Читать книгу Neue Schweizer Bildung (E-Book) - Andreas Pfister - Страница 27
Das Verhältnis von Bildung und Ausbildung muss neu gedacht werden.
ОглавлениеModerne Bildung ist von Beginn weg zweierlei: Sie ist eine Folge der Industrialisierung, gleichzeitig definiert sie sich in Abgrenzung dazu. Diese Dialektik führt die Schule zum Erfolg – ohne dass die Diskussionen darüber, was Bildung genau sein soll, jemals verstummt wäre. Oft wird diese Dialektik sowohl zweckfreier als auch funktionalistischer Bildung an Humboldt festgemacht. Wilhelm von Humboldt ist ein wichtiger Bildungsreformer im Deutschland des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Seine Bildungsreform knüpft an den humanistischen Kern der Aufklärung an. Aufbauend auf Humboldts Ideen wird im deutschen Sprachraum jene Aufteilung in Bildung und Ausbildung vollzogen, die wir heute als Aufteilung in einen akademischen und einen dualen Weg kennen. Zwar erfasst die moderne Bildung ab dem 19. Jahrhundert die breite Masse, doch gleichzeitig wohnt ihr ein elitäres Moment inne, das nur aus seiner Entstehungszeit heraus verstanden werden kann. Das Gymnasium ist noch lange nach Humboldt einer schmalen Elite vorbehalten. Für die übrigen ist zwar auch eine gewisse Grundbildung, danach aber eine nützliche Ausbildung vorgesehen.
Humboldt verwahrt sich gegen eine Vereinnahmung der Bildung für Nützlichkeitsdenken aller Art. Dabei hat er vor allem die Grundbildung und die gymnasiale Bildung im Blick. Es verwundert nicht, dass wir heute, in der Zeit der Industrialisierung 4.0, mit den gleichen Spannungsfeldern konfrontiert sind. Der Ruf nach Nützlichkeit von Bildung ist nicht neu. Doch es gibt heute so wenig Grund wie damals, vom Ideal einer Bildung abzuweichen, die sich am Menschen orientiert – nicht an seiner Verwertbarkeit. Zweckfreie und unabhängige Bildung muss – das ist Teil des Projekts Aufklärung – von jeder Generation aufs Neue gegen vulgär-utilitaristische Vorstellungen verteidigt werden. Zum Wesen der Bildung gehört ebendies: dass sie sich und ihre Grundlagen gleichsam selbst vermittelt, dass sie den Lernenden ihren Wert bewusst macht; den kulturgeschichtlichen Rahmen der Aufklärung. Dass Bildung mehr und etwas anderes ist als Ausbildung, versteht sich nicht von selbst. Man kann und muss es lernen.
Dies ist aber nur die eine Seite des dialektischen Verhältnisses von Bildung und Wirtschaft. Die andere Seite ist ebenso wichtig: Bildung ist nicht nur ein Kind der Aufklärung, sondern auch der Industrialisierung. Sie verdankt ihre Existenz zu ganz wesentlichen Teilen ebenjener Wirtschaft, von der sie sich immer wieder abgrenzt. Der Motor der modernen Schule ist der technische und wirtschaftliche Fortschritt. Das gehört auch zum Gesamtbild der Bildung. Vielleicht muss, wenn allzu romantische Reden angestimmt werden von der Zweckfreiheit der Bildung, diese Seite in Erinnerung gerufen werden.
Industrialisierung und Bildung gehen eine komplizierte Allianz ein. Es ist nicht verwunderlich, dass sich der Konflikt immer wieder an der Frage der Nützlichkeit entzündet. Die Doppelnatur moderner Bildung zeigt sich schon im Begriff der Schule. Bei den antiken Griechen hiess Schule Musse. Sie war jener Bevölkerungsschicht vorbehalten, die es sich leisten konnte, eben nicht arbeiten zu müssen. Diese Auffassung von Bildung steht einem funktionalistischen Bildungsverständnis diametral gegenüber. In unserem heutigen Bildungsbegriff konkurrenzieren sich die beiden gegensätzlichen Auffassungen. Auf begrifflicher Ebene versucht man das, zumindest auf Deutsch, im Gegensatzpaar von Bildung versus Ausbildung zu fassen. In Ländern mit zwei Bildungswegen steckt immer noch viel von jenem Gegensatz in diesen Wegen – nicht nur als Selbstinszenierung der Akademiker*innen, sondern auch im Selbstverständnis handwerklicher Bildung. Im Grunde aber verläuft die Grenze zwischen nützlicher und angeblich unnützer Bildung nicht entlang der verschiedenen Bildungswege. Auch innerhalb der jeweiligen Bildungswege gibt es diese Diskussionen. Ein Beispiel dafür ist das gymnasiale Bildungsziel der persönlichen Reife. Gemeint ist jene persönliche Reife, präzisiert der entsprechende Artikel,[35] die auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet. Das Gymnasium dient nicht einfach der zweckfreien Entfaltung des Individuums – wie schön die auch sein mag –, sondern bleibt als Bildungsinstitution der Gesellschaft verpflichtet: Die persönliche Reife soll auch dieser nützen. Auf der anderen Seite hat sich berufliche Grundbildung nie im blossen Anwenden erschöpft. Mit zunehmenden Ansprüchen nimmt die Bedeutung des Abstrahierens und Transferierens zu. Ein Indiz dafür ist die zunehmende Organisation der Berufslehre in Modulen.[36] Was in einem Modul gelernt wird, kann auf verschiedene andere Bereiche, teils auch auf andere Berufe übertragen werden.