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4. Von der Religion in den Medien zur Medienreligion


Klaus Müller, Direktor des Seminars für Philosophische Grundfragen der Theologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Noch komplexer als die anderen Buchreligionen Judentum und Islam ist das Christentum eine Religion der Medien: Die seit Abraham ergehende Selbstmitteilung Gottes, gebrochen im Prisma der alttestamentlichen Gattungen, wird Fleisch – was für ein Medium! Ein Mensch, geboren zwischen Tieren, gestorben an einem Schandpfahl, wird zur lebendigen Metapher des unbegreiflichen Gottes. Dieser Mensch selbst übersetzt (!) sein Wesentliches ins Medium eines heiligen Zeichens (die Eucharistie), seine Gefolgeleute und noch Spätere falten diese Medialisierung weiter aus (in den Sakramenten und Sakramentalien). Zugleich kommt es zu einer neuerlichen Übersetzung des fleischgewordenen Wortes ins Gesprochene und Geschriebene – das Neue Testament. Und dieses wiederum zielt zusammen mit den materiellen Zeichen(handlungen) auf nichts anderes, als dass Hörende und Feiernde das Gehörte und Gefeierte rezipieren und ins Medium erstpersönlichen Lebens übersetzen. Das Christentum – eine einzige Medienkette.

Natürlich haben die christlichen Verkünder seit je auch die medialen Kanäle menschlicher Kommunikation genutzt: Von den Briefen des Apostels Paulus (den ältesten Medienspuren des Christentums) über die unendlich reiche Bilderwelt der Mosaiken, Fresken, Plastiken bis hin zu Druckerzeugnissen, Radio Vaticana, den Zeitungen und Magazinen und heute natürlich den zahllosen Netzauftritten von Gemeinden, Bistümern, Verbänden bis hin zu den offiziellen Sites des Vatikan.

Das alles ist eigentlich gar nicht groß der Rede wert. Ein anderes dafür umso mehr: die Tatsache nämlich, dass das Phänomen der Neuen Medien als solches oft eine ganz eigenartige religiöse Aura mit sich führt. Zwischen beiden Seiten kann es zu brisanten Interferenzen kommen, auch zu Spannungen bis hin zur Unverträglichkeit: dass sozusagen die Eigenbotschaft, die das Medium ja immer auch schon allein kraft seiner eigenen Struktur und seines Rhythmus sendet, den transportierten Inhalt regelrecht dementiert.

Technische Errungenschaften waren seit je und sind bis heute von religiöser Mystifikation begleitet – und am meisten dort, wo technische Rationalität sich mit dem Anspruch verbindet, Mythisches oder Religiöses überwunden zu haben. Aber kaum ein anderes Feld der Technokultur ist davon intensiver geprägt als dasjenige, das die heute wirtschaftlich tonangebenden Weltgegenden durchherrscht und ihr Emblem – ihr Totem – im Computer gefunden hat: die postindustrielle Informationstechnik in Gestalt der Telematik, also dem Zusammenschluss herkömmlicher elektronischer Kommunikationstechniken mit den Neuen Medien. Religiöse Semantik, meist aus dem jüdisch-christlichen Traditionsstrom geschöpft, und der Rekurs auf einschlägige philosophisch-theologische Theoriestücke bestimmen in einem Maß die Selbstbeschreibung und Selbsttheoretisierung der Cyberwelt, dass es in einer Öffentlichkeit, die wie die derzeitige westeuropäische in Richtung eines religiösen Analphabetentums unterwegs ist, unschwer zu Verwechslungen zwischen technisch Projektiertem und religiöser Rhetorik kommt.59 Und es sind genau dies – die Entdifferenzierung von Technik und Theologie samt den zwangsläufigen Folgen – die Koordinaten, an denen entlang sich die religiöse Semantik und Theo­riebildung der Cyberwelt entwickelt.

Technische Errungenschaften waren seit je und sind bis heute von religiöser Mystifikation begleitet – und am meisten dort, wo technische Rationalität sich mit dem Anspruch verbindet, Mythisches oder Religiöses überwunden zu haben.


Das lässt sich gut an der Weise verfolgen, wie dazu biblische Motive aufgegriffen und geweitet, dann aber auch sozusagen revisionär in Gegengeschichten transformiert werden, die ausdrücklich dem biblischen Sinngehalt widersprechen. Prinzipiell lässt sich sagen, dass die kulturelle Selbstbeschreibung der Computerwelten das Gesamtrepertoire der jüdisch-christlichen Erzählung von Heilsgeschichte in Anspruch nimmt, angefangen vom Schöpfungsgedanken der Genesis bis zur Apokalypse, also dem letzten, so visionären Buch der Bibel, das in einer Geschichtstheologie aufgipfelt, die beansprucht, den letzten Sinn und das Ziel von allem offenzulegen. Genau diese eschatologisch-apokalyptische Ambition ist der gesamten Cybertheorie als strukturelles Grundmuster eingeschrieben: Sie ist ein einziges glühendes Versprechen der bevorstehenden Heraufkunft eines Reiches des Geistes und nimmt folgerichtig auch intensiv Bezug auf den, der wie kein anderer in der geschichtsphilosophisch-theologischen Tradition für diese Denkfigur steht: der mittelalterliche Abt Joachim von Fiore (1145–1202).60 Für ihn war nach dem Reich des Vaters (Altes Testament) und des Sohnes (Neues Testament) mit dem Auftreten des benediktinischen Mönchtums ein „drittes Zeitalter“ angebrochen, das Reich des Geistes, das alte Regeln und Grenzen hinter sich lässt, durch nichts aufzuhalten ist und eine ins Hier und Heute gezogene Erlösung gewährt. Viele maßgebliche Programmschriften über die Chancen der informationstechnischen Kulturrevolution beziehen sich auf dieses Denkmuster.61 Unter welchen komplexen Voraussetzungen das geschieht, kann besonders gut an der cyberianischen Neufassung des Eröffnungsgedankens der biblischen Tradition zur Geltung gebracht werden: am theologischen Theorem der Schöpfung.

Der Schöpfungsgedanke – so poetisch er auf den ersten Seiten der Bibel und in einigen Psalmen begegnen mag62 – ist ja systematisch gesehen ein relativ spätes Krisenprodukt, nämlich die Reaktion auf die Katastrophe des babylonischen Exils. Israel hatte Land und Zukunft verspielt und kann an seinem Gottvertrauen in der Fremde nur noch dadurch festhalten, dass es diesen Gott souveräner als alles andere denkt, als einen, der auch noch die mächtigen Gegner in seinen Händen hält und zu seinem Werkzeug macht. Das ist dann gewährleistet, wenn er über schlichtweg alles gebietet, vom Sandkorn bis zu den Gestirnen hinauf.

Der Schöpfungsgedanke entwächst einer „offensive[n] Über-bietungstheologie“63 – und das ist insofern von höchster Brisanz, als schon innerbiblisch und dann erst recht in der theologischen Tradition dem Menschen eine Mitbeteiligung an Gottes Schöpfungshandeln zugeschrieben wird. Besonders markant geschieht dies etwa durch Nikolaus von Kues (1401–1464), wenn er den im Mittelalter Gott allein vorbehaltenen Titel „creator“ in der Zusammenstellung von „creator artium“ (Schöpfer der Künste) auch dem Menschen zuschreibt oder die Seele „notionalium creatrix“ (Schöpferin der Gedankendinge) nennt und schließlich vom Menschen als einem „secundus Deus“ sprechen kann, um seine schöpferische Berufung zum Ausdruck zu bringen.64 Und Pico della Mirandola (1463–1494) – eine Generation später – sieht die Würde des Menschen gerade darin begründet, dass Gott ihn nicht wie alles andere fertig schafft, sondern unterbestimmt ins Dasein setzt, damit er selbst sich in Freiheit zu seiner Vollgestalt – sei es nach unten, sei es nach oben – fortbestimme.65

Dieser Titel – mittellateinischer Provenienz – ist seit Anbeginn selbst theologisch und liturgisch hoch aufgeladen: Es gibt Zeugnisse, nach denen in der Epoche der Gegenreformation im Streit um die Verehrung von Gnadenbildern die Präsenz Christi im eucharistischen Brot als „realiter“, die Gegenwart etwa der Gottesmutter in einem Gnadenbild als „in virtute“ bezeichnet wurde. Heute bezeichnet er dabei so etwas wie eine „quasi göttliche Macht, die Welt zu konstruieren“, die sich aus der dezidiert angestrebten Entdifferenzierung von Schein und Sein, Wirklichkeit und Fiktion speist.

Jedenfalls ist der Gedanke, dass an der erfahrenen Welt noch etwas zu machen, ja zu verbessern sei, theologisch nichts Fremdes. Dafür steht innerbiblisch bereits ja drastisch die Sintflutgeschichte. Und im 2., 3. nachchristlichen Jahrhundert meldet der Gedanke sich radikal und gebieterisch, die frühe kirchliche Überlieferung bedrängend, in den Bewegungen der Gnosis, für deren Mehrheit das Schöpfungswerk solcher Pfusch ist, dass man es einem anderen Gott als dem des Evangeliums anlasten müsse, und Letzterem komme die Aufgabe zu, da grundlegend nachzubessern.66 Eben dies aber ist ein Motiv, das sozusagen eins zu eins in die Cyberphilosophy eingeht.67 Einschlägige Konzeptionen übersetzen diese komplexe Schöpfungsmotivik zumeist sehr direkt in Optionen, die sie durch die Dimension der Virtualität eröffnet sehen.

Dieser Titel – mittellateinischer Provenienz68 – ist seit Anbeginn selbst theologisch und liturgisch hoch aufgeladen: Es gibt Zeugnisse, nach denen in der Epoche der Gegenreformation im Streit um die Verehrung von Gnadenbildern die Präsenz Christi im eucharistischen Brot als „realiter“, die Gegenwart etwa der Gottesmutter in einem Gnadenbild als „in virtute“ bezeichnet wurde.69 Heute bezeichnet er dabei so etwas wie eine „quasi göttliche Macht, die Welt zu konstruieren“70, die sich aus der dezidiert angestrebten Entdifferenzierung von Schein und Sein, Wirklichkeit und Fiktion speist.71 Diese Denkfigur, in durch nichts begrenzter Freiheit zu wissen, zu tun und zu sein, was immer sich der Geist vorstellen kann, hat dabei nicht nur ein Vorausbild in dem mittelalterlichen Theologumenon, dass Gott dadurch etwas erschaffe, dass er es erkenne. Weit dahinter zurück beziehen sich einschlägige Cyber-Autoren und -Kritiker höchst komplex auf diejenige biblische Erzähltradition, mit der die sogenannte Urgeschichte im Buch Genesis endet und die bereits innerbiblisch und dann in der theologischen Tradition exzessiv mit dem medialen Spitzenereignis des Neuen Testaments verknüpft ist. Es geht um den Weg von Babel nach Pfingsten.

Die Erzählung des Turmbaus von Babel bildet das so furiose wie desaströse Finale der ersten zwölf Kapitel der Bibel, die allem anderen, was noch kommt, vorgeschaltet sind: Anhebend mit der Erzählung vom Sündenfall in Genesis 3 kommt eine regelrechte Lawine des Unheils und des Bösen in Gang, von Kains Brudermord und den Gewaltexzessen in den nachfolgenden Generationen, die auch das Ritardando der Sintflut nicht aus der Welt zu schaffen vermag, bis hin zu jenem Entschluss der Menschheit, sich durch die Errichtung eines himmelragenden Bauwerks einen Namen – und also sich selbst zu etwas – zu machen. In der biblischen Tradition veranlasst die menschliche Selbstermächtigung zu gottgleichem Ineinsfall von Ersinnen und Ausführen den Schöpfer, die Sprache der Menschen zu verwirren (vgl. Genesis 11,7–9). Das cybertheoretische Selbstverständnis geht im Windschatten einer viel längeren okzidentalen Traumtradition vollkommener Kommunikation in die genau entgegengesetzte Richtung: Der babylonischen „Infokalypse“72 im Sinn einer Explosion von Sprachen und Informationssystemen in eine reziproke Unbegreifbarkeit soll – wenigstens der Intention nach – mit dem Gegenprojekt widerstanden werden, durch die Verknüpfung aller mit allen und die Verbreitung eines für alle verständlichen Codes, der mehr mit Icons als mit Wörtern arbeitet, alle Kommunikationsbarrieren aufzuheben und so linguistisch gesehen in einen präbabylonischen, also adamitischen Status zurückzufinden.

Nicht wenigen Cybertheoretikern ist dabei klar, dass sie auch mit einer solchen Revision Babels nochmals ein jüdisch-christliches Grundmotiv aufnehmen. Schon Theologen in der Frühzeit der Kirche hatten vom Buch Genesis einen kühnen Bogen in die neutestamentliche Apostelgeschichte geschlagen und das dort erzählte Pfingstereignis als Anti-Typos – d. h. als Aufhebung und Heilung – des Kommunikationsdesasters von Babel gelesen. Genau diese Hoffnung, dass die ganze Menschheit einmal durch die elektronischen Medien verbunden werde und damit soziale Brüche und Spezialwissen (das immer auch Herrschaftswissen ist) verschwänden und letztendlich eine Himmlische Stadt, ein neues Jerusalem heraufziehe, hat schon der gern als Medienpapst titulierte Marshall McLuhan formuliert.73

„Der Glaube an ein solches Pfingstfest der Vereinigung der Menschheit durch das Wegfallen aller Trennungen, in der Romantik noch von einer neuen Religion oder Mythologie, danach als Folge der gesellschaftlichen Revolution und der Auflösung des Eigentums an Produktionsmitteln erwartet, stellt sich für die Cyberkultur, kämpft man nur gegen etwaige staatliche oder kommerzielle Beeinflussungen, durch die Technik des anarchistischen, dezentralen Netzes von selbst her.“74

Allerdings ist mit dieser politischen Dimension die telematisch fundierte Technotheologie noch nicht ausgeschöpft. Sie hat nämlich so etwas wie eine kosmotheologisch-naturphilosophische Kehrseite höchster Brisanz. Die wird am direktesten darin greifbar, dass die Symbolik des Neuen Jerusalems – das ist ja eine Orts-Kategorie – zugleich als erstrangige Bedeutungsquelle für das wohl zentralste, in jedem Fall populärste Bild der Telematik fungiert: den Cyberspace. Ohne die explosive Mythologie75 dieses Konzepts an dieser Stelle auch nur im Elementaren ausloten zu können, soll nachfolgend lediglich der wohl frappierendste Zug von Technospiritualität am Cyberspace-Konzept beleuchtet werden, der die gesuchte naturphilosophische Dimension der Telematik grundlegt.

Eine bündige Definition von „Cyberspace“, die konsensfähig wäre, gibt es nicht mehr (wenn es sie je gegeben hat). Jedoch kann man sagen, dass zur Cyberspace-Idee auch Profilzüge gehören, die aus einer Verknüpfung von Theologie und Evolutionstheorie hervorgehen. Dafür steht wie kein anderer der katholische Theologe und Paläontologe Teilhard de Chardin (1881–1955), der – kirchenamtlich argwöhnisch beäugt – gegen die Mitte des 20. Jahrhunderts mit seiner naturwissenschaftlich-philosophisch-theologischen Hypothese von der Noosphäre, einer immer intensiver werdenden, den Globus umspannenden Vernetzung menschlicher Intelligenz, Furore machte und zu einer Art Kultautor der Cyberszene avancierte – in diese übrigens eingeführt von dem bereits erwähnten Marshall McLuhan.76 Diese Zusammenführung von Natur-, Bewusstseins- und Technikgeschichte setzt weder philosophiehistorisch noch naturwissenschaftlich im luftleeren Raum an.77 Zum einen steht für Teilhard Blaise Pascal (1623–1662) mit der Idee eines medial (nämlich durch das Buch) getragenen Fortschritts der universalen Menschheit Pate. Und Ähnliches gilt für Auguste Comte (1798–1857) mit seiner Idee von der ganzen Menschheit als eines auf seine empirischen Gesetzmäßigkeiten hin analysierbaren realen Organismus. Auf naturwissenschaftlicher Seite konzipiert Teilhard einen Evolutionsgedanken, der einen Übergang zwischen Natur und Technik einbegreift, sofern die Entdeckung der elektromagnetischen Wellen ein biologisches Ereignis sei, das „[…] von nun an jedes Individuum (aktiv und passiv) auf allen Meeren und Kontinenten gleichzeitig gegenwärtig […]“78 sein lasse. Sofern das einen Prozess zunehmender Vergeistigung darstelle, führe er zu einer Purifikation des Geistes und erlaube über den instrumentellen Einsatz des Computers (an den Teilhard selbst wohl bereits dachte) eine Evolutionsplanung und -steuerung in Absicht einer „Auto-Cerebralisation der Menschheit“.79

Mit diesem Selbstverständnis der Cyberphilosophy geht eine geradezu naturwüchsige Form von Religionskritik, namentlich einer solchen des Christentums, einher, sofern diesem im Blick auf seine Solidarität gerade mit den Schwachen vorgeworfen wird, den technisch-kulturellen Fortschritt zu behindern. Dem entgegen gehe es vielmehr darum, die fehleranfällige „wetware“ (Feuchtausstattung/„Wassersack“) der menschlichen Leiblichkeit so weit wie irgend möglich auszuschalten und den zum ­Signum des 20. Jahrhunderts gewordenen „Sturz der Materie“ – so im berühmten „Cyber-Manifesto“ – konsequent fortzusetzen.

Genau in den damit von Teilhard eröffneten Raum einer Überschreitbarkeit des Biologischen schießen im Gang der Cyberphilosophy ganze Bündel von Theoremen und Programmen ein, die darauf abzielen, den Menschen und seine intellektuellen Kapazitäten von biologischen Hemmschuhen zu befreien und damit neben dem politischen Reich der Freiheit auch die Befreiung von der Physis verheißen.80 Das sind all die Projekte, die an einer postbiologischen Menschheit laborieren, häufig wie mehr oder weniger gute Science Fiction auftreten – und sich trotzdem auf oft verblüffende Weise als Hintergrundannahmen wissenschaftlicher Projekte, politischer Initiativen und/oder philosophischer Optionen wiederfinden.81 Avancierte medizin- und nanotechnische Projekte am Mensch-Maschinen-Schnittpunkt verflechten sich dabei mit philosophischen Hintergrundannahmen, die sich gern an Friedrich Nietzsche inspirieren. In seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ steht ein Satz, der dafür als Motto dienen könnte:

„Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser grossen Fluth sein und lieber noch zum Thiere zurückgehn, als den Menschen überwinden?“82

Mit diesem Selbstverständnis der Cyberphilosophy geht eine geradezu naturwüchsige Form von Religionskritik, namentlich einer solchen des Christentums, einher, sofern diesem im Blick auf seine Solidarität gerade mit den Schwachen vorgeworfen wird, den technisch-kulturellen Fortschritt zu behindern. Dem entgegen gehe es vielmehr darum, die fehleranfällige „wetware“ (Feuchtausstattung/„Wassersack“) der menschlichen Leiblichkeit so weit wie irgend möglich auszuschalten und den zum Signum des 20. Jahrhunderts gewordenen „Sturz der Materie“ – so im berühmten „Cyber-Manifesto“83 – konsequent fortzusetzen. Die darin implizierte Revision des Christlichen bringt der Netzwelt-Vordenker John Perry Barlow auf den bündigen Nenner einer medialen Revision des Christentums:

„Heute wird das Fleisch so gewissermaßen Wort.“84

Wenn dem so ist, dann steht die Theologie an dieser Stelle vor der Aufgabe fälliger Grenzziehungen. Denn sie hat ein inkarnatorisches Zentrum, das auch im Raum der nach-jesuanischen Christus-Verkündigung durch die Materialität der Sakramente gegenwärtig bleibt. Vielleicht darf man sagen: Der heiße Kern der christlichen Gottesoffenbarung ist das Fleisch – und eben hier verläuft die Konfliktlinie zwischen christlicher Botschaft und dem quasireligiösen Anspruch der neuen Medienwelt. Das wache Bewusstsein für deren Eigenbotschaft und ihre eigene religiöse Aura gehört darum unverzichtbar zu einem kompetenten Umgang mit ihr.

Literatur

Müller, Klaus: Wechsel und Verkettung. Medienphilosophische Grenzziehungen in Sachen Liturgie. In: Winter, Stephan (Hg.): „Das sei euer vernünftiger Gottesdienst“ (Röm 12,1). Liturgiewissenschaft und Philosophie im Dialog. Regensburg 2006. S. 264–280.

Ders.: Glauben – Fragen – Denken. Bd. 2: Weisen der Weltbeziehung. Münster 2008. Teil A, Kap. 4. S. 211–259.


59 Vgl. Jochum, Uwe: Kritik der neuen Medien. Ein eschatologischer Essay. München 2003, S. 48.

60 Vgl. Davis, Erik: Techgnosis. Myth, Magic + Mysticism in the Age of Information. New York 1998, S. 256–258. – Stahl, William A.: God and the Chip. Religion and the Culture of technology. Waterloo 1999, S. 3. ed 2001. (Editions SR; 24), S. 43–48.

61 Vgl. etwa Masusa, Yoneji: The Information Society. Washington 1980. – Feigenbaum, Edward / McCorduck, Pamela: The Fifth Generation. Reading, Mass. 1983. – Drexler, K. Erik: Engines of Creation. Garden City 1986. – Moravec, Hans: Mind Children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Hamburg 1990. – Negroponte, Nicholas: Being digital. New York 1995. – Ogden, Frank: Navigating in Cyberspace. A Guide to the Next Millennium. Toronto 1995. – Kurzweil, Raymond: Homo s@piens. Köln 32000.

62 Vgl. Genesis 1,1 – 2,25. – Psalm 8, S. 148.

63 Sloterdijk, Peter / Jüngel, Eberhard: Disput über die Schöpfung. In: Jahrbuch 2001. Verein Ausstellungshaus für christliche Kunst. München 2001, S. 23–37. Hier S. 28.

64 Vgl. dazu Velthoven, Theo van: Gottesschau und menschliche Kreativität. Studien zur Erkenntnislehre des Nikolaus von Kues. Leiden 1977, S. 98–99.

65 Vgl. Pico della Mirandola, Giovanni: De hominis dignitate: Über die Würde des Menschen. Übers. von Norbert Baumgarten. Hg. u. eingel. von August Beck. Hamburg 1990, S. 5–7.

66 Vgl. Davis: Techgnosis (Anm. 2), 76–101. Sloterdijk / Jüngel: Disput (Anm. 5), S. 25–26.

67 Vgl. dazu Müller, Klaus: Die Religion des Homo Cyber. In: Sorgo, Gabriele (Hg.): Askese und Konsum. Wien 2002, S. 246–264. Hier S. 258–264.

68 Vgl. Roth, Peter: Virtualis als Sprachschöpfung mittelalterlicher Theologen. In: Roth, Peter / Schreiber, Stefan / Siemons, Stefan (Hgg.): Die Anwesenheit des Abwesenden. Theologische Annäherungen an Begriff und Phänomene von Virtualität. Augsburg 2000. S. 33–41.

69 Vgl. dazu Henkel, Georg: Rhetorik und Inszenierung des Heiligen. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zu barocken Gnadenbildern in Predigt und Festkultur des 18. Jahrhunderts. Weimar 2004. Hier S. 84–96. bes. S. 91–94.

70 Barloewen, Constantin v.: Der Mensch im Cybersp@ce. Vom Verlust der Metaphysik und dem Aufbruch in den virtuellen Raum. München 1998, S. 84.

71 Vgl. Münker, Stefan: Was heißt eigentlich: „Virtuelle Realität“? Ein philosophischer Kommentar zum neuesten Versuch der Verdoppelung der Welt. In: Münker, Stefan / Roesler, Alexander (Hgg.): Mythos Internet. Frankfurt a. M. 1997, S. 108–127.

72 Stephenson, Neal: Snow Crash. Roman. Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber (Original 1992). Tb.-Ausg. München 1995, S. 85. – Vgl. dazu auch Davis: Techgnosis (Anm. 2). S. 253–288.

73 Vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. „Understanding Media“. Dresden / Basel 1995, S. 15–19.

74 Rötzer, Florian: Cyberspace als Heilserwartung? Über das globale Gehirn oder den virtuellen Leviathan. In: Bolz, Norbert / Reijen, Willem van (Hgg.): Heilsversprechen. München 1998, S. 159–175. Hier S. 165.

75 Vgl. Davis: Techgnosis (Anm. 2), S. 195.

76 Zu Teilhard und seiner Wirkungsgeschichte in der Cyberphilosophy vgl. auch Davis: Techgnosis (Anm. 2), S. 289–318.

77 Vgl. zum Folgenden Jochum: Kritik (Anm. 1), S. 92–99.

78 Teilhard de Chardin, Pierre: Der Mensch im Kosmos. München 1959, S. 232.

79 Teilhard de Chardin, Pierre: Die Entstehung des Menschen. München 31963, S. 118.

80 Vgl. Jochum: Kritik (Anm. 1), S. 104.

81 Die fortgeschrittenste dieser Optionen verfolgt die sich selbst so bezeichnende Extropy-Gemeinschaft. – Vgl. dazu www.extropy.com. – Davis: Techgnosis (Anm. 2). S. 117–128.

82 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 4. Berlin / New York 1988, S. 14.

83 Erstveröffentlichung am 22.8.1994 durch die Progress and Freedom Foundation. Das Manifest stammt von A. Tofler, A. Keyworth und G. Gilder. – Deutsch in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 198. 16.8.1995. 30. – Vgl. dazu auch Jochum: Kritik (Anm. 1), S. 45–47.

84 Zit. nach Freyermuth, Gundolf S.: Cyberland. Eine Führung durch den High-tech-Untergrund. Berlin 1996, S. 134. – Vgl. dazu auch Müller, Klaus: Das 21. Jahrhundert hat längst begonnen. Philosophisch-theologische Beobachtungen zur Cyberkultur. In: Ebertz, Michael N. / Zwick, Reinhold (Hgg.): Jüngste Tage. Die Gegenwart der Apokalyptik. Freiburg / Basel / Wien 1999, S. 379–401. Hier S. 397–401. – Müller: Homo Cyber (Anm. 9). S. 257–264.

Katholisches Medienhandbuch

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