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Die gymnasiale Maturitätsquote soll bis 2030 auf 30 Prozent steigen.

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Neben der flächendeckenden Einführung der Berufsmaturität braucht es einen Anstieg der gymnasialen Maturitätsquote. Damit die Reformschritte bewältigbar bleiben, ist eine moderate Steigerung angezeigt. Ein realistisches Ziel ist das Anheben der Quote um einen Prozentpunkt pro Jahr. Die Jahreszahlen dieses Jahrhunderts tun uns zufälligerweise den Gefallen, quasi Paten zu stehen. Wir standen im Jahr 2020 bei rund 20 Prozent Gymnasialquote. Im Jahr 2030 sind 30 Prozent eine erreichbare Quote, 2040 sollen es 40 Prozent und 2050 schliesslich 50 Prozent werden. Dies immer vorausgesetzt, dass die Nachfrage entsprechend hoch bleibt. Davon ist auszugehen. Zwar hinkt die Schweiz damit Entwicklungen wie in Deutschland hinterher, denn dort ist man schon heute bei rund 50 Prozent. Die Schweiz ist eine ausgeprägte Hochleistungsgesellschaft. Es gäbe gute Gründe, das Bildungssystem schneller und radikaler zu modernisieren, als Deutschland das tut. Trotzdem empfiehlt sich eine langsamere Entwicklung für die Schweiz. Sie erlaubt es den verschiedenen Akteur*innen, die Reform mitzugehen und mitzugestalten.

Die Erhöhung der gymnasialen Maturitätsquote ist keine Gefahr für das schulische Niveau. Derzeit gehen viele nicht ans Gymnasium, obwohl sie die Voraussetzungen dafür mitbringen würden. Von ihnen ist wenig die Rede. Im Fokus stehen umgekehrt jene Akademiker*innenkinder, von denen behauptet wird, sie gehörten nicht ans Gymnasium. Das mag sein. Doch es gibt neben der Intelligenz noch andere Faktoren, die für den Eintritt ins Gymnasium relevant sein können. Die Motivation darf durchaus eine Rolle spielen. Wir wollen kein allzu rigides, totalitäres System. Zu einem liberalen System gehört eine gewisse Unschärfe, was den Zusammenhang von Wollen und Können, von Motivation und Leistung angeht. Doch es ist klar: Das Gymnasium darf nicht als Instrument dienen, um Klassenunterschiede zu zementieren. Der Ansatz ist und bleibt die Chancengerechtigkeit und die Orientierung an der Leistung. Oft werden soziale Ungerechtigkeiten im Bildungssystem als Argument für eine strengere Selektion verwendet, oder zumindest gegen eine weitere Öffnung des Gymnasiums.[19] Diese Argumentation ist mit der Kehrseite der Geschichte, quasi dem umgekehrten Narrativ, zumindest zu ergänzen.[20] Es ist die Geschichte jener Kinder und Jugendlicher aus sozial benachteiligten Familien, die sehr wohl ans Gymnasium gehören würden. Ihr Potenzial kann man nur zum Teil wahrnehmen. Durch Selbstexklusion nehmen sie sich eigenständig aus dem Rennen. Sie wollen nicht in die Schule, sie wollen keine guten Vornoten schreiben, sie wollen nicht an der Aufnahmeprüfung teilnehmen. Man darf sie in diesem Nichtwollen nicht noch bestätigen. Man darf nicht aus jugendlicher Naivität und Schulmüdigkeit ein Bildungssystem ableiten. Man darf den Jugendlichen nicht vorwerfen, dass sie durch ihr kulturelles Umfeld geprägt werden. Ihr Nichtwollen, ihre Bildungsverachtung, ihre Haltung und ihre Bildungsentscheide sind nicht einfach nur Ausdruck individuellen Wollens oder Nichtwollens. Sie sind kulturell geprägt. Die Jugendlichen sind nicht selbst schuld. Eigenverantwortung ist hier der falsche Ansatz – so wie umgekehrt viele Hochgebildete nicht ganz allein, sondern auch dank einem förderlichen Umfeld dorthin gelangt sind, wo sie jetzt sind, und viel von Eigenverantwortung schwadronieren. Dass Begabung und Schultyp nicht immer genau übereinstimmen, gilt in beide Richtungen. Es dürfte jedoch sehr viel mehr Jugendliche geben, die an ein Gymnasium gehören, aber eine Lehre machen, als umgekehrt. Dass von einer Öffnung des akademischen Wegs die Leistungsstarken profitieren und nicht einfach die Akademiker*innenkinder, muss zumindest angestrebt werden. Oft wird dem Gymnasium vorgeworfen, es würde ganze Bevölkerungsschichten ausschliessen, es fungiere mitunter als Klassensortierungsanlage.[21] Allerdings ist es nicht der Fehler des Gymnasiums, dass es von vielen bildungsfernen Jugendlichen gar nicht angestrebt wird. Es ist der Fehler des nachobligatorischen Systems. Angesichts der Selbstexklusion der Jugendlichen braucht es eine Verbesserung dieses Systems. Es braucht die Maturitätspflicht.

Wer ein sinkendes Niveau befürchtet, tut gut daran, diese Befürchtung auf ihre Verhältnismässigkeit hin zu überprüfen. Ab Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts stieg die gymnasiale Quote von zwei oder drei auf rund 20 Prozent. Die hier vorgeschlagene Steigerung auf 30 Prozent im Jahr 2030 ist demgegenüber herzlich wenig. Zu Recht ist darauf aufmerksam gemacht worden, dass sich im Lauf der Bildungsexpansion die Funktion des Gymnasiums verändert hat.[22] Das Gymnasium ist nicht mehr einer schmalen Elite vorbehalten. Gemäss seinen Bildungszielen[23] bereitet es auf zwei Ziele vor: auf das Studium und auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft. Diese doppelte Funktion macht seine Stärke aus. Das Gymnasium ist nicht zu verwechseln mit Spitzensport, es setzt keine Genialität voraus. Zu Recht ist es entmystifiziert worden. Es ist ein Bildungsweg, über den eine grössere Menge Schüler*innen ausgebildet werden soll für unsere neue Wirklichkeit.

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