Читать книгу Flüsterwald - Das Abenteuer beginnt (Flüsterwald, Bd. 1) - Andreas Suchanek - Страница 12
ОглавлениеDas Bildnis aus Stein
Lukas verschlang drei Schalen mit Müsli, dazu eine Banane und zwei Brötchen. Zusätzlich mussten vier Gläser Kakao dran glauben. Zufrieden lehnte er sich zurück und genoss das Sättigungsgefühl.
Sein Pa las entspannt die Zeitung, die am Morgen vor der Haustür gelegen hatte. »Vermutlich hat der Vorbesitzer vergessen, sie abzubestellen«, hatte er gesagt. »Ich kläre das am Montag.«
»Ich werde mal mit Frau Tillerson sprechen«, warf seine Mum ein. »Wird sowieso Zeit, dass wir sie kennenlernen.«
»Wer ist das?« Bisher hatte Lisa still in der Ecke gesessen und ihren Stoffhasen an sich gedrückt, den sie ›dummer Lukas‹ nannte. Allerdings nur, wenn niemand außer Lukas anwesend war.
»Das ist die Haushälterin, Schatz«, erwiderte seine Mum. »Sie hat hier alles geputzt und den Garten gepflegt. Bis wir uns eingerichtet haben, geht sie uns zur Hand.«
»Putzt sie mein Zimmer?«, fragte Lisa sofort.
»Das macht ihr schön selbst«, kam es prompt von seinem Pa.
Gut so. Lukas wollte nicht, dass eine Fremde in seinem Zimmer herumwuselte. Er stand auf und trottete die Treppe hinauf. Endlich etwas Ruhe.
Das Wichtigste zuerst: Er schnappte sich jene Kisten im Gang, die seine Sachen enthielten, und trug sie in sein Zimmer. Dann schloss er die Tür und schob den Riegel vor.
Sein Vater hatte den Router bereits angeschlossen und so startete Lukas seinen Laptop und verband ihn mit dem W-Lan. Seine Angst, hier kein Internet zu haben, blieb unbegründet. Es lief stabil.
»Endlich wieder Zivilisation!« Er öffnete die Chat-Programme, doch Micha war nicht online.
Während die Sonne höher stieg, begann Lukas mit dem Auspacken. Zuerst wollte er die alten Bücher aus dem Regal nehmen, die der Vorbesitzer des Hauses hinterlassen hatte. Seltsamerweise wollte ihm das nicht recht gelingen. Immer, wenn er an das Regal trat, um eine der Schwarten herauszuziehen, fiel ihm etwas anderes ein, was zuerst erledigt werden musste.
Am Ende ging er dazu über, seine Bücher neben dem Fenster mit der Lesebank an der Wand aufzustapeln. Das wirkte sowieso tausendmal cooler. Er überzog sein Bett, packte die Schulunterlagen aus und verstaute sie kurzerhand darunter. Während der Ferien schob er den Gedanken an die neue Schule weit von sich. Schließlich holte er Hammer und Nägel aus dem Erdgeschoss. Damit ausgerüstet war es ein Leichtes, die Haltestangen für die Skateboards über dem Bett anzubringen. Als zusätzliche Regalbretter machten die sich super.
Langsam nahm das Zimmer Form an.
Irgendwann hatte er keine Lust mehr. Ein paar der Kisten wanderten unausgepackt in die Ecke. Seine Eltern waren dabei, ihr Schlafzimmer herzurichten, und das Schwestermonster schlief. Er holte sich aus der Küche ein belegtes Brot, schnappte sich seinen Rucksack und verließ das Haus durch die Terrassentür. Zeit, die Gegend zu erkunden!
Wie angekündigt gab es einen Pool hinter dem Haus. Genauer: ein Schwimmbecken, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Risse durchzogen die Platten, die blaue Farbe war großflächig abgesplittert. Verfaulte Blätter lagen in Wasserlachen am Boden, Geäst dazwischen.
Der Garten wurde von einer hüfthohen Mauer eingerahmt, auf der ein Metallgitter emporwuchs. Die Zeit und eine Menge Rost hatten das Eisen porös werden lassen. Auf dieser Seite wuchsen Sträucher dicht an dicht, das Gras spross. Im Gegensatz zu dem Kräutergarten, der penibel gepflegt aussah, glich der restliche Garten einem Urwald.
Er öffnete das Gartentor. Dahinter wartete ein kleines Wäldchen aus Fichten und Eichen. Sie mussten bereits viele Jahrzehnte alt sein.
Lukas sprang über das Wurzelwerk, schob einen Strauch beiseite und stand auf einem freien Feld. Auf der anderen Seite plätscherte der Fluss, dahinter begann der Wald. Er rannte ein paar Schritte und blickte zurück. Nur die Giebeldächer des Hauses waren noch zu erkennen, sein Zimmerfenster lugte durch eine Lücke im Geäst der Bäume hervor.
»So viel Grün.«
Vom dichten Beton der Großstadt zum ländlichen Idyll. Hier gab es keine U-Bahn, keine Hochhäuser oder hässliche Hausfassaden. Kein Studentenviertel und keine Villengegend.
Schnell wandte er sich ab und drängte das aufkommende Heimweh beiseite. Er war jetzt hier und musste das Beste daraus machen. Immerhin hatte sein Pa wieder eine Stelle und Mum konnte ihre Praxis hier eröffnen. Menschen mit Problemen gab es überall, pflegte sie immer zu sagen.
Der Fluss entpuppte sich als lustiger kleiner Bach, der zwischen Steinen dahinplätscherte. Wie eine Markierung, die den Wald vom umliegenden Land abgrenzte.
Lukas folgte dem Lauf ein Stück und kam so an einen halb zerfallenen Steg, der von dieser Seite bis fast zur anderen führte. Ein Sprung genügte, um den Rest zu überbrücken.
Er stand vor dem Wald.
Die Blätter raschelten im Sommerwind, tausend Stimmen flüsterten. In der Luft lag ein Geruch nach trockenem Holz und frischem Laub. Lukas trat aus der Sonne in das Zwielicht der Bäume.
Eine andere Welt umfing ihn. Überall um ihn herum gab es Geräusche. Etwas knackte im Unterholz, über ihm zwitscherten Vögel. Das Geäst griff ineinander und bildete ein dichtes Blätterdach.
Lukas fröstelte.
Vorsichtig kletterte er über eine Wurzel und drang tiefer in den Wald vor. Irgendwo musste ein Weg sein. In jedem Wald gab es Wanderwege, die von Besuchern genutzt wurden.
Tatsächlich fand er kurz darauf einen Trampelpfad. So musste er nicht länger Büsche beiseiteschieben oder über Felsen klettern. Die Sträucher am Wegesrand waren so dicht, dass er kaum etwas dahinter erkennen konnte. Sonnenschein fiel durch das Blattwerk und erschuf Lichttupfen auf dem Grün der Büsche.
Lukas erreichte eine Weggabelung. Über ihm sprang ein Eichhörnchen von einem Baum zum nächsten. Er entdeckte den Eingang zu einem Kaninchenbau und einmal glaubte er, einen Fuchs zu sehen. Den Blick auf das Eichhörnchen gerichtet, ging Lukas weiter.
Und übersah eine Wurzel.
»Waahhhh!«
Mit rudernden Armen purzelte er zwischen zwei Büschen hindurch. Dahinter wartete ein Abhang. Er versuchte noch, sich an einem der Äste festzuhalten, doch seine Finger griffen ins Leere.
Sich überschlagend rollte er den Hang hinunter. Seine Stirn machte Bekanntschaft mit einem Stein. Die Welt um ihn herum explodierte in einem Wirbel aus Farben und Formen. Benommen fiel er auf die Erde.
Als Lukas wieder zu sich kam, schien der Wald den Atem anzuhalten.
Stille.
Er setzte sich auf.
Blut rann aus einer Wunde an der Stirn. Es brannte höllisch und seine Lippen waren geschwollen. Die Jeans waren am linken Hosenbein aufgerissen und mit Erde beschmiert, sein Hoodie sah nicht besser aus.
»Toll.«
Er kam auf die Beine. Kurz wurde ihm schwindelig. Der Wald schien um ihn herumzutanzen. Lukas schloss die Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, war alles wie zuvor. Er nahm die Umgebung in Augenschein.
Er war in einer Senke herausgekommen. Ein Trampelpfad führte tiefer in das Buschwerk. Da er auf keinen Fall wieder den Abhang hinaufklettern konnte, folgte er dem Pfad. Dieser schlängelte sich zwischen Büschen, Bäumen und Felsen hindurch. Es ging mal nach oben, mal nach unten.
Schließlich mündete er auf einer Lichtung.
Staunend trat Lukas näher.
Im Zentrum erhob sich ein Podest, auf dem jemand Statuen aus dem Stein gehauen hatte. Doch es waren keine Fürsten, Könige oder Kaiser, keine Ritter oder Tiere. Jemand hatte Fabelwesen erschaffen. Geschöpfe, die einem Fantasyroman entsprungen schienen.
Lukas machte einen Schritt voran.
Ein Flimmern legte sich über den Stein, wie erhitzte Luft über dem Asphalt an einem Sommertag. Er konnte die Konturen nicht mehr genau erkennen. Der Schwindel kehrte zurück.
Die Welt versank in Schwärze.