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1. Sonntägliche Stille im dunklen Buchenwald
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Die Zweige der Bäume bildeten ein Dach, durch das die Sonne nur schwer hindurch kam. Höchstens, wenn der Wind die Äste einmal auseinanderbog, sah man die Sonne. Hundert und mehr Jahre mögen die Buchen wohl alt sein, oder auch nicht, wer weiß es? Es gab Bäume der verschiedensten Altersklassen. Die einen waren groß, die anderen weniger groß und die kleinen wollten noch groß werden. Ja, so ist das in einem Walde. Wenn die großen groß genug waren, dann fällte man sie. Die Waldarbeiter zersägten sie in Meterstücke und stapelten sie. Dann wurden sie verkauft und abgefahren. Diejenigen, die sie kauften, zerkleinerten die Stämme und heizten ihren Ofen damit, oder sie bereiteten das Essen zu. Das war der Lauf der Dinge. Natürlich fanden auch einige gut gewachsene und gesunde Stämme eine nützliche Verwendung, es wurden Gegenstände daraus gemacht. Dieses Holz lebte dann weiter, während das Brennholz verbrannte.
So hingen wir unseren Gedanken nach, als wir vom vielen Herumlaufen müde geworden uns jetzt im Grase ausgestreckt hatten. Alles hat einen Anfang und ein Ende.
Hier am Waldrand war eine Lichtung. Hier war der Boden mit Gras und Moos bewachsen und hier kam auch die Sonne durch, deshalb ruhten wir uns hier besonders gern aus. Von hier aus war der Weg zu unserem Elternhaus nur kurz. Hier am Rande des Waldes, zwischen einer kleinen Kiefernschonung und dem eigentlichen Wald schlängelte sich ein Bach entlang. Das Wasser war glasklar, man konnte es trinken. Ein schmaler Steg mit einem neu gezimmerten Brückengeländer führte hinüber. Nur über diesen Steg gelangte man in den Wald. Ein Überspringen war nicht möglich, dazu war der Bach zu breit. Es war weit und breit der einzige Steg und der Bach war lang.
Wir saßen nun auf dem Geländer und blickten in das träge dahinfließende Wasser. Zunächst waren wir stumm und beobachteten die kleinen Wellen und die darauf treibenden Blätter. Ob da wohl Fische drin sind? fragte ich. Na klar! sagte mein Bruder Paul, in jedem Bach sind Fische, aber wie groß sie sind und wo sie sich aufhalten, weiß ich nicht. Wir sahen uns an und ich tat so, als ob ich überrascht wäre. Ja, Otto, da staunst du, was? fragte er und lachte. Jedenfalls sind hier nicht weniger und nicht mehr Fische drin, als in den Bächen von gleicher Größe. Wir schauten angestrengt ins Wasser, als ob wir im nächsten Augenblick einen Fisch entdecken müssten.
Hier an dieser Stelle an diesem Steg trafen wir uns immer, wenn wir weiter nichts zu tun hatten und uns die Langeweile plagte. Das war immerhin an den Sonntagen oft der Fall. Es war eine kleine Abwechslung für uns beide. Zuerst liefen wir im Walde umher, als ob wir etwas erforschen wollten und wenn wir dann genug von der Lauferei hatten, kehrten wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. Von hier war der Weg zu unserem Elternhaus nicht weit. Wenn die Mutter rief, konnten wir es hören. Ein schmaler Pfad führte von dort zu diesem Steg.
Paul war drei Jahre älter als ich, er wusste mehr und an ihn wandte ich mich auch, wenn mir etwas unklar war. Wir waren noch fremd in der Gegend, denn erst vor wenigen Jahren war unsere Familie hierher gezogen. Wir kamen aus der Provinz Posen, wo wir 14 Jahre gelebt hatten, bis unser Vater endlich alles geregelt hatte und wir das nun endgültig polnisch gewordene Gebiet verlassen konnten. Es war ein schmerzlicher Abschied.
Nach Beendigung des Weltkrieges, nach dem Zusammenbruch und dem darauffolgenden Umsturz, trat die Polenfrage in den Vordergrund. Zunächst wurde eine Demarkationslinie geschaffen, die Deutschland bereit war, zu verteidigen. Polen erkannte diese Linie nicht an und stieß mit seinen Verbänden vor. Deutschland durfte sich zunächst verteidigen, jedoch ein Angriff auf polnisches Gebiet wurde ihm von den Siegermächten untersagt.
Die Polen stießen immer weiter vor und beanspruchten immer mehr Gebiete. Deutschland durfte sich nicht einmal mehr verteidigen. So kam es, dass die ganze Provinz Posen schließlich polnisch wurde. Wer unter den Polen nicht leben wollte, konnte auswandern. Immer mehr deutsche Bauern verkauften ihre Höfe an die Polen, die sie auch bezahlten.
Im August 1923 war es dann soweit, Vater wanderte mit der Familie aus. Zuvor hatte er hier eine Parzelle gekauft, wo wir uns niedergelassen hatten. Bis vor kurzem waren wir damit beschäftigt, einen neuen Bauernhof aufzubauen.
Der Ort, in dem wir wohnten, war eigentlich gar kein Ort, denn hier hatten sich zunächst nur sechs Siedler niedergelassen. Erst vor kurzem sind noch sechs Siedlerstellen dazugekommen. Wir wohnten alle sehr weit voneinander entfernt, jeder baute auf seinem Land. Straßen oder Wege gab es noch nicht, die wurden erst angelegt, als jeder wusste, wo er hingehörte. Die Domäne, zu der drei Dörfer gehörten und riesige Ländereien, musste 12 Parzellen zu je 12 Hektar zur Besiedlung abgeben.
Hier wohnten wir jetzt seit knapp drei Jahren. Der Hof war zum größten Teil aufgebaut, wir hatten ein Haus, einen Stall und eine Scheune. Noch sah es um den Hof herum sehr unaufgeräumt und kahl aus, denn zuerst wurden die Gebäude gebaut. Erst danach kamen die Gärten und alles andere, die Obstbäume und die Hecken. So hatten es alle Siedler gemacht und so taten wir es auch.
Unsere Familie war ja nicht klein. Jeder hatte tüchtig mitgeholfen, das neue Zuhause aufzubauen. Außerdem musste ja die täglich anfallende Arbeit auch gemacht werden und auf einem Bauernhof gab es genug zu tun. Wenn dann die Maurer kamen, mussten wir außerdem da sein, damit die Arbeit nicht ins Stocken geriet.
Wir, Paul und ich, saßen noch immer auf dem Geländer der kleinen Brücke und hatten uns über diese Selbstverständlichkeiten unterhalten, wobei wir auch über unsere Zukunft sprachen. Nun wird es aber Zeit, dass ich mir über meine Zukunft ernste Gedanken mache, sagte ich zu meinem Bruder. Gedanken mache ich mir schon lange, erwiderte er und lachte dabei. Aber dabei ist es bis jetzt geblieben. Wir sahen uns an und sahen auch im Moment keinen Ausweg aus diesem Wunschdenken. Einen Beruf wollten wir erlernen, das wussten wir.
Zu Hause ist ja die meiste Arbeit getan und wir werden nicht mehr gebraucht, das Bauen ist so gut wie beendet, so begann ich meine Ausführungen. Paul hörte interessiert zu. Den Hof kann nur einer bekommen und Vater denkt noch lange nicht daran, ihn abzugeben, denn er ist ja erst fünfzig. Ich bin im vorigen Jahr aus der Schule gekommen und seit einem Jahr arbeite ich zu Hause. Ich habe geholfen, wo ich konnte. An die Zukunft habe ich dabei noch nicht ernsthaft gedacht.
Das Elternhaus
Bisher haben wir ja auch alle unsere Arbeit gehabt, da gab es für solche Gedanken kaum Zeit, erwiderte Paul. Er hatte es viel nötiger als ich, denn er war bereits 18 Jahre alt. Hast du schon eine Idee, was du werden willst, fragte ich ganz unumwunden. Na klar, antwortete er frei heraus, für mich kommt nur der Beruf des Autoschlossers in Frage. Es fragt sich nur, ob ich eine Lehrstelle finde. Du hast es gut, erwiderte ich etwas neidvoll, du weißt wenigstens, was du werden willst. Ich weiß überhaupt nicht, wie ich mir meinen Beruf vorstellen soll. Bisher kenne ich nur den Beruf des Maurers, weil sie bei uns das Haus und die anderen Gebäude gebaut haben. Das möchte ich doch nicht ein ganzes Leben lang machen.
Ja, wir können wirklich froh sein, dass das Bauen endlich ein Ende hat, nun können wir uns in Ruhe eine Lehrstelle suchen, sagte Paul in aller Seelenruhe. Gewiss hat Vater recht, unterbrach ich ihn, wenn er sagt, er könne uns nicht alle ernähren, dazu ist unsere Familie zu groß und zum Hof gehören eben nur 48 Morgen Land. Paul hatte aufmerksam zugehört und bestätigte durch eifriges Kopfnicken meine Ausführungen. Paul war 18 Jahre alt geworden und für ihn war das Problem noch dringender als für mich. Ich war 15 Jahre alt und für mich war es gerade an der Zeit.
Und das war also unsere Familie:
Fritz, der Älteste, Jahrgang 1900, hatte das Elternhaus bereits verlassen. Er arbeitete in einer Ziegelei im Nachbarort. Er konnte keinen Beruf erlernen, wollte sicherlich auch nicht. In Posen wäre er wohl der Hoferbe gewesen, aber nun hatte sich sein Interesse daran wohl gewandelt.
Willi dachte sicherlich nicht daran, aus dem Haus zu gehen, denn er bearbeitete das Feld mit den beiden Pferden. Er hatte sich unentbehrlich gemacht und dachte sicherlich daran, den elterlichen Hof einmal zu übernehmen. Er war gerade einmal 22 Jahre alt.
Paul und ich, wir versorgten die Kühe. Im Sommer waren sie auf die Weide zu bringen. Sie wurden dort an lange Ketten angebunden und von Zeit zu Zeit musste ihr Standort verändert werden. Abends holten wir sie zurück in den Stall. Im Winter machten wir gemeinsam das Futter zurecht und machten all die andere Arbeit, die es gab. Gerade wir beide waren es, die sich Arbeit außer Haus suchen sollten. Uns konnte der Vater entbehren.
Helmut, der jüngste Sohn der Familie war jetzt elf Jahre alt, er ging zur Schule und tat es sicherlich gern. Er konnte die Arbeit mit den Kühen ganz gut machen, wenn Willi ihm dabei half.
Zwei Schwestern gehörten ebenfalls zur Familie. Luise, 24 Jahre alt. Sie war diejenige, die sich durchzusetzen verstand, sie beeinflusste sogar den Vater.
Wir anderen wagten es nicht, Vatern zu widersprechen. Was er befahl, wurde ohne Widerrede gemacht. Ein Tadel wurde ohne Widerspruch hingenommen.
Die jüngste Schwester, die Elfie, war 13 Jahre alt. Sie war einsam und ein wenig schüchtern, denn sie wuchs neben der großen Schwester auf, die alles für sie tat.
Außerhalb der Familie gab es bei den Siedlern keine Kinder, mit denen sie hätte spielen können. Die meisten der Siedler waren noch jung und hatten entweder noch keine Kinder, oder die Kinder waren noch sehr klein.
Erst seit kurzem hatte unser Ort auch einen Namen, bis dahin waren wir namenlos. Daran hatte Vater gewiss den größten Anteil. Er rief die Siedler zusammen, die sich dann bei uns trafen. Hier wurden alle möglichen Probleme besprochen, Steuerfragen oder finanzielle Probleme. Gerade weil die Siedler große finanzielle Probleme hatten, traf man sich. Sie hatten alle die Taschen voller Inflationsgeld, als sie hier eine Parzelle kauften. Inzwischen wurde aus einer Billion eine einzige Rentenmark. Das warf natürlich große Probleme auf, die gemeinsam besprochen werden mussten.
So kamen sie auch auf den Namen des neu geschaffenen Ortes zu sprechen, denn sie fühlten sich keineswegs als ein Teil der Domäne und schon gar nicht als ein Teil des Ortes, in dem die Domäne lag.
Ich habe sowieso oft in der Stadt zu tun und da wäre mir der Weg zu den Ämtern nicht zu weit, bot mein Vater an. Die anderen Siedler stimmten meinem Vater zu und waren froh, dass einer der Ihren die Sache in die Hand nahm. Vorschläge! sagte mein Vater und sah sich im Kreise um. Einige Namen wurden genannt, aber als es dann zur Abstimmung kam, hoben sich nur wenige Hände. Jeder hatte nur an seinen Vorschlag gedacht.
Wie wär‘s mit Lindenhof? fragte Vater. Überlegt es euch einmal und besprecht es untereinander. Ein Schmunzeln ging von Mann zu Mann, ein Lächeln. Dann kam die Abstimmung. Von den zwölf Siedlern stimmte jeder für Lindenhof. Vater wurde sofort beauftragt, die Laufereien zu übernehmen und alle waren gespannt, ob er wohl Erfolg damit hatte.
Vater hatte Erfolg. Schon nach einigen Monaten bekam jeder ein amtliches Schreiben, dass der Ort den Namen Lindenhof in Zukunft führen dürfe. Nun ging jeder Siedler daran, seinen Hof zu einem Lindenhof auszubauen. Jeder pflanzte mindestens zwei Linden vor sein Haus. So wurde aus jedem Hof ein Lindenhof.
Unser Hof lag besonders schön, denn zu unserem Hof gehörte ein Teich. Wir wohnten in der Mitte des neuen Ortes. Das ganze Grundstück, auf dem der Bauernhof aufgebaut war, war größer als ein Hektar. Eine Buchenhecke, in die wir alle 10 Meter eine Birke pflanzten, sollte als Einfriedung dienen. Heckenpflanzen und Birken gab es im nahegelegenen Wald und der Förster drückte schon mal ein Auge zu. Wichtig wie die Hecke waren natürlich Obstbäume und Beerensträucher. Wir dachten stets daran, wenn wir in die nähere Umgebung gingen. Wir fragten bei den Alteingesessenen, ob sie in ihren Gärten Nachwuchsbäume hätten, für die sie keine Verwendung hatten. Vater steckte sogar Apfelkerne in die Erde und es kamen nach einem Jahr kleine Pflanzen heraus, die sich bald zu kleinen Bäumchen entwickelten. Sie wurden dann gehegt und gepflegt.
Paul und ich, wir hatten einen entscheidenden Anteil daran, denn wir hatten einen kleinen Garten, indem wir dasselbe taten. Wir steckten auch Kirsch- und Pflaumenkerne in die Erde und züchteten Bäumchen. Um alles zu kaufen, dazu reichte das Geld nicht, das sahen wir ein und schön sollte es zu Hause aussehen, auch wenn wir das Elternhaus verlassen würden. Jeder von uns allen trug sein Bestes dazu bei, aus nichts etwas zu machen. Wir hatten unsere Freude daran, wenn wir sahen, wie die Bäumchen, die wir gepflanzt hatten, wuchsen und gediehen.
Das war also unser Hof und unsere Familie. Mit nichts hatten wir angefangen und nun hatten wir schon einen stattlichen Hof, auf dem die Gebäude standen, außerdem zwei Pferde, Kühe, Schafe, Schweine, einen Hund und auf dem Hof liefen Gänse, Enten und jede Menge Hühner herum.
Wir alle waren stolz darauf, was Vater geschaffen hatte, denn sein Werk war es, daran wagte keiner zu zweifeln. Er hatte den Plan und die Idee. Wir alle unterstützten ihn dabei und arbeiteten nach seiner Anweisung. Vater war unser uneingeschränktes Vorbild. Ihm wagte keiner zu widersprechen und es tat auch keiner.
Dies war ja nicht Vaters erster Anfang. Schon in der Provinz Posen hatte Vater vor 14 Jahren einen Bauernhof aufgebaut. Damals hatten wir 150 Morgen und waren einer der größten Höfe des Dorfes. Hier hatten die Höfe alle die gleiche Größe, nämlich 48 Morgen. Ja, in der Provinz Posen ging es uns gut. Da wohnten wir alle in einem schönen und großen Dorf, es herrschte Friede und Eintracht. Alle Bauern verstanden sich glänzend. Es wurden Feste gefeiert, an denen jeder teilnahm. Das Dorf lag unmittelbar an einer kleinen Stadt. Auch wir Kinder hatten Freunde, mit denen wir jeden Tag zusammen spielten. Ich denke mit Wehmut oft daran zurück und wir sprechen oft darüber und fragen uns, was wohl aus ihnen geworden sein mag. Wenn man sich daran erinnert, kann man sich kaum vorstellen, dass es hier einmal genau so gut werden kann. Gewiss, wir wohnen hier noch nicht lange und sind erst im Aufbau und nichts bleibt so, wie es im Augenblick ist. Deshalb bleibt uns nur die Hoffnung.
Wir beide, Paul und ich, standen ja gerade vor einem neuen Lebensabschnitt. Wir wollten unseren Weg ins Leben beginnen. Wir waren dazu berufen und wir wollten es wagen. So oder so. Noch war es unklar, wo er beginnen wird und wo er endet. Jedoch das Leben zeigt oft auf sonderbare Weise die Wege.
Wir hatten schon längst unseren Platz auf dem Brückengeländer geräumt und waren längst wieder zu Hause. Willi war gerade damit beschäftigt, den Wagen fertig zu machen, um ihn mit Getreide zu beladen, denn Vater wollte am nächsten Tag zur Stadt fahren, um es zur Genossenschaft zu bringen und gleichzeitig Kraftfutter zu kaufen. Ich ging sofort zu ihm, um ihm dabei zu helfen. Wir unterhielten uns dabei über die tägliche Arbeit. Willi sprach über die Frühjahrsbestellung, die schon in vollem Gange war, denn es war ja Ende März.
Die Felder waren bereits trocken und Willi hatte auch schon vorgearbeitet. Vater wollte noch künstlichen Dünger mitbringen, der für jede Art Aussaat erforderlich war. Ich war stolz auf meinen Bruder Willi, der alles so gut verstand und von dem ich mir manchen guten Rat geben ließ. Ich selbst nahm nur ungern die Leine in die Hand, denn ich war eben kein Bauer und wollte auch keiner werden. Ich half hier und da, eben wo ich gerade gebraucht wurde.
In unserer Nähe saß Terry, unser Hund. Er hatte wie immer einen Stein vor sich und wartete darauf, dass ihn einer von uns nahm und wegwarf, damit er ihn holen konnte. Plötzlich sprang er auf, fing an zu bellen und lief zum Tor. Wir riefen wie auf Kommando: Terry, sofort kommst du hierher! Terry hörte nicht auf zu bellen. Ich lief zum Tor und fasste ihn am Halsband. Das Tor wurde geöffnet und vor uns stand der Postbote. Kommen sie nur herein, Herr Sanders, ich halte den Hund schon fest. Nun erst wagte er sich auf den Hof. Er brachte, wie jeden Tag, die Zeitung und die Post. Erst als der Postbote den Hof wieder verlassen hatte, durfte ich den Hund auch loslassen.
Nun wollen wir den Wagen gleich abschmieren, sagte Willi, denn wer gut schmiert, der gut fährt. Wir lachten beide. Wer fährt denn morgen mit Vatern mit? fragte ich und war ein wenig neugierig. Na, Paul will doch mitfahren. Er denkt doch, er be-
kommt eine Lehrstelle bei Lewerenz als Autoschlosser. Ich war ein bisschen erstaunt, denn davon hatte er mir nichts gesagt. Willi lächelte ein wenig. Ach ja, Willi Rose hatte ihm dazu geraten, jetzt fiel es mir ein. Also morgen will er schon dorthin fahren und sich vorstellen? Willi nickte. Ich wünsche ihm jedenfalls Glück, sagte ich. Wir setzten unsere Arbeit fort und Willi machte es sehr gründlich, wie alles in seinem Leben.
Die Aussiedlung aus der Provinz Posen, von der mein Vater berichtet, war eine direkte Folge des verlorenen Weltkrieges, laut Versailler Vertrag musste das Deutsche Reich ohne Abstimmung nicht nur den polnischen „Korridor“ mit der Hauptstadt Posen (heute Poznan) an Polen abtreten, sondern auch Danzig und das Memelland, sowie Elsaß-Lothringen und seine Kolonien. Nach Volksabstimmungen Teile Oberschlesiens im Osten, Nord-Schleswig im Norden und Eupen- Malmedy im Westen. Der gesamte territoriale Verlust des Reiches belief sich auf mehr als 70000 km2 mit ungefähr 7,3 Millionen Einwohnern.
Die Provinz Posen bestand von 1815 - 1920 als Teil Preußens, ab 1871 als Teil des Deutschen Reiches. Nach dem Ersten Weltkrieg fiel die Provinz Posen, mit Ausnahme ihrer westlichen Kreise an den wieder entstandenen polnischen Staat zurück. Bereits am 27.12. 1918 brach unter Führung Panderewskis (späterer polnischer Ministerpräsident) der Posener Aufstand aus, der zu offenen Kampfhandlungen zwischen Deutschen und Polen führte. Am 16.2. 1919 kam es auf Druck der Alliierten zum Waffenstillstand und es wurde eine Demarkationslinie festgelegt. Zwischen 1920 und 1929 enteignete die polnische Regierung viele ortsansässige Deutsche oder sie mussten ihr Land zwangsveräußern.
Im Falle meines Vaters siedelte sich die Familie 1923 in Pommern an, ganz in der Nähe der Stadt Kolberg (heute Kolobrzeg). Die besondere Tragik liegt darin, dass sich der Großvater erst 14 Jahre vorher in der Provinz Posen als Neusiedler niedergelassen hatte. Offenbar als Folge der Bismarckschen Germanisierungspolitik, die den Anteil der Deutschen in der Provinz anheben wollte. 1890 wurde eigens dafür eine Preußische Ansiedlungskommission gegründet, die das Land von Polen aufkaufen sollte und es nur an auswärtige Deutsche zum Kauf zwecks Ansiedlung anbot.
1910 waren 2/3 der 2,1 Millionen Einwohner der preußischen Provinz Posen polnisch sprachig, nur 1/3 war deutschsprachig. Deutsche und Polen lebten friedlich nebeneinander. Sie ließen ihre Kinder in Berlin, Breslau oder Heidelberg studieren. Es existierten 2 Theater, das Deutsche und das Polnische, sowie zahlreiche
deutsche und polnische Kulturvereine. Die westlichen Grenzgebiete waren eher deutsch besiedelt. Kleine Gemeinden waren entweder rein deutsch oder rein polnisch besiedelt, wobei die Deutschen dem protestantischen Glauben anhingen, während die Polen Katholiken waren. Größere Städte neben Posen waren Bromberg, Schneidemühl, Gnesen, und Hohensalza.
Der Vertrag von Versailles enthielt nicht nur Gebietsverluste, sondern auch hohe Reparationszahlungen, die Besetzung deutscher Provinzen, wie des Saarlandes, sowie des linksrheinischen Gebiets und rechtsrheinischer Stützpunkte. Er setzte die Stärke des Heeres auf 100000 Mann und die der Marine auf 15000 Mann fest. Eine schwer wiegende Hypothek für die junge Republik bildete der sog. „Kriegsschuldartikel“, in dem das Deutsche Reich und seine Verbündeten eindeutig als Urheber des Krieges genannt wurden. Dieser Artikel provozierte in der deutschen Bevölkerung starke Empörung, war doch die überwältigende Mehrzahl der Deutschen 1914 in dem Bewußtsein in den Krieg gezogen, es handele sich um einen von den Feinden aufgezwungenen Verteidigungskrieg. Die sogenannte „Dolchstoßlegende“ gab die Schuld an der militärischen Niederlage des Deutschen Reiches vor allem der Sozialdemokratie und anderen demokratischen Politikern. Sie besagte, das deutsche Heer sei im Weltkrieg „im Felde unbesiegt“ geblieben und habe erst durch oppositionelle vaterlandslose Zivilisten aus der Heimat einen Dolchstoß von hinten erhalten. Diese Legende diente deutschnationalen, völkischen und anderen rechtsextremen Gruppen und Parteien zur Propaganda gegen die Ziele der Novemberrevolution, die Auflagen des Versailler Vertrages, die Linksparteien, die ersten Regierungskoalitionen der Weimarer Republik und die Weimarer Verfassung. Sie begünstigte wesentlich den Aufstieg der NSDAP.