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VOM SITZEN UNTERM HOLLERBUSCH von Christopher Ecker

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Aus Trotz, von der Schulleitung dazu verdonnert worden zu sein, die Rede zu halten, hatte ich vor, über das Thema »Heimweh« zu sprechen. Es war mir schleierhaft, wieso bei der sogenannten »Abiturentlassungsfeier« überhaupt ein Mitglied des »Lehrkörpers« sprechen musste. Ich jedenfalls wollte die Lehrerrede so halten (ernst, abwegig, düster), dass man mich nicht noch einmal dazu verdonnern würde. Heimweh hat man nicht nach einem Ort, überlegte ich beim Verlassen des Lehrerzimmers, sondern nach einem Zustand. Man sehnt sich, überlegte ich weiter und zupfte dabei an der Maske herum, so zu sein, wie man ehemals an einem gewissen Ort war. Erinnerungen spielen eine Rolle. Es geht um Kindheit. Es geht ums Reisen. Doch dann gibt es noch eine schwer greifbare Form des Heimwehs, die bei mir persönlich (aber das würde ich niemals öffentlich zugeben) durch Science-Fiction-Romane der fünfziger Jahre ausgelöst wird oder durch Science-Fiction-Filme der siebziger Jahre oder – wie kürzlich in der U-Bahn bei einer Klassenfahrt – durch ein bogenförmiges Stück rostigen Metalls mit runden Nieten, das an der gewölbten Wand eines düsteren Seitenschachtes angebracht war.

Mit einigen energischen Schritten durchmaß ich das Klassenzimmer, riss das Fenster auf, nahm die Maske ab, atmete tief ein und stopfte sie in die Gesäßtasche. Oberstufe. Ein besserer Kurs. »Wir wollen heute«, begann ich ohne Umschweife meine Standarddoppelstunde zur Sprachphilosophie, die ich so oft gehalten hatte, dass ich auf Autopilot schalten konnte, »über das Sprechen sprechen. Beim Sprechen oder beim Nachdenken über Sprache befinden wir uns in der paradoxen Situation, dass das Medium der Untersuchung identisch mit demjenigen ist, was es zu untersuchen gilt. Wir sprechen«, verdeutlichte ich den Gedanken und ließ meinen Blick über die Reihen schweifen, »mit Sprache über das Sprechen – und dass dies ein heikles Unterfangen ist«, ich lachte, »wird wohl jedem klar sein.«

Ich ließ einige Sekunden verstreichen und gab mich versöhnlich: »Aber wie sonst sollte man über Sprache sprechen als mit Sprache?« Nun dürfte jedem das Grundproblem klargeworden sein. Ich zog den Mantel aus, legte ihn über eine freie Bank und malte mit weißer Kreide ein kleines Haus an die Tafel: einstöckig, eintürig, einfenstrig, mit einem hexenhutförmigen Dach, auf das ich einen überdimensionierten Schornstein setzte, aus dem (einige lachten) eine absurde Menge Rauch in den Himmel von Tafelistan quoll. »Was ist das?«, fragte ich, indem ich die Kreide sinken ließ.

»Ein Haus!«, rief wie üblich einer der Übereifrigen.

»Nein«, sagte ich. »Das ist kein Haus.«

Es entstand die übliche Unruhe.

»Was ist das?«, fragte ich wieder und deutete mit der Kreide auf die Tafel.

Einige melden sich. Ich nahm Simon dran.

»Das ist«, sagte er, »das Bild eines Hauses.«

Einserschüler, dachte ich nicht zum ersten Mal, nickte ihm wohlwollend zu und fuhr fort: »Genau. Das ist das Abbild eines Hauses. Und damit niemand das Abbild eines Hauses, also ein gemaltes Haus für ein echtes Haus hält, setzen wir es lieber schleunigst in Anführungszeichen, damit keiner, der es nicht besser weiß, dort einzieht.« Höfliches oder – man weiß ja nie – unterwürfiges Gelächter im Auditorium. Eigentlich lachen sie immer, wenn man will, dass sie lachen. Dies ist das Fundament der Macht.

Ich ließ einige Sekunden verstreichen, setzte Anführungszeichen rechts und links des gemalten Hauses und schrieb daneben in Großbuchstaben und ebenfalls in Anführungszeichen: Haus. Nun wartete ich ab. Dieses Vorgehen nennen die Pädagogen, denen wir allesamt misstrauen sollten, »stummen Impuls«. Dieser glückt mal mehr, mal weniger. Diesmal passierte gar nichts. Auch das kann vorkommen. Gut, dass mich gerade niemand – und erst recht kein Pädagoge – bei meinem Tun beobachtete.

»Wir haben hier«, ich zeigte übertrieben auf das gemalte Haus, »das Bezeichnete und hier«, ich zeigte noch übertriebener (einige lachten) auf das Wort »Haus«, »das Bezeichnende. Doch wie, frage ich mich und euch, ist die Beziehung zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden?«

Mehrere Arme schnellten in die Höhe, doch da ich keine Lust auf blödsinnige Mutmaßungen hatte, die vom Thema wegführten, sagte ich rasch: »Das war eine rhetorische Frage, Freunde« und knipste erneut den Autopilot an, der mir – diesmal mit Ferdinand de Saussure in einer Lightversion – mit stetiger Regelmäßigkeit das Konto füllte.

»Statt ›Haus‹ hätte ich auch ›maison‹ schreiben können«, ich tat es, »oder ›house‹«, ich tat auch dies, »oder – wer ist Lateiner? – ›domus‹ oder ›casa‹«, ich schrieb auch diese Wörter an die Tafel, »und so weiter und so fort.« Ich nahm am Pult Platz, lehnte mich zurück, streckte die Beine aus, ballte die Hände in den Jackentaschen zu Fäusten. »Die Beziehung zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden ist also willkürlich. Außerdem ist die Beziehung zeitlicher Veränderung unterworfen. Früher war ›Dirne‹ ein junges Mädchen, heute ist das etwas, wo man sich – lassen wir das! Die Beziehung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem ist also erstens willkürlich, zweitens – schreibt ihr auch alle mit? – zeitlich veränderbar und sie ist drittens konventionell. Man einigt sich in einer Sprachgemeinschaft auf ein bestimmtes Wort für einen bestimmten Gegenstand. Wir könnten uns zum Beispiel jetzt darauf einigen, dass wir dieses Ding«, ich zeigte auf den Tafelständer – an dieser Stelle meiner Ausführungen ließ ich mir immer spontan ein Phantasiewort als Bezeichnung einfallen, das alle zum Lachen brachte, aber diesmal war es anders. Diesmal dachte ich mir kein Wort aus, sondern diesmal kam es mir jäh in den Sinn. Es tauchte ins Fassbare wie ein Unterseeboot aus sturmgepeitschter See, tauchte auf wie aus Tiefen, die selten befahren werden, tauchte auf und nahm gleichzeitig lautliche Gestalt an. »Dass wir dieses Ding«, wiederholte ich nun nicht mehr auf Autopilot, denn ich wurde gesteuert, war Marionette, Puppe, eine wehrlose Spielfigur, die man dazu zwang, das Wort auszusprechen, »›Krompribb‹ nennen wollen. Ich könnte also sagen: ›Robert, geh mal zum Krompribb!‹ oder ›Aus welchem Material ist denn der Krompribb?‹ oder ‹Mia, fass bitte mal den Krompribb an! Er beißt dich auch nicht.‹ Das alles wären sinnvolle Sätze, weil wir uns eben gemeinsam als Gruppe von Sprachverwendern darauf geeinigt haben, dass das«, ich zeigte auf den Tafelständer, »ein Krompribb ist.«

Krompribb? Ich war tief verstört und bekam einen Schweißausbruch.

Nach der Doppelstunde setzte ich wieder die Maske auf, ein blassblaues Modell aus der Apotheke, das ich abends in den Müll zu schmeißen pflegte, und ging zurück zum Lehrerzimmer. Viele Kollegen trugen Stoffmasken, die man nach Gebrauch waschen musste. Ich hingegen bevorzugte medizinische Wegwerfmasken, weil ich mich nicht mit der Seuche modisch gemein machen wollte, und noch war die Zeit für FFP2-Masken nicht gekommen. Krompripp. Mich irritierte sehr, dass mir dieses Wort bekannt vorkam, vertraut, obwohl ich hätte schwören können, es nie zuvor gehört oder gelesen zu haben. Außerdem unterschied sich das Wort grundsätzlich von den ulkigen Begriffen, die ich mir ansonsten ausdachte, um auf die Konventionalität symbolischer Zeichen aufmerksam zu machen. Denn zum einen war »Krompribb« nicht ernsthaft komisch und zum anderen schien es mir, was meinen Puls in die Höhe trieb, nicht ausgedacht zu sein, sondern war wie eine Botschaft, ein fernes Echo, in meinen Geist getreten. Als wollte es mir etwas sagen, mich zu etwas auffordern. Ganz so, als wäre der Umstand, dass dieses Wort nun wie eine Erscheinung, die trauernde Gläubige an einem Berghang heimsucht, in mein Leben getreten war, ein Rätsel, das gelöst werden musste, obwohl es vermutlich keine Lösung gab.

Im Lehrerzimmer konnte ich mich nicht an meinen Stammplatz setzen, da an dem Tisch mehrere Kollegen ohne Maske saßen und Kaffee tranken und aßen und lachten, als wäre die Seuche etwas, das nur die anderen erwischt. Ich tat daher so, als läse ich die Bekanntmachungen an der Pinnwand, fühlte mich dabei wie ein Fremdkörper, ein Außerirdischer, den es in eine feindselige Welt verschlagen hat, in der er sich tarnen muss, um nicht aufzufallen. Bald wurde mir langweilig und ich ging auf die Toilette.

Als ich ins Lehrerzimmer zurückkam, saß nur noch ein Kollege an meinem Tisch, einer der netteren, und ich nahm ihm gegenüber Platz und sortierte die Kopien, die ich mir für die nächsten Stunden bereitgelegt hatte.

»Krompripp!«, murmelte ich leise. »Sagt Ihnen das etwas? Krompripp?«

»Sollte es das?«, fragte Herr Mählen (Philosophie, Deutsch) und sah von dem Buch auf, in dem er mit einem Textmarker Scheußliches anrichtete.

»Ich weiß nicht«, gestand ich.

»Sagt mir nichts. Aber sagt Ihnen das etwas: Atomsemiotik?«

»Nein«, meinte ich kopfschüttelnd und er erhob sich freudig glucksend, setzte sein Visier auf, während er den Tisch umrundete, nahm – »Darf ich?« – viel zu eng neben mir Platz und wandte mir das Gesicht zu.

Die Plastikscheibe trennte uns, als ständen wir beide am Fenster, einer im und einer vorm Haus.

»Atomsemiotik«, begann er zu dozieren (wir Lehrer neigen mit den Jahren immer mehr zum Monologisieren und scheren uns einen Scheiß darum, ob andere das interessiert, was wir enervierend kleinschrittig abspulen). »Man versucht mit Hilfe von Zeichen zukünftige Generationen vor den Gefahren des gelagerten Atommülls zu warnen. Das ist keine leichte Übung. Erstens muss das Zeichen von zukünftigen Generationen als Zeichen verstanden werden. Und zweitens muss das Zeichen als Warnung verstanden werden.« Er griff über den Tisch, angelte ein Blatt Papier von seinem Platz. »Erst nach 100.000 Jahren, schreibt hier ein Robert Gast irgendwo, das habe ich gestern aus dem Internet ausgedruckt, sinkt die Aktivität der eingelagerten Brennstäbe unter den Wert von Natur-Uran, das man zumindest für kurze Zeit mit den Händen anfassen kann.« Er ließ das Blatt sinken und rief aus: »100.000 Jahre! Vor 30.000 Jahren ist der Neandertaler in Europa herumgestolpert. Vor circa 2.000 Jahren gab es Runenschrift, und die kann heutzutage kaum noch jemand lesen. Und Atommüll muss eine Million Jahre sicher abgeschlossen lagern! Schilder sind demnach als Warnung untauglich. Text an sich sowieso. Architektonisches Klimbim – Pyramiden, Tempel oder Stonehenge-ähnliche Monolithen – da vermuten unsere eifrigen Nachfahren dann einen Schatz und fangen sofort mit der Buddelei an.«

Herr Aurel (Religion, Kunst, Darstellendes Spiel) mischte sich in das Gespräch ein, als hätte er urplötzlich hinter uns Gestalt angenommen: »Bleiben nur die Mythen«, sagte er leise lachend in seiner unangenehm flüsternden Sprechweise. Er war hochgewachsen, dürr und seine Maske saß zu tief. Großporig und fettig glänzend ging seine Nasenspitze mondgleich über dem Horizont des heruntergezogenen Maskenrandes auf, denn er, der geborene Verschwörungstheoretiker, nahm die Bedrohung durch den Virus noch weniger ernst als die übrigen Trottel. Er war sowieso wunderlich. Einmal hatte ich vom Fenster eines Klassenzimmers aus beobachtet, wie er einen Baum am Rande des Schulhofs erst tätschelte, um danach begütigend auf ihn einzureden. »Nehmen wir Frau Holle«, dozierte nun auch er munter drauflos und wippte dabei in der Hüfte vor und zurück wie ein mechanisches Püppchen. »Besagte Madame kennen Sie natürlich aus dem Märchen der Grimmbrüder. Ein Mädchen fällt oder springt in einen Brunnen und erwacht in Frau Holles Welt. Vorbild ist, und das wussten vermutlich auch die Grimms nicht, eine germanische Erd- und Himmelsgöttin namens Hulda oder Perchta. Der Holunder«, er hob einen krummen, gichtigen Zeigefinger, »ist ihre Pflanze. Ja, der Holunderkult geht bis auf Muttergöttinnen der Jungsteinzeit zurück. Im Mythos heißt es, durch den Holunder habe man Zugang zum Reich der Frau Holle. Das findet sich auch im Kinderlied wieder.« Herr Mählen sah mich vielsagend durch die Scheibe an, als Herr Aurel nicht so leise sang, wie es angemessen gewesen wäre (wenn es denn überhaupt angemessen ist, unter Erwachsenen plötzlich ein Kinderlied anzustimmen): »Ringel, Ringel, Reihe, / sind der Kinder dreie / sitzen unterm Hollerbusch, / machen alle husch, husch, husch. Das dreifache ›husch‹ zeigt deutlich, dass man sich, wenn man an Frau Holle glaubte, verstecken musste. Vor wem? Natürlich vor den römischen und später den christlichen Besatzern. Außerdem wird in dem Lied von einem kultischen Tanz gesprochen, die Dreiheit wird erwähnt und selbstredend der Holunder. Wenn man über die Kluft der Zeit zukünftige Suchende darauf hinweisen will, wie man ins Reich der Frau Holle gelangen kann, hilft allein der Mythos. Und den transportiert man am besten durch drastische Geschichten oder die rhythmische Magie von Versen, die von Generation zu Generation tradiert werden, weil sie Kinder und Erwachsene gleichermaßen betören und scheinbar keine Bedeutung haben. Frau Holle, Brunnen, Holunder …«

»Aha«, sagte Herr Mählen matt.

»Sagt Ihnen das Wort ›Krompripp‹ etwas?«, fragte ich Herrn Aurel.

»Nein«, antwortete er eine Spur zu schnell und, wie ich meinte, etwas zu übereifrig, aber da gongte es, und die Pause war zu Ende.

Macht und Wort

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