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SǍO TÀ YǏ YÍNG4

SICH AUF EINEN GAST FREUEN

扫榻以迎

Abgesehen von seinem Wohnheim hat Peter noch kein chinesisches Haus von innen gesehen. Umso mehr freut er sich, den Kleinen Li besuchen zu dürfen. Dieser hatte angeboten, Peter abzuholen, doch dessen Ehrgeiz verbot diesen Luxus. Peter wollte ohne fremde Hilfe das Zuhause seines Freundes finden. Allein ein Taxi zu ergattern ist zwar schon gescheitert, die Wohnung zu finden sollte nun aber ein Klacks sein. Am Eingang des großen Wohnkomplexes hat ihn der Fahrer ja schon abgesetzt. Hinter einem runden Tor, an dem ein gelangweilter Chinese Peter aus einem kleinen Häuschen heraus interessiert betrachtet, befinden sich sechsstöckige Reihenhäuser mit mehreren Eingängen. Zwischen den Häusern parken Autos und Fahrräder, eine chinesische Oma geht mit ihrem Enkel in einem kleinen Garten mit einem großen Baum in der Mitte umher. (Übrigens: An vielen Wohnkomplexen sitzen Sicherheitsbeamte, die ein Auge darauf haben, wer ein- und ausgeht. Nur selten verlangen sie allerdings Ausweispapiere oder die Wohnungsnummer. Das kommt meist nur in teureren Residenzen vor.)

Stirnrunzelnd betrachtet Peter die Adresse, die der Kleine Li ihm gegeben hatte: 6-3-503. Hm, ziemlich viele Zahlen für eine Wohnung. Er schaut sich suchend um und findet eine Zahl, die er glücklicherweise schon gelernt hat: eine Eins auf Chinesisch, direkt über dem Eingang zum Treppenhaus. Erfreut macht Peter sich auf die Suche nach der Sechs, doch bei vier hört es auf. Beim zweiten Häuserblock gegenüber steht wieder eine Vier, diesmal läuft das Prinzip aber andersherum und, wen wundert es, hört bei der Eins wieder auf.

Verwirrt holt Peter den Zettel hervor. Die Oma hat den Ausländer schon längst entdeckt und kommt nun herüber.

ÜBRIGENS

Chinesen sind nicht nur neugierig, sondern auch sehr hilfsbereit. Es ist keine Besonderheit, dass jemand, vor allem ein Ausländer, der grübelnd herumsteht, von einem Chinesen Hilfe angeboten bekommt. Und da der Ausländer wahrscheinlich schon länger beobachtet wurde, weiß der Chinese, wann es Zeit wird, ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Höflich fragt Peter: »Wo finde ich diese Adresse?«

Statt zu antworten, greift sie einfach an seinen Ärmel und zieht ihn mit sich. (Wundern Sie sich nicht, wenn Sie jemanden zwar chinesisch anreden, dann aber eine gestikulierte Antwort erhalten. Zeigen ist einfacher als beschreiben, denkt sich so mancher Chinese. Die Gefahr, dass der Ausländer kein Wort versteht, ist natürlich immer gegeben.)

Am Ende des Häuserblocks zeigt sie auf ein Haus und schiebt Peter in diese Richtung. Brav trottet er los, ist aber immer noch unsicher. In der gezeigten Richtung stehen mindestens fünf Wohnblöcke.

Damit die alte Dame nicht ihr Gesicht verliert, wandert Peter zum nächsten Wohnblock. An der Seite steht ein Gebäude vertikal und dort entdeckt Peter im dritten Stock außen ein Schild mit der Adresse in Schriftzeichen und die Zahl drei. Jetzt bemerkt er auch an dem Haus neben ihm eine Zahl, die Zwei. Ah, denkt er, das sind also die Hausnummern – und er muss zu Haus sechs!

Dort angekommen kombiniert er rasch: Haus sechs, Eingang drei, Wohnung fünf Null drei.

Mutig betritt Peter Eingang drei. Leider gibt es keine Briefkästen mit Namen, es bleibt ihm nichts anderes übrig, als in den fünften Stock zu klettern. Das Treppenhaus ist dunkel und aus blankem Beton. Selbst die Wände scheinen nie gestrichen worden zu sein. Keine Bilder zieren sie, nur der eine oder andere Fleck nebst ein paar Beulen, die beim Möbeltragen entstanden sein müssen. In einigen Stockwerken liegen gestapelter Weißkohl und Lauch.

ÜBRIGENS

Saisongemüse ist sehr billig in China, da kaufen die Chinesen gerne größere Portionen. Und weil der Kühlschrank für 10 Kilo Kohl zu klein ist, lagern sie ihre Bestände im Treppenhaus. Dort ist es im Winter kalt, denn es gibt keine Heizung und viele Fenster sind undicht oder kaputt. Und offensichtlich sind die Nachbarn alle ehrlich und essen nur ihren eigenen Kohl.

Nach ein paar Stockwerken fällt ihm plötzlich auf, dass er eigentlich erst im dritten Stock sein müsste, an der Wand steht aber eine große, rot umrandete Vier. Nach einer weiteren Etage stehen als Wohnungsnummern 501, 502 und 503. Eigentlich kann es nicht stimmen, gespannt klopft er dennoch an die Tür 503 und hofft, dass der Kleine Li ihm öffnet. (Ich lüfte schon jetzt das Geheimnis: Peter ist im richtigen Stockwerk. Was wir als Erdgeschoss kennen, ist bei den Chinesen schon der erste Stock, yī lóu. Einen ›nullten‹ Stock gibt es ja schließlich nicht. Der Logik nach ist daher das Parterre die erste Etage. Da erscheint der fünfte Stock doch gar nicht mehr so hoch.)

Es ist aber eine Frau mittleren Alters, die die Tür aufmacht. An ihrem herzlichen Grinsen erkennt Peter, dass es die Mutter seines Freundes sein muss, Frau Li.

WARUM FRAU LI EIGENTLICH ZHANG HEISST

Wenn eine Chinesin heiratet, behält sie normalerweise ihren Nachnamen. Sie nimmt nicht, wie in Deutschland früher üblich, den Namen ihres Mannes an. Die Kinder des Paares bekommen in der Regel den Nachnamen des Vaters. Ein Grund von vielen, weshalb ein Großteil der Väter einen Sohn bevorzugt: Er führt den Familienklan fort. Seit 1995 ist es aber möglich, Kindern den Nachnamen der Mutter zu geben. Nach einer neuerlichen Reform können Kinder nun auch Doppelnamen, also sowohl den Nachnamen der Mutter als auch des Vaters, tragen. Bei der Reform stand aber nicht ein vom Aussterben bedrohter Klan Pate des Gedanken, sondern schlicht die Tatsache, dass Nachnamen in China knapp sind. So gibt es auf die Schnelle ungeahnte, schier unerschöpfliche neue Möglichkeiten.

Sie bittet ihn, hereinzukommen, und schiebt ihm galant ein paar Gummisandalen zu, die er anziehen soll. Doch Peter hat in der einen Hand eine Flasche Wein und in der anderen einen Strauß gelber Nelken. Er überreicht schnell der Gastgeberin die Geschenke. Ihren peinlich berührten Gesichtsausdruck sieht er gar nicht, er ist schon längst mit dem Ausziehen der Schuhe beschäftigt.

DASS DIE MUTTER DES KLEINEN LI PEINLICH BERÜHRT IST, ...

... hat gleich zwei Gründe: 1. Blumen, und dann auch noch weiße oder gelbe, kommen bei der Gastgeberin nicht an. Frische Sträuße werden in China nur bei Beerdigungen mitgebracht. Insofern symbolisieren sie den Tod. Die einzige Ausnahme: weiße Lilien. Sie stehen für Harmonie. 2. Peter hat ihr die Geschenke flott in die Hand gedrückt. Frau Zhang hatte keine Zeit, die Annahme abzulehnen. Das gehört zum guten Ton, denn sonst wirkt man gierig. Wundern Sie sich auch nicht, wenn der Beschenkte dreimal die Gaben zurückweist. Er wird sie annehmen, und auch gerne, aber erst, wenn er genug bedrängt wurde.

Glücklicherweise kommt der Kleine Li um die Ecke und begrüßt den ausländischen Gast: »Huānyíng, huānyíng!« Herzlich willkommen!

Der schmale Flur ist viel zu klein für die Drei, Frau Li weicht in die Küche aus, die direkt an der Haustür ist. Im Vorbeigehen erhascht Peter einen Blick: Auf einer steinernen Ablage steht ein Gasherd mit zwei Feuerstellen, darunter eine Gasflasche und ein kleines Regal mit Wok und Geschirr. Über dem Spülbecken aus Porzellan hängt ein kleiner Durchlauferhitzer, ein hoher, aber schmaler Schrank schließt die Kücheneinrichtung ab. Abgesehen von Frau Li passt also nichts mehr rein.

»Komm, ich stell dir meinen Vater vor«, unterbricht der Kleine Li Peters Betrachtungen, drei Schritte später stehen sie auch schon im Wohnzimmer. Wie im Treppenhaus, im Flur und in der Küche besteht der Boden aus blankem Beton. Die Wände allerdings sind mit hellgrünem Lack gestrichen, wenn auch nur bis zur Mitte. Darüber befindet sich mittlerweile ergrauter Putz. Immerhin ziert ein Bild die Wand: ein grellbuntes Stillleben einer Obstschale. In der Ecke steht ein Kühlschrank, er fand in der Küche anscheinend keinen Platz mehr, das Sofa ist zu einem Bett umfunktionierbar, ein Wandschrank mit weißem Plastikfurnier beherbergt den Fernseher und ein paar Bücher, und als Letztes gibt es einen ausziehbaren Tisch mit vier Klappstühlen.

»Das hier ist mein Vater«, stellt der Kleine Li den Großen Li vor, Lao Li. (Übrigens: Zwar bedeutet lǎo alt, aber in diesem Fall, als Namenszusatz, wird es mit ›ehrenwert‹ übersetzt.) Peter reicht ihm die Hand. Mittlerweile weiß er zwar, dass Händeschütteln nicht zum Begrüßungsritual gehört, aber die Gewohnheit zollt mal wieder ihren Tribut.

»Setzen Sie sich«, fordert der Große Li den Gast auf.

»Nein, ich will ihm erst noch die Wohnung zeigen«, unterbricht der Kleine Li. Er zieht Peter in das angrenzende Zimmer mit einem Doppelbett und einem Kleiderschrank. »Hier schlafen meine Eltern.«

»Und du?«, fragt Peter.

»Ich schlafe im Wohnzimmer auf der Couch. Und wenn ich mal heirate, brauchen wir wohl eine größere.«

»Wollt ihr dann hier zu viert leben?«

»Natürlich, meine Frau zieht dann hier mit ein«, sagt der Kleine Li wie selbstverständlich.

ÜBRIGENS

Der Kleine Li hat keinen Scherz gemacht. Oft leben in einem Haushalt drei Generationen unter einem Dach. Sie teilen sich zwei Zimmer, Küche und Bad. Ist das Kind noch klein, schläft es bei den Eltern im Bett. Tagsüber, während sie arbeiten, passen die Großeltern auf den Enkel auf. Viele Chinesen, die zur neuen Mittelschicht gehören und es sich leisten können, leben alleine mit ihrer Familie in einer Wohnung. Traditionell bleiben die Familien aber zusammen, nicht nur aus Kostengründen. Großeltern als Babysitter frei Haus zu haben, hat ja auch seine Vorteile.

Frau Li, also eigentlich ja Frau Zhang, hat schon Essen auf den Tisch gestellt und ruft die beiden. Das Essen ist besonders lecker und reichhaltig. Peter kommt aber nicht umhin, sich zu wundern, dass die Familie in so einer ungemütlichen Wohnung mit Betonfußboden und zusammengestückelten Möbeln lebt. Auch funktionelles Mobiliar kann hübsch sein. Und so teuer ist es sicherlich auch nicht. Das muss ihm der Kleine Li noch mal erklären.

Das Obdach in der Regierungsobhut

Die junge Generation der Chinesen legt mittlerweile mehr Wert auf ein gemütliches Zuhause. Wer Geld für diesen Luxus erübrigen kann, gönnt sich einen schönen Holzfußboden, moderne Möbel und schmückt die Wohnung mit passenden Accessoires. Ihre Eltern favorisierten vermutlich noch die Investition in ein Auto, was die Nachbarn besser als das Innere einer Wohnung beneiden konnten, oder in die Ausbildung des Kindes.

ÜBRIGENS

Öffentliche Schulen und Universitäten sind in China kostenlos. Private Unis werden aber in der Regel höher angesehen, weil sie den Abgängern später eine bessere Berufschance bieten, müssen aber selbst bezahlt werden. Das Geld dafür sparen sich die Eltern gerne vom Munde bzw. von ihrem Luxus ab. Sie profitieren ja schließlich später auch davon, wenn das Kind ein dickes Gehalt nach Hause bringt.

Darüber hinaus gibt es erst seit 1998 Eigentumswohnungen, bei denen es sich lohnt, Geld hineinzustecken. Jeder Chinese, ob Angestellter, Arbeiter oder Student, bekam während der Planwirtschaft eine Wohnung zugeteilt. Damit wollte die Regierung verhindern, dass das stetig wachsende Volk obdachlos würde. Die zugewiesene Wohnung gehörte zu den Sozialleistungen, die der Arbeitgeber zu erbringen hatte. Die Mieter mussten auch Miete zahlen. Die war aber so gering, dass es eher an einen Obolus erinnerte. Die Größe richtete sich unter anderem nach Alter und Dienstzugehörigkeit. Erfüllte jemand die Kriterien der Zuweisung nicht, musste er bei den Eltern leben. Daher war es nicht ungewöhnlich, wenn sich drei Generationen den engen Raum teilten.

Die Wohnungen waren oft nah am oder sogar direkt auf dem Gelände des Arbeitsplatzes. Seit 1998 gibt es einen kommerziellen Wohnungsmarkt, der den Chinesen erlaubt, Wohnungen zu kaufen oder anzumieten. Wenn man denn das nötige Kleingeld dafür hat. Viele bleiben trotzdem bei den Eltern wohnen, um das Geld zu sparen, sich eine Reise zu gönnen oder in anderem Luxus zu schwelgen. Diejenigen, die schon lange in einer zugewiesenen Wohnung lebten, hatten damals die Möglichkeit, diese günstig dem Arbeitgeber abzukaufen. Fast alle haben von diesem Angebot Gebrauch gemacht.

Mit den steigenden Immobilienpreisen in den Städten wie Peking, Shanghai oder Shenzhen sitzen viele auf wahren Goldgruben. Selbst wenn sich der Kohl im Treppenhaus stapelt und der Putz von den Wänden auf blanken Betonboden bröselt.

Fettnäpfchenführer China

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