Читать книгу Wie Transfer gelingt (E-Book) - Andreas Schubiger - Страница 11
Оглавление3Transfer – ein weiter Begriff
Ruths Autopilotenmodus bringt sie in Drucksituationen immer wieder dazu, ihre Kontrolle zu verlieren. In einer solchen Situation schafft sie es nicht, ihr Wissen in Handeln umzusetzen. Anitas Erfolgserlebnisse, mathematische Lösungsstrategien auf immer gleichartige Aufgabenstellungen anzuwenden, werden jäh mit der Anwendung auf strukturgleiche, jedoch andersartige Aufgabenstellungen beendet. Erich übersieht mit seinen gut gemeinten Aufgabenstellungen den Kompetenzgrad der Studierenden. Die Anwendungsaufgabe ist einfach zu weit von der gelernten Übungsaufgabe entfernt. Hans weiss, was er will. Er hat aber grosse Mühe, seine Vorsätze in die Tat umzusetzen. Schlussendlich hilft ihm ein Zugriff auf bereits einmal erfolgreich angewandte Strategien. Und wie ist es möglich, dass Louise als erfahrene Konfliktexpertin ihre Kompetenzen im Privatbereich nicht abrufen kann?
Die Beispiele könnten nicht unterschiedlicher sein. Sie haben aber alle ein paar Gemeinsamkeiten:
•In einer aktuellen Situation muss auf Wissen oder Gelerntes aus einer ähnlichen Situation zugegriffen werden.
•Oder es muss Wissen oder Gelerntes auf eine neue Situation angewandt werden.
•Die Distanz zwischen der erlernten Situationsbewältigung und der neuen Aufgabe ist scheinbar unüberbrückbar.
•Allein die Veränderung der Oberflächenstruktur der neuen Situationen erscheint als grosse Herausforderung.
Nennen wir diese Übertragung von einmal Gelerntem auf eine neue Situation einen TRANSFER. Transfer wird heute genauso als schillernder wie auch inflationärer Begriff in der Lehr-/Lernforschung verwendet.
Transfer stammt vom lateinischen Begriff «transferre» ab, was so viel bedeutet wie «hinübertragen». Das Neue muss in Prozessen des Anwendens, des Übens und des Übertragens auf andere Situationen dauerhaft gesichert werden. Die Frage lautet nicht nur, wie führe ich Wissen in Handlung über, sondern vielmehr auch, wie nutze ich in der Handlung vorhandenes Wissen? Auch Klauer (2011) meint, dass Transfer ein nichttrivialer Lerneffekt von einmal Gelerntem in neuen Aufgaben ist.
Mit seinem Aufsatz «Denn sie wissen nicht, was sie tun» weist schon Euler auf diese spezielle Problematik der Übertragung von einmal Gelerntem auf neue Situationen hin. Der Titel will offenlassen, in welche Richtung der Transfer geht. So fragt er einerseits implizit nach den Bedingungen, wie Wissen in konkrete Handlungssituationen überführt werden kann. Und andererseits lässt er vermuten, dass im Tun Wissen entsteht, welches uns im Verborgenen bleibt.
Die Transferdiskussion kann nicht von der Kompetenzdiskussion losgelöst geführt werden. Transfer ist schon definitionsgemäss in der Kompetenz mitgedacht. Wenn Kompetenz als die Fähigkeit bezeichnet wird, mit Wissen, Fertigkeiten und Haltungen eine konkrete berufliche oder alltägliche Situation adäquat zu bewältigen, dann ist der Transfer bereits darin inbegriffen. Kompetenzentwicklung verlangt schon an sich den Transfer in eine entsprechende Arbeitssituation (Schubiger, 2013). Im Sinne von Klauer (2011) könnte diese Transferleistung als Teil der Kompetenzentwicklung auch als trivialer Lerneffekt bezeichnet werden. Das Transferkonzept geht jedoch bedeutend weiter, indem es eben nicht nur selbstverständliche respektive triviale Übertragungsleistungen auf neue Situationen betrachtet.
Transferleistungen sind sich insofern ähnlich, als dass sie eine Übertragungsleistung von einer Situation A (Lernsituation) auf eine andere Situation B (Anwendungssituation; Funktionsfeld) realisieren. Sie unterscheiden sich jedoch wesentlich in der Aktion zwischen den beiden Situationen (Art des Transfers) und der Beziehung der beiden Situationen (Transferdistanz).
Zwischen A und B ergeben sich daher kombinatorisch zwischen Art und Distanz des Transfers eine Vielzahl von Transferarten, die in ihrem Wesen sehr unterschiedlich sein können. Mit einem einmal entwickelten Transferkonzept tun wir so, als ob wir immer die gleiche Transferleistung zu leisten hätten. In Tat und Wahrheit verlangen wir im Ausbildungsalltag sehr unterschiedliche Formen und Qualitäten von Transfer, der auch unterschiedliche Transferunterstützung benötigt.
Ein Transferkonzept kann nur gelingen, wenn wir uns zuerst überlegen, welche Art von Transfer vorliegt und wie gross die Transferdistanz ist.
Abbildung 1: Transferarten
Die Aktion zwischen A und B macht die Art respektive die Qualität eines Transfers aus. So ist das Wiederholen von Fertigkeiten in einer neuen Aufgabe eine ganz andere Art von Transfer als die Generalisierung einer gelernten Haltung auf verschiedene neue Situationen.
Die Beziehung zwischen A und B weist auf die Distanz des Transfers hin. Ähnliche, strukturgleiche Aufgaben verlangen eine verschwindend kleine Übertragungsleistung. Wogegen die Verschiedenartigkeit der Situation und eine Erhöhung der Komplexität der neuen Aufgabenstellung scheinbar unüberbrückbare Distanzen ergeben.
Transfer kann in schulischen Kontexten schon allein dadurch nicht gelingen, weil wir in der Gestaltung der Transferleistung nicht die Art und die Distanz berücksichtigen und ein universelles Transferkonzept anwenden, das der Spezifität des konkreten Transfers nicht gerecht wird. Die Anwendung einer gelernten Regel auf eine vereinfachte praktische Aufgabe verlangt eine ganz andere Lernumgebungsgestaltung als die Übertragungsleistung einer erfolgreichen Problemlösung in einem Lernsetting auf eine komplexe Herausforderung der Praxis unter Druck. Die unterschiedlichen Arten verlangen vom Individuum sehr unterschiedliche Leistungen. So anspruchsvoll die Anwendung von neuem mathematischem Wissen auf eine neue technische Problemstellung auch sein mag – schier unüberwindbar scheint dagegen die Veränderung von Verhaltensroutinen, die an ein Setting gebunden sind.
Aus der Vielzahl von Kombinationen können folgende Grundtransferformen zusammengefasst werden. Sie vereinfachen allerdings stark. In der Detailplanung einer transferwirksamen Bildungsmassnahme lohnt sich die differenzierte Analyse der Transfersituation.
Sequentieller Transfer
Als sequenzieller Transfer ist umgangssprachlich das Vorgehen «vom Einfachen zum Komplexen» gemeint. Somit werden in den Lernveranstaltungen die Kompetenzen schrittweise und aufbauend entwickelt. Ein sequentieller Transfer liegt dann vor, wenn Lehrinhalte zueinander in Beziehung stehen und in aufbauender Weise – also kumulativ – erworben werden. Transferunterstützung kann beim sequentiellen Transfer bereits im Curriculum antizipiert werden, indem die Lehrplanelemente in einer aufbauenden Form beschrieben werden.
Positiver und negativer Transfer
Im Grunde genommen meinen wir mit Transfer immer einen positiven Transfer, was heisst, dass eine Übertragung positive Effekte zeigt. Wir müssen aber ebenso damit rechnen, dass ein Lernprozess in seiner Anwendung kontraproduktive, hemmende oder störende Wirkungen vorweist. So kann es sein, dass bei der ersten Anwendung von einer Lernstrategie der Lernende dies als sehr zeitaufwendig und in Konkurrenz mit seinem Zeitbudget sieht. Aus Rückmeldungen von Lehrkräften im Rahmen von Ausbildungen von Ausbildern wissen wir, dass die neue Anwendung von Methoden in einem ersten Versuch häufig auch frustrierende und noch nicht befriedigende Resultate zeigt. Diese negativen Effekte müssen gut im Auge behalten werden und durch Schutzschilder und soziale Unterstützungssysteme vorausschauend abgefedert werden (Wahl, 2005). Wenn ein Lernprozess keine Auswirkung auf das neue Handeln hat, sprechen wir im Allgemeinen auch von einem Null-Transfer.
Naher und weiter Transfer
Die Distanz der Ähnlichkeit zwischen Ausgangs- und Transfersituation kann als Kontinuum vom nahen zum weiten Transfer beschrieben werden (Schmid, 2006). Nah heisst, dass die Übertragung unmittelbar, in gleichem Kontext mit ähnlicher Aufgabe mit gleichem Schwierigkeitsgrad etc. erfolgt. Ist die Transferaufgabe zeitlich verschoben, in einem anderen Umfeld, innerhalb einer anderen Wissensdomäne oder in der Praxis unter anderen Voraussetzungen, sprechen wir von weitem Transfer.
Spezifischer und unspezifischer Transfer
Auf den ersten Blick ist eine weitere Unterscheidung von spezifischem und unspezifischem Transfer sehr verwandt mit nahem und weitem Transfer. Bei der genaueren Betrachtung handelt es sich aber eher um das Kontinuum zwischen kontextgebundenem/inhaltsgebundenem und generalisierendem/formalem Transfer. Ein weitverbreiteter unspezifischer Transfer liegt in der Behauptung, dass der Erwerb der lateinischen Sprache das Erlernen weiterer Sprachen und deren Grammatik erleichtern soll, was meines Wissens nie empirisch belegt werden konnte.
Die aktuelle Diskussion von transversalen Kompetenzen (Schweri, 2018), die unabhängig von der Domäne und der Situation zur Geltung kommen sollen, fokussiert diesen unspezifischen und generalisierenden Transfer. Dass dieser nicht so einfach realisierbar ist, wird hier in weiteren Kapiteln noch vertieft diskutiert werden.
«Low road»- und «high road»-Transfer
Eine weitere Klassifikation in «low road»- und «highroad»-Transfer haben Salomon und Perkins (1987, zit. nach Seel, 2003, S. 312) vorgeschlagen. Low-road-Effekte sind automatisierte Fertigkeiten, die in einer neuen Situation automatisch wieder ausgelöst werden. Mit «high road»-Transfer meinen die Autoren eine bewusst dekontextualisierte, durch variationsreiche Übung erlangte Fertigkeit, die auch in stark veränderten Kontexten zur erfolgreichen Anwendung kommt.
Veränderung von Verhaltensroutinen
Diese Transferform stellt eine Sonderstellung dar. Wir haben Verhaltensroutinen in der Vergangenheit handlungswirksam aufgebaut und neuronal in Form von Chunks gut verankert. Diese Chunks sind dann zwar blitzschnell aktiviert, jedoch schwer veränderbar. Weil sie deswegen aber hoch handlungswirksam sind, nehmen sie in unserem Alltag eine entlastende Funktion ein. Ihre Veränderungsresistenz hingengen kann einen erfolgreichen Transfer in Form einer Modifikation ziemlich boykottieren.