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Nützlichkeitsdenken geht nicht den Bildungswegen entlang.
ОглавлениеUnterschiedliche Fachbereiche gelten als mehr oder weniger nützlich. Die MINT-Förderung ist seit Jahrzehnten ein grosses Thema an den Schulen, auch an den Gymnasien. MINT, das sind Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Diese Fächer sollen einen höheren Stellenwert bekommen und mehr Mädchen sollen sich für diese Männerdomänen interessieren. Dies versteht man als Antwort auf den gegenwärtigen technologischen Wandel. Allerdings ist die MINT-Förderung vor allem Ausdruck der frühen Phase der Digitalisierung ab den Siebziger- und Achtzigerjahren: Sie fokussiert auf den Einsatz von Taschenrechnern, auf Programmieren und Simulationen im Physikunterricht. Die aktuelle Phase der Digitalisierung betrifft die ganze Gesellschaft, auch die geisteswissenschaftlichen Fächer. Die wachsende Bedeutung der Digital Humanities ist ein Zeichen dafür.[37] Das Internet und der Umgang mit Informationen, Social Media, die Virtualisierung des Soziallebens – das sind herausfordernde Prozesse der Gegenwart. Geisteswissenschaftliche Fächer bieten kulturelle Orientierung. Ganzheitliches Denken, das Erkennen von Zusammenhängen – das leistet ein Fachgebiet nicht allein.
Es gilt, den Graben zu überwinden, der zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften verläuft. Zuweilen ist sogar die Rede von zwei unterschiedlichen Kulturen.[38] Zu Recht ist aber darauf hingewiesen worden, dass der eigentliche Graben nicht zwischen den Fachbereichen verläuft, sondern entlang der Grenze zwischen Nützlichem und angeblich Unnützem.[39] Als Richtschnur gilt dabei die Verwertbarkeit der Lerninhalte – für den Job, fürs Studium, für den Alltag. Nicht verschiedene Fachbereiche stehen sich gegenüber, sondern die Grenze verläuft innerhalb der Fächer selbst. Ein Beispiel aus der Mathematik: Wozu die ganze höhere Mathematik, wenn doch einfaches Addieren ausreicht fürs Shopping? Lernenden seien solche Fragen erlaubt. Erwachsene sollten einen Schritt weiter sein. Ähnliche Fragen gibt es in jedem Fach, etwa in Deutsch: Wozu Gedichte lesen? Die Geschäftskorrespondenz ist poetisch genug.
Es geht hier nicht darum, das Nützlichkeitsdenken per se geisseln zu wollen, denn dieses hat durchaus seine Berechtigung. Es geht vielmehr darum, den weiter gefassten Wert des vermeintlich Unnützen in Erinnerung zu rufen.[40] Bildung ist mehr als ein Mittel zum Zweck. Daran soll gerade in einem Band, der häufig mit ökonomischen Notwendigkeiten argumentiert, erinnert werden. Es gibt noch andere Dimensionen des Lernens – jenseits von Arbeitsmarkt und Digitalisierung. Jede Fachkraft ist zuerst ein Mensch. Und erst als solcher gut im Job. Darin kann man eine utilitaristische Pointe sehen. Erst der menschliche Faktor, könnte man in ökonomischem Vokabular argumentieren, macht den Unterschied. Wenn schon mit dem Nutzen von Bildung argumentiert werden soll, dann richtig. Man sollte die sogenannte Wirtschaft – oder was man darunter versteht – nicht unterschätzen. Wirtschaftsbossen ein plumpes utilitaristisches Bildungskonzept zu unterstellen, ist klischiert. Das Bildungsverständnis der Wirtschaft reicht weit über das Utilitaristische hinaus. Kritische Stimmen werden einwenden, selbst Kreativität oder Innovation blieben, zu Kompetenzen verzerrt, bloss ein Mittel zum Zweck. Für Arbeitgeberinnen bleibe der gebildete Mensch letztlich Humankapital und seine Bildung bloss Rohstoff.
Es geht hier nicht darum, dieses Spannungsfeld aufzulösen. Es geht darum, die Dialektik aufzuzeigen, die darin liegt. Bildung ist beides: Sie ist ein zweckfreier Reichtum und gleichzeitig kann sie nutzbar gemacht werden; ökonomisch, gesellschaftlich, kulturell. Man muss Bildung nicht in Opposition zum Arbeitsmarkt stellen, ganz im Gegenteil: Die Arbeitswelt 4.0 will vom Menschen, was Maschinen nicht können. Das genuin Menschliche ist gefragt. Was es braucht, sind Menschen als kulturelle Wesen in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Innovationen brauchen Fantasie und Vorstellungskraft, Emotionalität, Spielfreude, einen geistigen Horizont. Zugegeben, dieser Gegensatz von Mensch und Maschine konstruiert ein etwas einseitig romantisches Menschenbild. Doch im Gegensatz zur Entfremdung, die den Menschen im 19. Jahrhundert zur Maschine machte, bietet die Arbeit 4.0 neue Chancen, sich in der Arbeit als Mensch zu erfahren. Die heutige Wirtschaft braucht gebildete, kritische Menschen, die mehr sind als Arbeitskräfte. Nicht nur die Wirtschaft braucht sie, erst recht die Gesellschaft, Politik und Kultur.
Es gehört zur Jugendkultur, das Lernen auf seinen Nutzen hin kritisch zu überprüfen. Eine Bildungskultur kann man nicht einfach befehlen. Oder herbeireden. Doch man kann sie pflegen. Das ist die Aufgabe der Erwachsenen, der Schule, der Gesellschaft. Fächer haben unterschiedliche Images. Je näher sie an der Berufsbildung sind, desto höher stehen sie bei Jugendlichen im Kurs. Einen schwereren Stand hat mitunter der allgemeinbildende Unterricht ABU. Die Berufsmaturität baut den schulischen Anteil aus, damit macht sie sich nicht bei allen beliebt. Doch immerhin ist es nicht die – allenfalls verhasste – Schule, sondern die sehr viel coolere Berufsschule. Zudem setzt sie sowohl auf Berufsbildung als auch auf grundlegende Bildung. Die BM ist nicht einfach mehr ABU, sie geht darüber hinaus. ABU in der Berufslehre hat eine gewisse Funktionalität: Gesundheit, rechtliche Grundlagen, Ethik. Die Berufsmaturität hingegen leistet mehr als Lebenskunde. Sie trägt ihren Namen zu Recht. Sie vertritt in der Lehre ein Bildungsideal, das nicht allein den Gymnasiast*innen vorbehalten bleiben darf. Bildung ist ein Menschenrecht – auch für Berufslernende.[41] Auch sie haben das Recht, Bücher zu lesen, das Recht auf Mathematik, auf Nachdenken und Entdecken. Kunst und Kultur sind kein Privileg für wenige. Sie sind, richtig angegangen und auf entsprechendem Niveau, auch keine Überforderung. Gerne werden, etwa um das Desinteresse von Berufslernenden an Philosophie zu belegen, einschlägige Erfahrungen von Berufsschullehrpersonen zitiert. Solche Anekdoten sind problematisch: Sie postulieren ein Desinteresse bei den Jugendlichen, das im Sinne einer «self-fulfilling prophecy» bestätigt wird. Wenn schon mit der Erfahrung von Lehrpersonen argumentiert werden soll: Es gibt zahlreiche Beispiele von Berufsschullehrer*innen,[42] die gute Erfahrungen machen mit anspruchsvollen Stoffen, etwa im Literaturunterricht, und die sich für das Recht ihrer Schüler*innen auf kulturelle Bildung einsetzen.