Читать книгу Macht und Wort - Alexa Rudolph, Angela Steinmüller - Страница 31
SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 09. Mai 2041. 10:27 Uhr
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Unverändert kein Update. Eine beängstigende Sicherheit macht sich in mir breit: Mein System wird nicht mehr unterstützt. Kann das sein? Das bedeutet, dass die Formulierungskomponente nicht auf dem neuesten Stand ist und das dauerhaft. Die Wortwahl unter Scissors 2.0, also den verbindlichen Vorgaben des CSC, des Center for Speech Control, wird in Echtzeit kontrolliert und bereits bei der Formulierung kritisiert.
Als unerwünscht erfasste Begriffe werden vom mLector, einem überaus komplexen Sprechalgorithmus, vor der Artikulation ausgebremst. Das funktioniert über eine neuronale Kopplung des CSC-Links zum Index im Gyrus temporalis medius. Im Sprechzentrum bauen Nanomaschinen eine Schnittstelle auf. Ich versuche, mir die Einzelheiten ins Gedächtnis zu rufen. Scissors 2.0 läuft bereits seit über zwanzig Jahren. Viele der Funktionen und Algorithmen habe ich vergessen. Die AGBs allemal. Ich frage mich, ob sie überhaupt jemand jemals durchgelesen und verstanden hat.
Meine Unzulänglichkeit hat dazu geführt, dass ich mich mehr mit dem System beschäftigt habe als jemals zuvor in meinem Leben. Es war immer da und es hat immer funktioniert
Das Problem ist, dass der mLector die Begriffe kommentiert, gleichgültig, ob ich rede oder nicht. Ich bin zunehmend unsicher und vermeide es, zu sprechen. Keine Speechcoms, keine direkten Anrufe. Ich beschränke mich auf schriftliche Kommunikation – wobei ich die Texte zum einen deutlich kürzer halte als sonst und sie zweitens etliche Male kontrolliere. Noch stärker lassen sich die Sätze nicht reduzieren, sonst lande ich bei ein oder zwei Worten. Als ob sich damit etwas Wesentliches sagen ließe. Es fühlt sich an, wie ein immaterieller Maulkorb; unangenehmerweise bin ich bei dieser Metapher der bissige Hund. So fühle ich mich ganz und gar nicht. Ich bin verängstigt und unsicher. Also spreche ich immer weniger.
Eine Mute-Taste fürs Denken; es schadet dem Selbstbewusstsein unglaublich.
Ich stehe im Hausflur und schaue mich um. Auch das ist auffällig: Ich habe das unangenehme Gefühl, dass mich alle anderen beobachten. Bizarrerweise sogar dann, wenn niemand zugegen ist.
Manchmal stelle ich mich in die geöffnete Tür, wenn jemand nach Hause kommt. Viele Bewohner haben den eigenartig fischigen Blick. Es fällt mir erst jetzt auf, dass beinahe alle deutlich jünger sind als ich. Es ist unangenehm, so angeschaut zu werden. Das war es immer, aber erst jetzt beginne ich, darauf zu achten.
Ich versuche mich damit zu beruhigen, dass ich mir selbst eine Paranoia attestiere. Netter Einfall! Funktioniert dummerweise nicht.
Derart isoliert zu sein ist bedrohlich. Ich schwitze häufig ohne Grund und dann rast mein Herz, wie nach einem Lauf. Ich bin sehr lange nicht mehr gelaufen. Die Jahre fordern ihren Tribut. Körperlich könnte ich es wohl, aber mir fehlt die Energie.
Dieser Wohnblock hat jetzt etwas von einem Gefängnis; nach über zwanzig Jahren, die ich hier lebe. Es ist ein wenig, als bewege man sich in einer labyrinthartigen Ansammlung übermannshoher Monolithe. Zu groß, um darüber hinwegschauen zu können, kein erkennbarer Horizont. Und obwohl es nur einzelne Steine sind, die eng beieinanderstehen, ist man allein zwischen ihnen und verloren. Man nimmt sonst niemanden wahr, gleichgültig, wie viele sich noch durch diesen Irrgarten bewegen.
Die Vereinzelung, die daraus resultiert, macht mir zu schaffen.
Die Desorientierung nimmt zu. Essen muss ich trotz allem. Dass Einkaufen einmal zur Mutprobe werden könnte, hätte ich niemals vermutet. Es ist längst nicht mehr nur der toxische Straßenname. Mein Hals wird eng.
Dort draußen muss man sprechen …