstag, 13.30 Uhr

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Melanie Bergmann machte sich Sorgen um ihren Chef, in erster Linie aber um sich selbst.

Als sie vor fünf Jahren ihr Jurastudium beendet hatte, war es schwer gewesen, einen Job zu finden. Nicht wegen ihres Abschlusses, auf ihrem Bachelor-Zeugnis prangten immerhin elf Punkte, doch die Tatsache, dass sie eine alleinerziehende Mutter war, hatte alle potenziellen Arbeitgeber zurückschrecken lassen, als hätte sie offene Tuberkulose.

Nach einem quälend langen und zutiefst deprimierenden Bewerbungsmarathon stand Melanie schließlich kurz vor der Privatinsolvenz und begrub allmählich ihre Hoffnungen, eine Anstellung entsprechend ihrer Qualifikation zu finden. Ein Vorstellungsgespräch stand noch aus, danach würde sie sich artfremd bewerben und versuchen, über die Runden zu kommen. Jedenfalls hatte sie sich das fest vorgenommen.

Doch sie schien bei Justitia einen Stein im Brett zu haben, denn die Göttin des Rechts führte sie in die Kanzlei von Norbert Weise. Von ihrer fachlichen Kompetenz äußerst angetan, versicherte ihr Weise, dass die Aufgaben, die sie täglich zu erledigen hätte, bequem innerhalb der Arbeitszeiten zu schaffen wären. Allerdings, und auf diesem Punkt bestand er nachdrücklich, sei Diskretion das wichtigste Kriterium für eine Einstellung.

Bereits an ihrem ersten Arbeitstag verstand Melanie, weshalb dieser Fakt für ihren neuen Chef so maßgeblich war. Seine Geschäfte bewegten sich zwar im Rahmen der Legalität, waren moralisch jedoch mehr als fragwürdig. Als sie begriff, dass sie sich zur Gehilfin in einem dreckigen Spiel machte, focht Melanie mit ihrem Gewissen einen harten Kampf aus. Ihre prekäre finanzielle Situation, verbunden mit der Aussichtslosigkeit in einer anderen Kanzlei eine Beschäftigung zu finden, trug den Sieg über die mahnende Stimme in ihrem Inneren davon.

Seit dieser Zeit war sie für Norbert Weise als Fachangestellte tätig. Er war ein angenehmer Chef, der stets ein freundliches Wort und jedes halbe Jahr eine Gehaltserhöhung für sie bereithielt. Zudem hatte er sein Versprechen gehalten, Überstunden waren die absolute Ausnahme. Und so konnte sie Arbeit und Kindererziehung ohne Probleme managen. Melanie fand, dass es ein annehmbarer Ausgleich für die Tatsache war, dass sie sich manchmal nicht im Spiegel anschauen konnte.

Heute, um 13 Uhr, stand ein wichtiger Termin an. Als Norbert Weise, der ein Pünktlichkeitsfanatiker durch und durch war, zur Mittagszeit noch nicht erschienen war, stieg ein erster Anflug von Panik in Melanie auf. Sie hatte ihn auf dem Festnetz und auf dem Handy angerufen. Keine Reaktion, außer der Mailbox. Hektisch sagte sie im letzten Augenblick den Termin ab, dabei überkam sie das Gefühl, in einem Auto zu sitzen, das ohne Bremsen auf einen Abgrund zuraste.

Zu gut klangen ihr die einmal im Scherz gesagten Worte ihres Chefs noch in den Ohren: »Wenn ich mal einen Termin nicht einhalte, bin ich entweder tot oder so krank, dass ich mich nicht fortbewegen kann.«

Das wäre eine Katastrophe. Ihre Tochter war erst zehn und da Melanie Bergmann eine pragmatisch denkende Frau war, wusste sie, dass sie wenigstens noch sechs Jahre bei Weise durchhalten musste. Erst dann würde ihre Tochter der mütterlichen Fürsorge entwachsen sein und sie könnte sich nach einem anderen Tätigkeitsfeld umschauen. Doch bis dahin brauchte sie die Anstellung in Weises Kanzlei, anderenfalls würde sich die entspannte und sorglose Zweisamkeit mit ihrem süßen Mädchen schnell in eine ferne Utopie verwandeln.

Nachdem eine weitere Stunde ohne jedes Lebenszeichen von Weise verstrichen war, hatte Melanie seine Eltern kontaktiert. Die hatten das letzte Mal am Wochenende mit ihrem Sohn telefoniert und konnten ihr nicht weiterhelfen. In ihrer Verzweiflung fragte sie bei Weises Tennispartner Heiko Klügel nach. Da der ebenfalls ratlos war, wählte sie nacheinander die Nummern sämtlicher Krankenhäuser von Dresden und Umgebung. Weder wurde ein Norbert Weise noch ein unbekannter Mann in den letzten Tagen eingeliefert.

Eine letzte Möglichkeit gab es noch: Weise könnte in seiner Wohnung liegen, zu krank, um selbst Hilfe zu rufen.

Melanie setzte sich gerade hin, atmete mehrmals tief durch und massierte ihre Schläfen. Ruhiger geworden, gelang es ihr, das Bild einer düsteren Zukunft in den hintersten Winkel ihres Seins zu verbannen. Entschlossen packte sie ihre Sachen zusammen, verließ das Büro und fuhr nach Weißig, wo ihr Chef ein Haus besaß.

Nach zehn Minuten Sturmklingeln schaute Melanie misstrauisch die Straße hoch und runter. Da sie niemanden entdecken konnte, kletterte sie rasch über das Eingangstor. Nach einem kurzen Stoßgebet, die Haustür möge bitte nicht verschlossen sein, drückte sie kräftig gegen diese und hätte beinah aufgeheult, weil ihr Wunsch nicht erhört worden war.

Erneut riss sie sich zusammen und lief um das Haus herum. Dabei klopfte sie an die Fensterscheiben und versuchte, einen Blick ins Innere zu erhaschen. Zurück an der Vorderseite hob sie ihre Faust und donnerte mit aller Kraft gegen die Haustür. Als das nichts brachte, griff sie sich ihr Handy und rief einen Schlüsseldienst. Der Mann am anderen Ende der Leitung versicherte ihr, Hilfe sei unterwegs, aber da alle Leute im Einsatz waren, müsste sie sich auf eine Wartezeit von mindestens einer Stunde einrichten.

Melanie überlegte kurz, ob sie lieber gleich die Polizei verständigen sollte, ließ es dann aber. Wenn Weise nicht krank oder verletzt in seinem Haus lag und sie blinden Alarm auslöste, stünde sie wie eine hysterische Idiotin da.

Um die Wartezeit mit halbwegs heilen Nerven zu überstehen, drehte sie eine Runde in der Nachbarschaft und erkundigte sich unauffällig in der Apotheke nach Weise. Dort hatte man jedoch noch nie von dem Mann gehört. Über diese Auskunft verwundert, denn ihres Wissens lebte der Anwalt seit mehreren Jahren in diesem Viertel, setzte sich Melanie auf einen Stein vor dem Haus ihres Chefs. Und obwohl sie nicht an Gott glaubte, ließ sie ein weiteres Stoßgebet los. Inständig bat sie darum, dass der Mann vom Schlüsseldienst jung war. Immerhin musste sie den Handwerker um den Finger wickeln, damit der ihr die Tür öffnete, obwohl sie zu diesem Haus keine Zugangsberechtigung hatte. Käme ein älterer und erfahrener Mann oder gar eine Frau, hätte Melanie ein Problem.

Traurig blickte sie in den Vorgarten, der mehrere gepflegte Rosenstöcke beherbergte, bis endlich das Auto des Schlüsseldienstes um die Ecke bog. Diesmal wurde ihr Gebet erhört. Der Handwerker war Anfang dreißig, so kostete es Melanie nur ein paar laszive Blicke und dahingeschnurrte Bemerkungen über die muskulösen Schultern des jungen Mannes und der öffnete ihr die Tür in wenigen Augenblicken. Zähneknirschend beglich sie die gepfefferte Rechnung, unterdrückte mühsam ihre Ungeduld und winkte dem Monteur fröhlich nach. Kaum war das Fahrzeug außer Sicht, stürzte Melanie durch die Tür ins Haus. Mit ihrem ersten Schritt stand sie bereits im Wohnzimmer, in Weises Heim gab es keinen Flur.

Ihren Chef entdeckte sie auf Anhieb. Sein Körper lag ausgestreckt auf dem Boden. Melanie lief zu ihm. Mit viel Glück konnte sie das Verhängnis vielleicht noch abwenden, Norbert Weise retten und ihre Zukunft sichern.

Doch der Anblick, der sich ihrem entsetzten Blick bot, war schlimmer, als sie befürchtet hatte. Tränen der Verzweiflung schossen in ihre Augen, als sie erkannte, dass sie zu spät kam.

Benommen wandte sie sich ab und taumelte durch den Raum hinaus ins Freie. Dort reaktivierten die glühende Sonne und das grelle Licht ihre Lebensgeister.

Melanies Verzweiflung schlug in wütende Empörung um. »Lässt der Idiot sich einfach umlegen«, schimpfte sie laut. »Hätte der nicht wenigstens noch sechs Jahre warten können?«

Blutrausch

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