Читать книгу Love Crash - Der Traum vom Neubeginn - Andreas Suchanek - Страница 6
ОглавлениеDer Rollstuhl quietschte.
Julie kam sich vor wie eine Invalide. Doch obwohl sie laufen konnte, besagte die Krankenhausregel, dass sie bis zur Schwelle gebracht werden musste. Der Pfleger starrte immer wieder zu Melissa hinüber, weshalb Julie daran zweifelte, unbeschadet den Ausgang zu erreichen.
»Cullen hat extra einen Kombi angefordert«, betonte die Freundin und schwenkte ihr Smartphone, auf dem die Uber-App geöffnet war. »Wieso schaust du so traurig? Freust du dich nicht, endlich nach Hause zu dürfen?«
»Klar.« Das Lächeln missglückte.
Doch Melissa bohrte nicht weiter. Vermutlich schob sie die schlechte Laune auf Nachwirkungen des Unfalls, was grundsätzlich sogar stimmte. Von dem Gespräch mit Doktor Zimmerman wusste sie nichts und das sollte einstweilen auch so bleiben. Bis die Daten noch einmal überprüft worden waren. Mit einem Kopfschütteln verscheuchte Julie den Gedanken.
»Ihr seid also …«, begann der Pfleger.
»Jap, College«, unterbrach ihn Melissa. »Müssen total viel lernen. Wenig Zeit.«
Er schluckte und schwieg. Armer Kerl.
Entgegen aller Wetten, die Julie mit sich selbst abgeschlossen hatte, erreichte sie ohne Crash den Ausgang. Auf dem Parkplatz gestikulierte Cullen wie ein Irrer, damit sie ihn auch ja nicht übersahen.
»Hast du eine Ahnung, wo er ist?« Melissa sah sich suchend um.
»Wollte er uns nicht abholen?« Julie tat es ihr gleich.
Das Gestikulieren wurde heftiger. »Hey! Hier drüben!«
Sie ließen ihn eine halbe Minute schmoren und brachen dann in schallendes Gelächter aus. Cullen verschränkte grimmig die Arme, war ihnen aber nicht böse. Er würde sich natürlich rächen. So ging das ständig hin und her.
Pfleger und Rollstuhl blieben zurück, als Julie hinter dem Fahrersitz Platz nahm und der Kombi abfuhr. Melissa saß neben ihr, Cullen auf dem Beifahrersitz. Der Fahrer kannte sich aus und versuchte nicht, Zeit zu schinden. Es ging auf direktem Weg in den Randbezirk von Manhattan, wo sie wie durch ein Wunder die Wohnung für die WG entdeckt hatten. Aufgrund der Lage konnte Julie jeden Morgen das Rad benutzen und musste nicht auf die U-Bahn zurückgreifen.
Um sie herum ragten stuckverzierte Bauten in die Höhe, vereinzelt sorgten Bäume für grüne Tupfer im Grau der Stadt. Herbstlicher Sonnenschein fiel zwischen den Blättern hindurch und schuf ein Spiel aus Licht und Schatten auf dem Asphalt. Je näher sie der Innenstadt kamen, desto verstopfter waren die Straßen. Überall standen Touristengruppen herum und fotografierten, sausten Fahrradfahrer so schnell vorbei, dass Julie mehr als einmal zusammenzuckte. Glücklicherweise gehörte ihr Uber-Fahrer nicht zu den manischen Hupern, die ständig wütend gestikulierten, fluchten und abrupt zwischen Bremse und Gas wechselten.
Erst hier im Auto realisierte Julie, wie bedrückend es im Krankenhaus gewesen war. Der Geruch von Desinfektions- und Putzmittel hing ihr noch immer in der Nase und die Ärzte und Pfleger hatten professionell ihr Bestes gegeben, von emotionaler Wärme aber offensichtlich nie zuvor gehört.
Irgendwann erreichten sie trotz Stau und von gelben Taxen überfluteten Straßen den renovierten Altbau. Lächelnd betrachtete Julie den vertrauten kleinen Vorgarten, der durch einen Gitterzaun abgegrenzt wurde, die Sandsteinfassade und hohen Fenster.
»Soll ich dich hinauftragen?«, fragte Cullen.
»Das schaffe ich allein«, gab sie zurück. »Aber danke.«
Tatsächlich hätte Julie das Angebot am liebsten angenommen. Jeder Schritt sandte Erschütterungen durch ihren Körper, sie keuchte alle paar Stufen auf. In diesem Moment verfluchte sie die unter dem Dach liegende Wohnung, die sie ansonsten so sehr liebte. Doch sie musste es allein schaffen. Wollte es allein schaffen.
Melissa kramte den Schlüssel hervor und öffnete die Tür. Der vertraute Geruch von Tee und Kaffee stieg in Julies Nase, dazwischen ein Hauch Zimt. Erst jetzt fiel der Stress wirklich von ihr ab. Das war ihr Zuhause, wo sie mit Eisbecher und Pizza gemeinsam Filme schauten, sich Kissenschlachten lieferten und gegenseitig anbrüllten, wenn der Putzplan mal wieder nicht eingehalten worden war. Diese Wohnung repräsentierte Chaos und Ordnung, Liebe und Geborgenheit.
»Jetzt musst du ein paar Schritte gehen, damit ich auch durch die Tür passe«, erklang eine Stimme direkt neben Julies linkem Ohr.
»Hetz ein armes Unfallopfer nicht«, gab sie zurück.
»Oh, schau. Dort vorne ist eine Fliege. Jetzt nicht noch mal stolpern.«
Melissa prustete los und Cullen handelte sich den nächsten Ellbogenstoß ein. Keuchend wich er einen Schritt zurück. »Warte nur ab, auf der Pizza beim morgigen Filmabend liegen Sardellen.«
Julie hasste Sardellen.
Leise kichernd schob er sich an ihr vorbei in Richtung Küche.
Beinahe wäre sie erneut in Tränen ausgebrochen, als sie die Muffins entdeckte, die dort ein kleines Plakat auf dem Tisch umrahmten. »Willkommen daheim« stand darauf. Sie ignorierte die Tatsache, dass ›jemand‹ eine winzige Fliege daneben gemalt hatte. Gemessen an den überragenden Zeichen- und Schreibkünsten war das Mister Football gewesen.
»Ihr seid so süß.«
Prompt folgte eine Gruppenumarmung, bei der sie beide Freunde behandelten, wie das rohe Ei, das sie war.
»Okay, setzen, ich mache Tee und Kaffee.« Melissa übernahm das Kommando.
Cullen sank auf einen der Stühle und schnappte sich einen Muffin. »Lecker«, mampfte er zwischen Krümeln hervor.
Und das waren sie wirklich. Blaubeer-Kirsch gebacken von ihm selbst.
»Was hat der Arzt gesagt?«, fragte Melissa, während sie den Wasserkocher anschaltete und die Kaffeetiera auf die Herdplatte stellte.
Da war er wieder, der Stich schlechten Gewissens. »Die Hämatome heilen in den nächsten Wochen ab, bis dahin soll ich aufpassen. Aber es spricht nichts dagegen, ab morgen die Vorlesungen zu besuchen.«
»Was natürlich auch total wichtig ist«, kommentierte Melissa.
Dass die Klinik alle Daten zu ihrer Ärztin schickte, damit Julie dort kommende Woche ein weiteres Blutbild machen lassen konnte, erwähnte sie nicht. Bisher handelte es sich letztlich nur um ›asymptomatische Entzündungswerte im Blut‹, hatte Doktor Zimmerman gesagt.
Er wollte sie nicht beunruhigen, aber sie sollte das erneut überprüfen lassen. Nein, mögliche Gründe wolle er jetzt nicht aufzählen.
»Julie muss dringend zurück in die Vorlesung«, erklärte Cullen nachdrücklich, wobei die Krümel seines Muffins durch die Luft flogen. »Wie soll sie sich denn sonst bei Luca bedanken? Wo er doch so nett war.«
Das Muffinpapier traf Cullen an der Stirn, was er mit einem frechen Lachen quittierte. Julie fragte sich immer wieder, wieso er noch single war. Sein lausbubenhaftes Grinsen, der athletische Körper … Aber auf Nachfragen erklärte er stets, dass er nach wie vor auf der Suche wäre und Sport aktuell vorging.
Melissa verteilte die Tassen auf dem Tisch und schenkte ein. Seufzend sank sie auf einen Stuhl, schnappte sich einen Muffin und begann ebenfalls zu futtern. »Ich soll dir viele Grüße von deiner Mum ausrichten. Sobald du wieder daheim bist, kannst du sie anrufen.«
»Meine Mum?« Ganz langsam ließ Julie den Muffin sinken.
Es war völlig klar, weshalb ihre beste Freundin das Wort ›kannst‹ extra betont hatte. Der Anruf war keinesfalls optional.
Schuldbewusst sah Cullen zu ihr herüber. »Richtig, das wollten wir dir noch sagen. Wir haben sie angerufen.«
»Ihr habt was?!« Julie fuhr kerzengerade auf, nur um vor Schmerz aufzustöhnen. »Das habt ihr nicht!«
»Ein bisschen«, gab Cullen kleinlaut zu.
»Mach doch kein Drama daraus, Jules.« Melissa winkte ab. »Ich weiß gar nicht, was du hast. Sie klang nett. Du rufst sie zurück und erklärst, dass alles wunderbar ist. Ein Lächeln von dir durch die Leitung und sie storniert das gebuchte Zugticket.«
»Sie hat eines gekauft?!«
»Möglicherweise hat sie so etwas angedeutet«, erwiderte Melissa unschuldig. »Aber wir kriegen das hin. Überhaupt kein Problem.«
»Das sagt ihr nur, weil ihr sie nicht kennt. Sobald sie eine Woche Cullens Zimmer okkupiert, seht ihr das anders! Habe ich euch nicht genug Geschichten erzählt?!«
»Mein Zimmer?«
»Willst du sie auf der Couch schlafen lassen?«, hakte Julie diabolisch nach.
»Nein, das wäre wohl unhöflich.«
»In mein Bett kann sie leider nicht, weil ich ja Hämatome habe. Und du als Gentleman …«
Cullen schluckte den letzten Rest seines Muffins hinunter. »Ruf sie an. Sofort! Die Couch ist ungemütlich, sie kann ruhig zu Hause bleiben. Wir kümmern uns um dich.«
Wäre die Situation nicht so gefährlich, hätte Julie gelacht. Doch mit ihrer Mum war nicht zu spaßen. Die Frau war eine Urgewalt, die wie ein Tornado durch das Leben anderer fegte und es dabei völlig umgestaltete. Wenn sie dann mit einem Lächeln in den Zug stieg, mussten die Betroffenen sich von dem Schleudertrauma erholen.
»Du gehst jetzt in dein Zimmer«, befahl Melissa. »Entspann dich, ruf deine Mum an und dann willst du doch bestimmt die Vorlesungsunterlagen durchsehen. Ich habe dir Kopien auf den Schreibtisch gelegt.«
Und schwups, war der Kaffee vor ihr verschwunden.
Sie hatte wohl einen guten Job gemacht, als sie den beiden Angst vor ihrer Mum gemacht hatte. Zu gut. Cullen nickte auffordernd.
»Ihr seid schreckliche Freunde.«
Mit einem bösen Blick verschwand Julie in ihrem Zimmer.
Ihr Zimmer!
Sonnenlicht fiel durch das Fenster in den Raum, das fast die gesamte Front einnahm. Das Bett war zwei Meter breit. Sie hatte es vom Sperrmüll. Cullen hatte ihr dabei geholfen, das Holz abzuschleifen. Nur deshalb stand es hier, weil es nichts gekostet hatte. Gegenüber an der Wand stand der Schreibtisch, der bereits Teil des Zimmers gewesen war, als sie es bezog. Vierundzwanzig Quadratmeter, auf denen sie im hektischen Großstadtdschungel Ruhe fand.
»Also schön, du kannst das. Du bist erwachsen und lebst dein eigenes Leben.« Das Smartphone wog schwer in ihrer Hand. Ein Riss durchzog das Saphirglas, ein Andenken an den Unfall.
Sie wählte die Nummer.
»Julie!«, brüllte es ihr aus dem Hörer entgegen. »Wieso rufst du mich erst jetzt an? Wie geht es dir? Bist du noch im Krankenhaus? Deine Freundin ist ganz schön … direkt, wie ist das Zusammenleben mit ihr? Nun sag doch was, Kind.«
»Hallo Mum. Ich bin jetzt erst wieder daheim. Ich …«
»Sie haben dich über Nacht dabehalten? Das ist kein gutes Zeichen! Gib mir mal den Namen deines Arztes, ich rufe ihn an. Wieso fährst du in New York überhaupt mit dem Fahrrad? Wozu habt ihr eine U-Bahn?«
»Hast du nicht gesagt, dass man dort ständig ausgeraubt wird?« Julie versuchte gar nicht erst, alle Fragen zu beantworten. In der Regel musste sie sich nur eine aussuchen und mit der Antwort kamen fünf weitere.
Sie ging vorsichtig zum Fenster, neben dem ein großer Ohrensessel stand. Ebenfalls eine Sperrmüllrettung. Stöhnend sank sie hinein.
»Was ist los? Geht es dir nicht gut?« Die Tonlage ging wieder in die Höhe. »Walther Warren, unserer Tochter geht es nicht gut.«
»Was ist los?«, erklang die Stimme ihres Dads. »Ist sie schon wieder daheim? Auf YouTube sah das so aus, als müsste sie länger im Krankenhaus bleiben.«
»Da hat er recht«, bestätigte ihre Mum. »Kind, das war ganz fürchterlich. Aber wenigstens gab es da diesen stattlichen jungen Mann, der dir geholfen hat. Luca Jackson heißt er.«
Julie fuhr kerzengerade in die Höhe. »Woher weißt du das?!« Aua, das hatte weh getan.
»Ach Kind, das ist heutzutage doch ganz einfach. Ich habe einen Screenshot des Videos gemacht, mit Gimp sein Bild ausgeschnitten und das dann über die Google-Bildersuche laufen lassen. Seltsamerweise steht da aber fast nichts. Nicht einmal bei Facebook oder Instagram ist er zu finden. Ich hatte mir schon überlegt, ob ich seine Eltern kont…«
»Nein!«, brüllte Julie. »Mum, halte dich da bitte raus.«
»Walther, deine Tochter ist wieder schwierig.«
»Sie ist unsere Tochter, Liebling.«
»Von mir hat sie das nicht.«
»Wieso kennst du dich plötzlich mit Gimp und Screenshots aus, Mum?« Der Wirbelsturm wurde gefährlicher.
»Das war dein Bruder«, erwiderte ihre Mum.
»Max?«
»Nein, Josh. Ist das nicht lieb von ihm. Zuerst wollte er nicht, aber ich habe ihm klar gemacht, dass seine arme Mutter, die ihn einundzwanzig Jahre lang großgezogen, gehegt und gepflegt hat, auch mal seine Hilfe benötigt.«
Armer Josh. Ihre Mum war einfach zu gut darin, ein schlechtes Gewissen hervorzurufen. »Ja, das ist total nett von ihm. Er bekommt einen Orden von mir.«
»Sie ist wieder sarkastisch, Walther.«
»Ich habe nie so ganz den Unterschied zwischen Ironie und Sarkasmus verstanden«, erklang die Stimme ihres Dads.
»Wisst ihr, ich sollte mich jetzt entspannen. Kopfschmerzen und so.«
»Kopfschmerzen«, echote ihre Mum. »Kind, dann leg dich besser hin. Und geh morgen noch mal zum Arzt. Ich könnte dich begleiten.«
»Danke, Mum, aber das ist gar nicht nötig.«
»Für meine Tochter würde ich diese beschwerliche Reise selbstverständlich auf mich nehmen.«
Weitere Pfeile in ihrem Köcher der Schuldgefühle.
Glücklicherweise klingelte es in diesem Augenblick an der Wohnungstür. Vermutlich der Postbote, aber das spielte keine Rolle. Es war ein Ausweg. Und in ihrer Verzweiflung hätte Julie nach jedem Strohhalm gegriffen.
»Mum, Dad, ich hab euch lieb. Haltet euch einfach raus. Mir geht es gut.«
Länger konnte sie ihren Fluchtreflex wirklich nicht mehr unterdrücken und legte kurzerhand auf. Zehn Sekunden später und ihre Mum hätte über die Konferenzschaltung damit begonnen, die anderen dazu zu holen. Es brachte massive Nachteile mit sich, aus einer Großfamilie mit vier Geschwistern zu stammen.
»Julie!«, brüllte Melissa.
»Was?!« Sie riss die Tür auf und machte einen Schritt in die Küche.
Vor ihr standen Melissa, Cullen und …
Noch während Julie starrte, stolperte sie über die Schwelle und fiel keuchend zu Boden.
Wieso war er hier?