Читать книгу Flüsterwald - Das Abenteuer beginnt (Flüsterwald, Bd. 1) - Andreas Suchanek - Страница 11

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Der seltsame Fremde

Eines musste er seiner Mum lassen: Sie besaß meistens eine Engelsgeduld. Am Samstagmorgen schien Winterstein kurzerhand zur Weltmetropole zu mutieren. Zumindest, wenn man die Anzahl der Autos bedachte, die auf den Straßen unterwegs waren. Da die Innenstadt gesperrt war, ging es auf den Zufahrtsstraßen zu wie bei einem Wettrennen. Jeder wollte den nächsten freien Parkplatz ergattern. Dabei wurde gehupt, geschnitten und das Gaspedal schon mal ein wenig zu tief getreten.

Während Lukas’ Pa in solchen Fällen ordentlich fluchte, blieb seine Mum gelassen.

»Weißt du«, erklärte sie, »all diese armen Menschen wissen gar nicht, dass ihre Aggressivität sie altern lässt. Aber an so etwas beteiligen wir uns einfach nicht. Was ist das Familienmotto?«

»Wir bleiben samstagmorgens lieber im Bett«, erwiderte Lukas trocken.

Augen wurden verdreht, ein Seufzen erklang. »Ich kann gar nicht verstehen, warum du so bockig bist. Die Sonne scheint, all diese netten Menschen bummeln durch die Stadt, die Luft ist frisch und klar …«

Er schwieg.

Zu diskutieren war sinnlos. Wenn seine Mum fröhlich sein wollte, war sie das. Vermutlich hätte sie in diesem Zustand selbst eine Kläranlage als ›absolut fabelhaft‹ bezeichnet.

Irgendwann, nachdem sie drei anderen Autofahrern den Vortritt gelassen hatten, fanden sie einen Parkplatz. Von dort erreichten sie über eine Brücke die Innenstadt.

Schmale Gassen durchzogen die Altstadt und denkmalgeschützte Häuser schmiegten sich aneinander. Der untere Marktplatz hatte irgendeine historisch total wichtige Bedeutung und war vollgestopft mit Ständen, die wenig mit Essbarem zu tun hatten. Eine Frau mit roten Wangen bot selbst gedrehte Kerzen aus Bienenwachs an. Ein älterer Mann mit Rauschebart saß zwischen selbst geschreinertem Holzspielzeug. Hinter einer ausladenden Theke verkaufte eine pausbäckige Frau Schreibfedern nach historischem Vorbild mit kleinen Tintenfässchen.

Eine breite Fußgängerzone führte zum oberen Marktplatz, wo es frisches Obst, Gemüse und Blumenstände gab. Auch der Metzger der Stadt hatte dort einen Stand aufgeschlagen. Es war einfach Pech, dass sie hier unten angekommen waren.

»Nein, wie schön«, sagte seine Mutter prompt. »Hast du das gesehen? Wie originell! Ganz grandios!« Sie blieb an jedem Stand stehen und las jedes angebrachte Schild.

Von der Fußgängerzone führten kleine Gässchen tiefer in die Stadt hinein. Im Zentrum des Platzes erhob sich ein Springbrunnen. In den Boden waren Blöcke aus Messing eingelassen und bildeten einen Streifen, der sich als Linie bis zum oberen Marktplatz zog. Ein Schild verriet, dass es sich um das Ergebnis einer Kunstaktion handelte.

»Ein Symbol für die Verbindung zwischen Alt und Neu, dem historischen Teil der Stadt und der Zukunft. Ganz fabelhaft.«

Lukas’ Magen knurrte. »Mum!«

»Ist ja schon gut.«

Sie schoben sich durch die Menschenmenge. Lukas hatte seine Müdigkeit nur zum Teil abgeschüttelt. Ohne sein Müsli, eine Tasse Kakao und ein paar ruhige Minuten konnte der Tag nicht vernünftig beginnen.

Glücklicherweise verlegte sich seine Mum darauf, Unterhaltungen mit den Verkäufern zu führen, und drückte ihm lediglich die Taschen in die Hand. Schweigend trottete er hinter ihr her. Durch die Gespräche erfuhr er, dass die Bücherei in der Nähe des unteren Marktplatzes lag – er wollte dort unbedingt vorbeischauen –, dass die Schule am südlichen Rand der Stadt auf ihn wartete – er würde also jeden Morgen durch die gesamte Innenstadt radeln müssen –, und dass der kleine Bahnhof nördlich zu finden war.

Lukas hegte Fluchtgedanken.

Normalerweise würde er jetzt zusammen mit Michael, seinem besten Freund, bei Muffins und Kakao auf dem Balkon sitzen. Als Halb-Amerikaner bestand der darauf, dass sein Name englisch ausgesprochen wurde. Wann er Michael wiedersehen würde, stand in den Sternen. Plötzlich fühlte sich Lukas schrecklich einsam. Seine Laune sackte ins Bodenlose.

Konnte das hier überhaupt noch schlimmer werden?

Ein Schrei erklang. Oben wurde zu unten, die Taschen fielen zu Boden und Lukas knallte auf die Pflastersteine. Äpfel kullerten davon. Zwischen den Scherben einer Flasche rann Milch über das Kopfsteinpflaster.

»Pass doch auf!« Eine zerlumpte Gestalt funkelte ihn böse an. Zottelige Haare standen in alle Richtungen ab. Vom Mantel des Mannes ging ein ranziger Geruch aus.

Lukas rappelte sich schnell auf. »Entschuldigung.«

Mit fahrigen Händen wühlte der Unbekannte in den Lebensmitteln und zog schließlich triumphierend grinsend einen farbigen Stein hervor. »Mein Schutzstein.«

Mittlerweile starrten zahlreiche Verkäufer zu ihnen herüber. Neben dem Stand mit den Bienenwachskerzen lehnte ein Mädchen an der Wand und taxierte den unbekannten Mann mit bohrendem Blick. Als Nächstes wandte sie sich Lukas zu, betrachtete ihn von oben bis unten.

»Geht es dir gut?«, fragte seine Mum.

»Alles klar.«

Sie drehte sich dem Mann zu. »Mein Sohn wollte Ihnen Ihren Schutzstein nicht wegnehmen. Vielleicht schauen Sie demnächst mal in meiner Praxis vorbei?« Sie zog eine Karte aus ihrer Hosentasche und schob sie kurzerhand in eine der Manteltaschen ihres armen Opfers.

Während der Mann verdutzt auf die Karte blickte, klaubte Lukas die Lebensmittel wieder zusammen. Seine Mum kaufte eine neue Flasche Milch und sie gingen zurück zum Auto. Nachdem alles verstaut war, beschlossen sie – nicht, dass er ein Mitspracherecht gehabt hätte –, ein paar Bienenwachskerzen zu erstehen.

Immerhin durfte er sich solange die Bücherei ansehen.

Das Gebäude war durch zwei Gässchen vom Marktplatz getrennt und von außen recht unscheinbar. Eine Glastür, eingepasst in einen Steinbogen, führte in einen hellen Raum. Die Bücher verteilten sich auf drei Ebenen, die über Metalltreppen erreichbar waren. Gegenüber der Tür saß eine ältere Dame hinter einem Pult. Ihr graues Haar war zu einem Dutt gebunden, ihre Augen von Lachfalten eingerahmt. Sie las in einem Buch und kicherte immer wieder leise.

Lukas beschloss, sie erst einmal nicht zu stören. Er stieg die Treppenstufen empor. Der Geruch von altem Papier und Leim lag in der Luft. Verschlissene Einbände standen zwischen neuen Ausgaben, Taschenbücher neben Hardcovern. Die verschiedensten kunstvoll gestalteten Umschläge zogen ihn förmlich an.

Zu Hause hatte er sich oft mit Micha – den er eigentlich nicht so nennen durfte – in die Bücherei zurückgezogen. Dort hatten sie ihre Hausaufgaben gemacht. Es war ruhig und die vielen Bücher in der Umgebung beflügelten Lukas’ Fantasie. Was ihn zugegebenermaßen auch oft abgelenkt hatte. Diese Bücherei war anders. Älter.

Ganz oben entdeckte er einen Steg, der zu einem steinernen Torbogen in der Wand führte. Eine völlig sinnlose Konstruktion, denn innerhalb des Bogens gab es nur festes Mauerwerk. Falls man sich nicht in einen Geist verwandeln konnte, gab es hier kein Durchkommen.

»Kann ich dir helfen?«

»Waaaahh!« Lukas fuhr herum.

Vor ihm stand die ältere Dame, die offensichtlich nicht länger mit ihrem Buch beschäftigt war. Sie trug ein knielanges Kleid, darüber eine gestärkte Bluse. Auf einem Schild an ihrer Brust stand ›A. Stein‹.

»Ich bin neu hier in der Stadt.«

»Und du bist wer?«

»Oh, Entschuldigung. Lukas Lamprecht. Ich wohne mit meinen Eltern am Waldweg 13.«

»Ich verstehe«, sagte Frau Stein. »Ihr seid ins Haus des Professors gezogen.« Sie musterte ihn von oben bis unten. »Freut mich, dich kennenzulernen.«

»Ja, genau. Kannten Sie den Professor?«

»Eine seltsame Geschichte. Er ist eines Tages einfach verschwunden.« Sie wechselte das Thema. »Und nun möchtest du hier in der Bücherei eine Mitgliedschaft?«

Lukas nickte. »Ich habe mich nur darüber gewundert.« Er deutete auf den Torbogen.

Frau Stein lachte. »Ja, eine Fehlkonstruktion.«

Sie führte ihn nach unten, wo er einen Anmeldebogen ausfüllte und eine vorläufige Mitgliedskarte bekam. Da seine Mutter wartete, suchte er heute keine Bücher zusammen. Schnell rannte er zurück zum Parkplatz.

Dabei ging ihm nicht mehr aus dem Sinn, was Frau Stein gesagt hatte. Der Vorbesitzer des Hauses war also einfach verschwunden.

Seltsam.

Flüsterwald - Das Abenteuer beginnt (Flüsterwald, Bd. 1)

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