Читать книгу Love Crash - Der Traum vom Neubeginn - Andreas Suchanek - Страница 5
ОглавлениеJulie blinzelte müde.
Endlich hatte sie ein paar Stunden Ruhe gefunden, wenn auch nur dank einer ordentlichen Dosis Schmerzmittel. Ihr gesamter Oberkörper war von Hämatomen übersät, die Haut stellenweise abgeschürft. In Filmen fügte der Arzt meist Worte wie ›Glück im Unglück gehabt‹ hinzu, doch das wurde den Schmerzen nicht annähernd gerecht. Beim Aufprall auf dem Bordsteinpflaster war das obere Lippenbändchen zerfetzt worden, weshalb sie Blut gespuckt hatte. Glücklicherweise gab es keine inneren Verletzungen.
Sie in einem Zweibettzimmer. Andere hatten da weniger Glück, Vierbettzimmer waren der Standard. Ihre Nachbarin war eine ältere Dame mit grauen Haaren, die sich unter ihrem schlafenden Schopf ausbreiteten wie die Flügel eines Engels. Sie schlief fast ohne Unterbrechung. Selbst Julies abruptes Stöhnen, jedes Mal, wenn sie aus dem Halbschlaf aufschreckte, schien nicht zu ihr durchzudringen.
Vor dem Fenster graute bereits der Morgen. In Kürze würde der Arzt vorbeischauen, der sie in der Notaufnahme mit grimmigem Blick in Empfang genommen hatte. Viel zu oft und zu fest hatte er auf ihrem Körper herumgedrückt.
Ja verdammt, es tat weh!
Nein, sie hatte nichts getrunken!
Ja, sie kannte das heutige Datum und ihren Namen!
Julies Gedanken wurden von einer Tasche unterbrochen, die quer durchs Zimmer segelte, vom anvisierten Besucherstuhl abprallte und auf den Boden knallte. Der Inhalt verteilte sich überall – Lippenstift, Make-up, ein Deospray und die aus Österreich importierten Mozartkugeln, die ihre Freundin seit einer Urlaubsreise nach Wien abgöttisch liebte.
»Mist«, kommentierte Melissa. »Von Weitem sah der Stuhl größer aus.«
»Mel.« Julie wollte sich aufrecht hinsetzen, aber die Schmerzen ließen es nicht zu.
»Als ich zu spät kam und du Oberstreberin nicht in der Vorlesung warst, dachte ich mir schon, dass da was nicht stimmt.« Sie eilte herbei und betrachtete Julie von oben bis unten. »Keine Umarmung?«
»Eher nicht.«
»Schon klar.« Sie klaubte die Gegenstände vom Boden auf, stopfte alles zurück in die Tasche und stellte diese sorgfältig neben den Besucherstuhl, nur um dann selbst darauf Platz zu nehmen. »Ich will jedes Details wissen.«
»Habe ich viel Stoff verpasst?«
Melissa verdrehte die Augen und kringelte eine ihrer dunklen Locken um den Finger. Ihr Schmollmund verzog sich ärgerlich und selbst mit dieser Grimasse sah sie umwerfend aus. Es hätte Julie nicht gewundert, wenn hinter ihrer Freundin etliche Krankenpfleger gegen die nächstbeste Tür gedonnert wären, weil sie ihr nachstarrten. Die Erinnerung an den armen Hilfsdozenten, der wegen Melissa die Treppe heruntergestürzt war und seitdem mit Krücken durch das College irrte, verdrängte sie schnell. Lachen schmerzte.
»Du wurdest gerade von einem Truck überrollt …«, kam es dozierend.
»Von einem Auto angefahren«, korrigierte Julie, doch Melissa ließ sich nicht beirren.
»… es ist ein Wunder, dass du überlebt hast. Und deine erste Frage betrifft die Vorlesungen?! Jules, entspann dich wenigstens hier im Krankenhaus. Sonst bekommst du noch einen Herzinfarkt. Haha.« Ein panischer Blick auf das Nachbarbett folgte. »Sie hat doch keinen?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Genau genommen hatte Julie nicht den Hauch einer Ahnung.
»Puh, das wäre ja mal ein Fettnapf gewesen, was? Aber zurück zu dir.« Arme wurden verschränkt, ein ›böser‹ Blick abgefeuert. »Sobald du hier raus bist, schleife ich dich auf eine Party. Du. Musst. Entspannen.«
Womit sie vermutlich recht hatte. Doch noch immer kam Julie New York vor wie ein wahr gewordener Traum. Ein Jahr lang hatte sie mit drei Jobs parallel jongliert, um genug Geld für das erste Semester zusammenzusparen. Ihre Hoffnung war, dass die Noten in den Klausuren ausreichten, damit sie eines der begehrten Wentworth-Stipendien erhielt. Andernfalls würde es kein zweites Semester für sie geben. Mit dem Job in Beckys Coffeeshop kam sie gerade so über die Runden, schließlich musste sie auch die Miete irgendwie aufbringen. Außerhalb des Campus zu wohnen war ungewöhnlich, doch in ihrem Fall galten besondere Umstände. Einer dieser Umstände saß anklagend vor ihr.
Zusammen mit Melissa und Cullen teilte sie sich eine kleine WG, die sie sich nur leisten konnten, weil die Vermieterin ein Herz für Studenten hatte und entsprechend wenig Miete verlangte.
»Jetzt hast du wieder diesen Blick drauf«, meldete sich ihre Freundin prompt zu Wort. »Als wärst du Bambi und jemand hätte dich getreten. Du willst nur, dass ich ein schlechtes Gewissen bekomme.« Sie seufzte. »Ich habe brav jede Vorlesung besucht, was nicht einmal ansatzweise meiner Natur entspricht, und alles mitgeschrieben. Die Unterlagen kannst du dir kopieren.«
Julie atmete auf. »Du bist die Beste.«
»Ich weiß.«
Ein hochgewachsener Student betrat den Raum. Missbilligend betrachtete er Julie. Obwohl er breit war wie ein Schrank auf zwei Beinen und mit dem markanten Gesicht und dem dichten blonden Haar wie einem Modelkatalog entsprungen wirkte, konnte sie nur kichern.
»Nicht witzig, Jules«, stellte Cullen klar.
Er trug einen gewaltigen Eisbecher und zwei Löffel in ihre Richtung. Ohne lange zu diskutieren, schob er sie sanft beiseite und legte sich neben sie auf das Bett.
»Strawberry-Cheesecake?« Sie konnte die Beschriftung der Eispackung nicht richtig erkennen.
»Was sonst?«
Cullen drückte ihr einen Löffel in die Hand und öffnete den Becher für sie. Der Knoten in Julies Brust schien nur auf diesen Augenblick gewartet zu haben und löste sich. Heiße Tränen rannen über ihre Wangen, ein Schluchzen schüttelte ihren Körper.
»Hey, alles gut.« Cullen legte Löffel und Eisbecher beiseite und zog ihren Kopf sanft auf seine Brust. »Du hast uns einen verdammten Schrecken eingejagt.«
Melissa quetschte sich sitzend auf das Bett und streichelte Julies Haar. Prompt musste sie noch mehr weinen.
»Lass es raus«, flüsterte Cullen.
»Wie machst du es nur, dass du immer so gut riechst?«, fragte Julie leise.
»Das sind die Gene.«
Melissa prustete los. »Könnte auch daran liegen, dass du morgens eine Stunde im Bad verbringst.«
»Irgendein Klischee muss halt sein.«
Cullen war der einzige Footballspieler am College, der nicht nur schwul war, sondern auch völlig offen damit umging. Es war seiner Muskelkraft zu verdanken, dass er keine Probleme bekam und obendrein war er ein genialer Quarterback. Niemand wollte sich mit ihm anlegen, im Gegenteil.
Sehr zu Melissas Missfallen, mochte Cullen weder romantische Komödien noch ging er gerne shoppen oder interessierte sich für Mode. Stattdessen machte er ständig Kraftsport, hing mit seinen Footballkumpel ab und stopfte bei jeder Gelegenheit Pizza in sich hinein.
Nur langsam bekam Julie ihren Heulkrampf wieder in den Griff. Sie benutzte das Taschentuch, das Melissa ihr reichte, schnappte sich den Löffel und schob sich eine große Portion Eis in den Mund. »Fehlt nur noch der richtige Film.«
»Ich dachte, du hast genug Romantik abbekommen.« In Cullens Augen trat ein belustigtes Funkeln. »Immerhin hat sich ein heißer Typ um dich gekümmert.«
»Was?« Melissa fuhr kerzengerade in die Höhe. »Wieso weiß ich das nicht? Moment, woher weißt du davon?«
»Würde ich auch gerne wissen«, bekräftigte Julie.
Cullen grinste breit und verschlang eine große Portion Eis. »Mit vollem Mund spricht man nicht«, nuschelte er.
Kurzerhand riss Melissa den Eisbecher an sich und stellte ihn außerhalb seiner Reichweite ab.
»Hey!«, protestierte er.
»Antworten, Mister. Sofort.«
»Ist ja gut«, seufzte Cullen. »Du bist am College ein YouTube-Star. Jemand hat den Crash aufgenommen und das Video hochgeladen. Deshalb wusste ich ja, dass du im Krankenhaus liegst und konnte Melissa schreiben, dass du einen Unfall hattest. Hast du wirklich gesagt: ›Die Fliege war schuld‹?«
Julie erbleichte.
Melissa brach in schallendes Gelächter aus. »Das kannst du nur mit ›Ich habe eine Melone getragen‹ toppen.«
Julie warf das Taschentuch nach ihrer besten Freundin.
»Igitt.« Mit spitzen Fingern nahm diese es auf, um es zu entsorgen.
»Aber unserem Neuling hast du einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Dachte echt, der kippt gleich neben dir um«, sprach Cullen weiter. »Der hat den Fahrer des Krankenwagens angebrüllt, er solle gefälligst endlich losfahren, da warst du noch gar nicht richtig eingeladen.«
Augen aus Quecksilber mit goldenen Sprenkeln. Minzatem und verwuschelte Haare. Ein Blick voller Panik und einem Hauch Traurigkeit.
Ihre Erinnerung kehrte zurück. »Oh Gott, habe ich das wirklich gesagt? Da war tatsächlich diese Fliege …«
»Jules«, unterbrach Melissa sie sofort, »das Tier erwähnst du zukünftig bitte nicht mehr. Mach daraus eine Spiegelung in den Ladenfenstern oder einen riesigen Truck, der dir die Vorfahrt genommen hat.«
Cullen kicherte, weshalb Julie ihm kurzerhand ihren Ellbogen in die Seite stieß. Schmerzhaft stöhnte sie auf. Hämatome klangen so unschuldig und waren doch so diabolisch. Nicht einmal lachen konnte sie, ohne dass ihr gesamter Körper verkrampfte.
»Was meintest du mit ›Neuling‹?«, fragte Melissa interessiert.
»Er ist erst seit diesem Semester bei uns«, erwiderte Cullen. »Luca irgendwas. Ist ein ziemlicher Eigenbrötler, sitzt ständig allein herum und wehrt jede Anmache ab, egal, aus welcher Richtung sie kommt. Und er bekommt eine Menge. Hätte ihn eher in die Kategorie ›College-Macho‹ eingeordnet.«
Julie betastete ihre Wange. Er hatte sie gestreichelt, ganz sanft, und sich echte Sorgen gemacht. Nein, Sorge war zu wenig, er hatte Angst um sie gehabt.
Melissa seufzte. »Na, toll. Jules, das geht gar nicht. So was nennt man Stockholm-Syndrom.«
Cullen lachte laut auf. »Du weißt schon, dass Stockholm-Syndrom bedeutet, dass man sich in seinen Entführer verliebt?«
Ungeduldig wedelte Melissa mit der Hand. »Darum geht es jetzt nicht. Was haben wir über die dunklen, stillen Typen gesagt?«
»Dass sie heiß sind«, half Cullen freundlich aus.
»Nein, das war vor meinem letzten Date. Was haben wir danach über stille, dunkle Typen gesagt?«
Julie spielte mit der Decke und warf einen unschuldigen Blick aus dem Fenster. »Ich weiß nicht, was denn?«
»Finger weg! Dabei kommt nie etwas Gutes raus.«
»War dein letzter Freund nicht total aufgeschlossen und kontaktfreudig«, merkte Cullen gegenüber Melissa an. »Zu kontaktfreudig?«
»Ich wusste, dass du damit wieder anfängst«, blaffte sie. »Aber darum geht es jetzt auch nicht. Es geht ums Prinzip. Und um Prinz Charming, der Jules eindeutig den Kopf verdreht hat.«
»Und wenn schon.«
»Fall mir nicht in den Rücken, du Footballspieler«, protestierte Melissa. »Er könnte … ein Serienkiller sein. Wer wechselt denn schon das College, obwohl das Semester bereits begonnen hat?«
»Serienkiller eher nicht.« Wieder grinste Cullen sein freches Lausbubengrinsen, das Melissa ständig zur Weißglut trieb. »Aber was weiß ich Footballspieler schon.«
»Schluss damit«, forderte Julie. »Ich bin doch nicht verliebt. Er war nett. Und natürlich bedanke ich mich bei ihm, sobald es mir besser geht.«
»Aha«, sagte Melissa.
»Nett«, echote Cullen.
Glücklicherweise betrat in diesem Augenblick der Arzt von gestern den Raum. Doktor Zimmerman blickte aus strengen Augen in die Runde. Falls es einen Ort auf der Welt gab, an dem er lachte, war es eindeutig nicht das Krankenhaus. Eher der Wandschrank. »Wenn Sie beide so freundlich wären, uns allein zu lassen.«
Melissa und Cullen flüchteten, ließen den Eisbecher aber stehen. Gut so, Julie benötigte mehr Zucker. Sie konnte ihre Gedanken nicht von Luca lösen. Der Blick aus diesen tiefen Augen, die wie endlose Seen in der Morgensonne schimmerten, hatte etwas in ihr berührt.
Verblüfft realisierte sie, dass die Tür geschlossen war und der Arzt am Bett stand. Stille lag über dem Raum, nur unterbrochen von den gleichmäßigen Atemzügen der alten Dame neben ihr.
In diesem Augenblick wusste Julie, dass etwas nicht stimmte.
Doktor Zimmerman begann zu sprechen.