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Die Berufsmaturität etabliert eine neue Bildungskultur.
ОглавлениеAkademiker*inneneltern fürchten bisweilen, der duale Bildungsweg unterstütze die Anstrengungen ihrer Erziehung nicht, sondern unterlaufe sie geradezu. Sie fürchten um die Bildungskultur innerhalb der Berufsmaturität. Erfährt dort nicht Geringschätzung, was ihnen wichtig ist? Nämlich Bildung um der Bildung willen? Was geschieht mit der Welt des Geistes, des Spiels, der Kritik – in einem streng auf Nützlichkeit hin ausgerichteten Bildungsverständnis? Ist durchökonomisierte Ausbildung nicht das Gegenteil von Bildung?
Ein Beispiel dafür, wie man mit Bildungskultur nicht umspringen sollte, liefert die gegenwärtige unselige Diskussion über die zweite Landessprache in der Bildungsreform «Kaufleute 2022».[30] Diese sollte für angehende Kaufleute vom obligatorischen Grundlagen- zum Wahlpflichtfach herabgestuft werden. Zur Wehr gesetzt hat sich der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz.[31] Auch gibt es politischen Widerstand. In seiner Antwort auf eine Interpellation hält der Bundesrat fest:[32] Die Inhalte der Grundbildung sind zwar Sache der Organisationen der Arbeit, doch ausnahmsweise soll den Kantonen das Recht eingeräumt werden, in dieser politisch sensiblen Frage mitzureden. Obwohl es nur die Grundbildung betrifft, machen Beispiele wie dieses misstrauisch. Die Berufsmaturität ist für Akademiker*inneneltern nur dann eine echte Alternative, wenn sie Bildungskultur repräsentiert. Wenn sie mehr ist als blosse Ausbildung. Mit Bildungskultur ist jene Kultur gemeint, die vereinfachend als klassisch humanistisch bezeichnet werden kann. Die Chancen dafür stehen gut. Die Berufsmaturität beinhaltet Allgemeinbildung, ästhetische Bildung, abstraktes Denken. Übrigens: Nach der öffentlichen Aufregung ist die Reform «Kaufleute 2022» auf ihren Entscheid zurückgekommen. Der Kaufmännische Verband empfiehlt jetzt, den Französischunterricht beizubehalten.
Das Gymnasium kann viel lernen von der Berufsbildung. Umgekehrt gehört in die Berufsbildung eine Bildungskultur, wie sie am Gymnasium gelebt wird. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn Lerninhalte werden auf Ebene der Grundbildung vor allem von den Organisationen der Arbeit vorgegeben. Auch bei den Lerninhalten der Berufsmaturität sprechen sie ein gewichtiges Wort mit. Aber dort ist die Situation anders. Das wird durch die Struktur der BM sichergestellt. Die Eidgenössische Berufsmaturitätskommission EBMK[33] besteht aus 15 Vertreter*innen von Kantonen, Organisationen der Arbeitswelt, Berufsfachschulen und Fachhochschulen. Mit dieser Verteilung wird sichergestellt, dass die Bildungsziele im Verbund festgelegt werden – und so als Abbild einer Bildungsidee gelten können, die sich aus dem Widerstreit verschiedener Interessen ergibt.
Der Rahmenlehrplan der Berufsmaturität[34] zeigt: Die BM versteht sich nicht als rein fachlich orientierte Bildung. Allgemeinbildende und berufsspezifische Fachbereiche stehen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander. Die Berufsmaturität folgt einer Gliederung in einen Grundlagen-, Schwerpunkt- und Ergänzungsbereich. Der Grundlagenbereich ist für alle gleich, er umfasst die erste und eine zweite Landessprache, Englisch und Mathematik. Je nach Ausrichtung unterscheiden sich die Fächer innerhalb des Schwerpunkt- und des Ergänzungsbereichs. Von den vielfältigen Bildungszielen der Berufsmaturität betont der Rahmenlehrplan BM besonders zwei: Das eine ist die Fachhochschulreife. Das zweite ist die erweiterte Allgemeinbildung, genauer der Aufbau von Wissensstrukturen auf der Grundlage der beruflichen Erfahrung. Beide Ziele beinhalten sowohl Fachkompetenzen als auch weiter gefasste Kompetenzen wie geistige Offenheit, persönliche Reife, Verantwortung und Selbstreflexion. Mit der Berufsmaturität kehrt wieder mehr Bildung in die Ausbildung zurück. Das ist ein erfreulicher Prozess. Dass es ökonomische Faktoren sind, welche die Bildung fördern, ist eine spannende Pointe der Geschichte.