Читать книгу Macht und Wort - Alexa Rudolph, Angela Steinmüller - Страница 22
Zwei Jahre später.
ОглавлениеBo knöpfte das schwarze Hemd zu und betrachtete sein Spiegelbild, im Hintergrund sah er die junge Frau auf dem Bett, die ihn mit großen Augen ansah. Bo wandte den Blick ab. Er verließ sie, ohne ein Wort. Das Auto wartete vor der Tür, er ließ es stehen und ging zu Fuß, der Wagen folgte ihm geräuschlos.
Seine Karriere war steil nach oben gegangen. Nach nur wenigen Monaten hatte er den Sprung in die obere Liga geschafft. Inzwischen war er der Oberste der Machtvollen, gewählt von den Untergebenen, die seine Konsequenz und seine scharfen Worte feierten. Im Laufe der letzten zwei Jahre hatte er viele Menschen auf die Treppe und in die Fabriken geschickt. Seine Worte waren Gesetz. Warum fühlte er sich in letzter Zeit machtlos? Er hatte alles erreicht, was er sich je gewünscht hatte. Nur Glück spürte er nicht.
Eine Stimme flüsterte in seinem Kopf, die rebellische Stimme aus vergangenen Tagen. Er verbannte sie. Sprechen war mit den Machtvollen nicht erlaubt.
Er ging durch die Straßen, vorbei an Untergebenen, die einen Bogen um ihn schlugen. Keine Stimmen, kein Flüstern, nur die Schritte von leisen Sohlen über Asphalt.
Sein Spaziergang führte ihn zum Wald, das Auto parkte und wartete auf Bos Rückkehr. Erste Knospen zeigten sich an den Bäumen, die Luft roch nach Harz und Moos. Er wählte einen Weg, den er zuletzt in seiner Kindheit eingeschlagen hatte, um all die wunderbaren Wörter aufzusagen und Geschichten zu schreiben. Was damals ein Verbrechen gewesen war und ihm Schläge eingebracht hatte, war heute für ihn die normalste Sache der Welt. Mit dem Unterschied, dass ihm die Freude an der Sprache vergangen war. Der Eingang der Bärenhöhle lag versteckt hinter einem Gebüsch.
Er bückte sich, um die Höhle zu betreten. Innen konnte er aufrecht stehen, stieß sich aber zweimal den Kopf. In seiner Erinnerung war die Höhle höher und größer. Hinter der nächsten Ecke lag der Platz, an dem er selbstausgesprochene Worte jungfräulich in seinen Ohren vernommen hatte, nie so laut, dass sie von den Wänden zurückhallten.
Der Platz war besetzt.
Im Schein von zwei Taschenlampen, auf dem Stein, der auch Bo als Stuhl gedient hatte, saß ein Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt. In den Händen hielt sie ein Buch, Bos Geschichtensammlung, die er zurückgelassen hatte, nachdem ein Erzieher ihn aus der Höhle gezogen und bestraft hatte. Sie las laut. Ihre Stimme zitterte leicht, klang hell und klar.
Es war einmal ein junger Mann, der in einem Land lebte, ähnlich dem unseren. Es war das Land der Dichter und Denker, der Schriftsteller und Redner.