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SCS-Abonnent 85.396.448, Eigenname Schlesinger, Rudolf. Protokoll 06. Mai 2041. 07:23 Uhr

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Es ist nicht vorüber. Ich fühlte es sofort, als ich aufwachte; eine Art Leere, die um sich greift.

Das Update! Die Aktualisierung des Compendiums ist ausgeblieben, deshalb gestaltet sich meine Kommunikation, mein Sprechen derart holprig. Ich bin nicht mehr up to date.

Es war ein Schock.

Plötzlich und ohne jede Vorwarnung ins Ungewisse gestoßen zu werden, damit hat niemand gerechnet – ich zuallerletzt. Ich gehe die Arbeit voller Unruhe an und sie verschwindet nicht.

Die beruflichen Gespräche sind zumeist unproblematisch. Ich verkneife mir jeden Kommentar, der über das Sachliche hinausgeht.

Die privaten Gespräche sind eine Katastrophe. Ich habe krampfhaft versucht, die Korrektiven umzusetzen. Sprache formt die Realität – davon ist jeder überzeugt, der guten Willens ist. Wie könnte es anders sein? Meine Unzulänglichkeit wurde mir mit jedem Satz schmerzlicher bewusst. Ohne aktuelles Compendium muss der mLector mit veralteten Sprachkorrektiven arbeiten. Bereits nach einem Tag sind die Diskrepanzen gewaltig. Das Compendium for Speech Control wird vom CSC ständig aktualisiert, damit jeder Abonnent die neuesten Korrektiven kennt und reibungslos und ohne Diskriminatoren sprechen kann. Das CSC ist eine spezielle Abteilung des Korrektivs, die Behörde, die aus dem im Jahre 2028 verstaatlichten Duden-Verlagskonglomerat hervorging.

Nun kann jeder Begriff ein Falschwort sein. Normalerweise geschieht die Aktualisierung einmal, in Notfällen zweimal am Tag. Etwa wenn das Korrektiv nicht nur Begriffe, sondern ganze Beziehungszusammenhänge als schädlich einstuft. Ich habe das zweimal erlebt: Das Chaos im Kopf war grandios. Jetzt sehne ich mich geradezu danach.

Zunächst glaubte ich an ein technisches Problem. Wenn Warteschleifen entstehen, habe ich ganz sicher keine Priorität. Das beweist schon meine Abonnentennummer. Ich bin einer von vielen … von sehr vielen. Technische Systeme können ausfallen, das ist eine Binsenweisheit. Dennoch: Diese Möglichkeit nimmt niemand ernst. Man verdrängt es.

Ich sollte mir keine Sorgen machen. Solche Dinge sind lästig, aber werden schnell behoben. Die Unsicherheit ist überschaubar und bringt einen selten in Schwierigkeiten. Das Center for Speech Control bietet für diesen Fall Rechtsschutz – bis zum nächsten Update.

Das Compendium muss selbstverständlich aktuell sein. Kein Mensch könnte all die Stolperstricke, die die Sprache bereithält, vermeiden. In Sprache stecken viele tausend Jahre überkommener Sprachbilder, Diskriminierungen und unakzeptabler Wertungen. Die neue Welt ist schöner ohne all das. Oder kam mir das nur so vor?

Wie auch immer: Der Ausfall ist eine Katastrophe.

Sprechisolation!

Und nun … bin ich abgeschnitten. Ganz einfache Dinge werden übergangslos sehr kompliziert und unberechenbar.

Ich hatte vor, einkaufen zu gehen. In der Vichy-Straße befindet sich ein Fairsell, mein bevorzugtes Lebensmittelzentrum. Seit Langem wird diskutiert, ob der Straßenname, der für das mit den Nazis kollaborierende Vichy-Regime steht, geändert werden muss. Eine Entscheidung ist bisher nicht gefallen, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Frankreich hat sich trotz diplomatischen Drucks geweigert, die Stadt komplett umzutaufen. Es hat Frankreich moralisch diskreditiert. Der Druck, kommunal zu reagieren, stieg danach. Der Streit bezieht sich nicht darauf, ob man den Namen ändert, sondern um die Neubenennung. Jeder Vorschlag wird auf Belastungen abgeklopft. Das Problem ist, dass die Historie an sich belastet ist, da sie unsere moralischen Standards nicht einmal annähernd erfüllt. Das Risiko, eine aktuelle Person als Namensgeber zu wählen, ist naturgemäß sehr groß, da zukünftiges Wohlverhalten nicht vorausgesetzt werden kann. Menschen können sehr schnell toxisch werden – und keineswegs nur Männer.

Normalerweise würde mir das Compendium bereits beim Denken des Straßennamens einen Hinweis geben, um Kontaktschuld vermeiden zu können. Ich wäre automatisch auf dem neuesten Stand. Alle offiziellen Stellen sind vernetzt, und das betrifft uns Sprachbürger gleichfalls.

Aber ich weiß nichts.

Nichts!

Die Gefahr ist nicht sehr groß, ich weiß, Benamungen der Umgebung haben ein geringes Belastungslevel. Was mich umtreibt, ist das Wissen, dass ich nicht gewarnt werden würde, sobald die Toxizität steigt. Das kann sehr schnell geschehen. Es ist Angst vor der Angst.

Ich entscheide mich, umzukehren und nach Hause zu gehen. Ein junger Kerl rempelt mich an. Aus leblosen Karpfenaugen mustert er mich, als könne er meine Unsicherheit fühlen. Junge Leute sehen seit Längerem so aus, warum auch immer. Vielleicht hat sich in den Köpfen zu viel Mikroplastik abgelagert? Ich habe es bisher immer ignoriert. Es kommt mir vor, als sei das nicht mein Entschluss gewesen. Wie komme ich nur auf eine solche Idee? Die Unruhe in mir wächst und wächst. Bald wird daraus eine handfeste Panik werden. Das ist momentan die einzige Sicherheit, die ich habe.

Der Himmel ist wolkenlos. Die Unendlichkeit dahinter macht mir Angst.

Macht und Wort

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