Читать книгу Flüsterwald - Das Abenteuer beginnt (Flüsterwald, Bd. 1) - Andreas Suchanek - Страница 8
ОглавлениеEin neues Zuhause
Als seine Mutter zum tausendsten Mal aufseufzte und mit schriller Stimme »Nein, wie idyllisch!« rief, wusste Lukas, dass er verloren hatte. Die Umzugskartons waren längst gepackt. Trotzdem hatte er bis zuletzt gehofft, dass seine Eltern noch zur Besinnung kamen. Vergeblich.
Der altersschwache Opel Astra hielt ebenfalls durch. Vermutlich würde er erst am Ziel endgültig den Geist aufgeben, wie er es sonst ständig tat. Damit war jeder Fluchtversuch chancenlos.
»Nein, wie idyllisch«, seufzte seine Mutter erneut, wobei sie mit ihrem rechten Zeigefinger Löcher in die Luft stach. »Dort drüben.« Ein weiterer Stich. »Seht ihr das, Kinder? Eine echte Vogelscheuche.«
Lukas fragte sich, ob in ihrer Brille magische Gläser eingebaut waren. Eine andere Erklärung für dieses Verhalten gab es einfach nicht. Denn das Strohteil dort drüben war ebenso hässlich wie die grauen Regenwolken, die am Horizont heranzogen. Gleiches galt für die weiten, matschigen Felder.
»Ja, toll«, blaffte er.
»Mama, was ist ›Idülisch‹?«, fragte das kleine Monster neben ihm, wobei es seinen uralten zerrupften Stoffhasen wie einen Rettungsring umklammert hielt.
»Lukas, wir haben doch darüber gesprochen.« Seine Mutter schenkte ihm ihren berühmten Psychologenblick, bei dem er sich immer total bescheuert vorkam. »Nimm die Veränderung an.« Ihr Blick wanderte zum Schwestermonster. »I-dyl-lisch«, sie betonte jede Silbe, »bedeutet, dass etwas schön ist.«
»Und wo ist das hier?«
Die Lider seiner Mutter flatterten. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass ihre Geduld langsam aufgebraucht war.
»Alles hier ist auf seine eigene unverwechselbare Art schön, mein Schatz.«
»Aber …«
»Und jetzt wollen wir deinen Vater nicht weiter ablenken. Er muss sich auf die Straße konzentrieren.«
Ein zustimmendes Grunzen vom Fahrersitz brachte Lisa zum Schweigen. Lukas lag eine Erwiderung auf der Zunge, die er jedoch hinunterschluckte. Eine Diskussion war ganz offensichtlich sinnlos, außerdem waren sie fast am Ziel angekommen.
Das Auto rumpelte eine steile Bergstraße hinab und er erhaschte einen ersten Blick auf die spitz zulaufenden Giebel der Häuser von Winterstein. Es war noch schlimmer, als er befürchtet hatte. Das Kaff verdiente die Bezeichnung ›Stadt‹ eindeutig nicht. Das Kopfsteinpflaster der Straße bildete unebene Hubbel aus, die das Auto ordentlich durchschüttelten. Seiner Mutter rutschte sogar die Brille von der Nase, was sie jedoch nicht weiter kommentierte.
Die Häuser mussten von einem Architekten errichtet worden sein, der zu viele Heimatfilme gesehen hatte. Da hingen allen Ernstes Blumenkästen unter den Fenstern. Die Klappläden besaßen herzförmige Aussparungen und die hüfthohen Gartenzäune waren weiß lackiert. Wobei man die Farbe nur noch mit viel gutem Willen so nennen konnte.
»Mum«, sagte Lukas entsetzt. »Sind das Gaslaternen?!«
Erstmals wirkte auch seine Mutter beunruhigt. »Hm. Äh … anscheinend bevorzugen die Bewohner von Winterstein eine … äh … rustikale Lebensweise.« Dabei warf sie Lukas’ Vater einen Seitenblick zu, der diesen tiefer in den Fahrersitz rutschen ließ.
Sie rumpelten in brütendem Schweigen weiter.
Ob wir überhaupt Internet haben? Strom? Warmes Wasser?
Langsam wurde Lukas panisch.
Schließlich blieben die letzten Häuser hinter ihnen zurück und die Familienkutsche ruckelte eine Anhöhe hinauf. Sein Vater hielt vor einem schmiedeeisernen Tor, von dem längst die Farbe abblätterte. Zu beiden Seiten wuchsen Steinpfeiler in die Höhe, auf deren Spitzen kleine Figuren saßen. Sie stellten irgendwelche Fabelwesen dar. Dahinter verlor sich ein Kiesweg zwischen dichten Hecken. Seine Eltern stiegen aus und begutachteten das angeschlagene Schild auf dem linken Pfeiler.
»Doktor Archibald von Thun«, las seine Mutter laut vor. »Am Waldweg 13.« Als sie sich wieder zu ihnen umwandte, lag ein ganz und gar künstliches Lächeln auf ihren Lippen. »Hier sind wir richtig, Kinder. Der Vorbesitzer hat nur sein Namensschild nicht entfernt.«
Offensichtlich, Mum.
Sein Vater öffnete das Tor. In eisigem Schweigen fuhren sie weiter. Seine Mutter hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Wenn Lukas das tat, nannte sie es immer ›passiv-aggressiv‹, was ihn zur Weißglut trieb. Das betitelte sie dann wiederum mit ›frühpubertärer Phase‹.
Er bekam Mitleid mit seinem Pa, das er jedoch schnell beiseiteschob. Immerhin war der schuld daran, dass sie hier gelandet waren. Der Vorsitzende des Schulrates von Winterstein hatte ihn höchstpersönlich angerufen und ihm die Lehrerstelle an der hiesigen Schule schmackhaft gemacht, wie Lukas’ Vater immer wieder stolz betont hatte. Und als dann kurz darauf das Angebot zum Kauf eines eigenen Hauses einging – was immer schon der Traum seiner Eltern gewesen war –, gab es kein Halten mehr. Dass seine ach so tolle Stelle an der einzigen Schule weit und breit war und Lukas daher ebenfalls dorthin wechseln musste, spielte natürlich keine Rolle. Etwas Peinlicheres gab es ja wohl nicht.
Meinen Ruf kann ich in die Tonne treten.
Es war sein schlimmster Albtraum.
Was da vor ihnen thronte, wuchtig und baufällig, konnte man kaum als ›Haus‹ bezeichnen. Und wie der Pool aussehen würde, den seine Mutter in jeder Diskussion als etwas ganz Tolles angepriesen hatte, wollte er sich gar nicht erst ausmalen.
»Ja also, dann …« Sein Vater blickte entsetzt auf das Gebäude. »Wir sind da.«