Читать книгу Macht und Wort - Alexa Rudolph, Angela Steinmüller - Страница 35
SCS-Abonnent 85.396.448 Protokoll 10. Mai 2041. 07:58 Uhr
Оглавление»He, Sie! Was fällt Ihnen ein?«
Die Frau zuckt zurück, als habe sie eine elektrische Leitung berührt. Es ist eng hier, im Feierabendverkehr ist die Magnetbahn komplett überfüllt. Seit den Tagen der Pandemie reagieren viele Menschen auf Nähe sehr extrem. Insofern ist der öffentliche Nahverkehr eine Art Kriegsgebiet. Ich zucke ebenfalls zurück. Eine instinktive, aber keine kluge Reaktion … eher ein Schuldeingeständnis. Ich vermute richtig.
»Nehmen Sie Ihre Griffel weg!«
Ich beiße mir auf die Lippen. Bereits das ist ein körpersprachlicher Fehler, ich weiß. Bloß nichts sagen. Auf keinen Fall.
Habe ich sie etwa berührt? Ich erinnere mich nicht daran, etwas gespürt zu haben, aber auf meine Einschätzung kommt es nicht an. Außerdem bin ich übermüdet, wie ich es nie zuvor war. Alles in mir ist in Alarmbereitschaft, ich fühle mich fiebrig. Es war ein Fehler, aus dem Haus zu gehen, das war mir bereits nach den ersten Minuten klar. Aber ich musste ja den Helden spielen.
Mit denen nimmt es üblicherweise ein böses Ende.
Die Frau starrt mich an, als sei ich ein Insekt. Natürlich stehe ich als weißer Mann bereits grundsätzlich unter Verdacht, aber daran hatte ich mich gewöhnt – zumindest ging ich bisher davon aus. Dazu kommt, dass ich nicht mehr jung bin. Ein Euphemismus.
Die fette Frau [Warnung! Keine Gewichtsdiskriminierung.] gluckst unangenehm und die ersten Leute um sie herum wenden ihre Blicke mir zu. Das Framing funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk. [Rassismuswarnung! Keine nationale Zuschreibung.]
Ohne Vorwarnung stehe ich unter Strom. Ich kenne die Reaktionsabläufe. Jeder tut das, heutzutage. Der Vorwurf wird als Faktum betrachtet. Die Panik in mir löst die letzten begrifflichen Hemmungen. Die Zicke ist auf Krawall gebürstet!
[Sexismuswarnung! Gruppenorientierte Feindseligkeit gegen Frauen. Wird eine Handlung/Äußerung als sexistisch empfunden, ist sie es per definitionem auch. Bereits die Infragestellung des Sachverhalts erfüllt ihn.]
Wenn der mLector derart ausführlich kommentiert, wird es unangenehm. Die Unschuldsvermutung ist längst still verstorben. Bisher fand ich das positiv. Am Zwinkern ihrer Augen sehe ich, dass sie etwas postet. Sie ist voll im Trend und über einen GawkPin in der Hornhaut vernetzt. Ihr Kopf wackelt empört hin und her. Wenn ich Glück habe, ist das gepostete Bild unscharf, obwohl die Autokorrekturen das üblicherweise verhindern.
»Kein gutes Zeichen …«, denke ich.
Wird ein solcher Vorwurf viral, hat man verloren. Die Schnelligkeit der Polyposts verhindert Nachdenken, Abwägen oder ähnlich fruchtlose Tätigkeiten. Die Sorgfalt ist nicht still verstorben, sie wurde mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Es reagiert das unmittelbare Gefühl. Nietzsche sagte einmal, dass sich die Reife eines Geistes an der Dauer der Verzögerung der Reaktion zeigt. Wann habe ich das gelesen?
[Anmerkung: Der Gedanke kann zu mentalem Extremismus führen. Nietzsche ist als toxische Quelle belastet und nicht zitierungsfähig. Streichen.]
Die Frau ist empört und scheint sich in ihren Zustand hineinzusteigern. Der dicke Kopf mit den Pausbacken ist puterrot. Sie wedelt wie verrückt mit den Händen. Sie schwitzt. Ich ebenfalls.
Immerhin kann ich die Gedanken noch selbst fassen. Der SC-2.0 unterdrückt lediglich die Äußerung und kommentiert. Würde ich all das aussprechen, was mir durch den Kopf geht, wäre ich verloren.
Wir fahren in die Station »Dittmanswiesen« ein. Ich sehe zu, dass ich den Waggon verlasse, ohne weiter aufzufallen. Das Gedränge der Menschenmenge hat ihre Vorteile.
Obwohl der Mai sehr warm ist, fühlt es sich kalt an, als ich nach draußen trete. Es ist, als gefrören die Schweißtropfen auf meiner Haut zu Eis. Ich bin ein Nervenbündel; sich selbst krampfhaft beruhigen zu wollen, klappt selbstverständlich nicht. Ich hatte das niemals nötig. Mein linkes Augenlid zuckt hektisch und es hört einfach nicht auf.