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MÍNG BÙ XŪ CHUÁN

EINEN NAMEN ZU RECHT TRAGEN

名不虚传

Nach neun Stunden Flug ist Peter Auer froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Ein halbes Jahr Studium und Praktikum in Chinas Hautstadt Peking liegen vor ihm und er ist ganz aufgeregt. Und dank seiner, wenn auch noch recht dürftigen Chinesischkenntnisse, versteht er sogar die Ansage aus dem Lautsprecher: ›Herzlich willkommen auf dem Flughafen Peking, Terminal drei.‹

ÜBRIGENS

Lange Zeit, knapp 40 Jahre bis zum Jahr 1999, kam Peking mit nur einem Terminal aus. Steigende Zahlen von Touristen und Geschäftsleute machten einen Umbau notwendig, und es entstand Terminal 2, nur ein paar Meter um die Ecke. Mit dem Zuschlag, die Olympischen Spiele 2008 auszurichten, musste Peking die Infrastruktur ausbauen. Mittlerweile war die Zahl der Fluggäste von 20 Millionen im Jahr 2000 auch schon auf 54 Millionen im Jahr 2007 gestiegen. Um dem Ansturm der zu erwartenden Besucher gewachsen zu sein, baute Norman Foster das drachenförmige Terminal 3, welches im März 2008 den Passagieren seine Türen öffnete.

Oh Schreck, Terminal drei! Er soll doch abgeholt werden und hatte vergessen, Bescheid zu sagen, wo er landet. Dummerweise besitzt er weder eine Adresse, noch chinesisches Geld. Letzteres kann er zwar mit Sicherheit am Flughafen tauschen – aber wie soll er bloß seine Universität finden?

Noch grübelnd steigt Peter in die Flughafenbahn, welche die Passagiere von den Flugsteigen zur Ankunftshalle transportiert, sammelt dann sein Gepäck ein und geht zum Ausgang. Völlig verdutzt starrt er auf das Schild mit seinem Namen und dem dazugehörigen kleinen Chinesen.

»Hallo, ich bin Peter Auer«, sagt er auf Englisch.

»Guten Tag, ich bin Xiao Li«, kommt es in fast perfektem Deutsch zurück.

Peter kommt aus dem Staunen gar nicht heraus. Weder hat er die glückliche Fügung erwartet, einen Fahrer hier anzutreffen, noch dass dieser so gut Deutsch kann.

»Ich studiere Deutsch und Literatur an der Fremdsprachenuniversität Peking«, erklärt der Chinese und beschämt Peter sogleich. Hatte dieser ihn doch für einen Fahrer gehalten. Mit beiden Händen hält Xiao Li dem jungen Deutschen seine Visitenkarte hin, die Peter mit links – rechts trägt er seinen Koffer – annimmt und gleich in seiner Jackentasche verschwinden lässt. Xiao Li schluckt kurz, ist jedoch höflich genug, Peter diesen ersten Fauxpas zu entschuldigen.

In China übergibt man Visitenkarten mit beiden Händen und empfängt sie auch ebenso. Außerdem darf man die Karte des Gegenübers nicht sofort wegpacken, sondern sollte sie erst einmal interessiert studieren, auch wenn das Interesse nicht so groß sein sollte. Der Kleine Li entschließt sich, dieses Verhalten auf Peters Unwissenheit zu schieben und übersieht die Taktlosigkeit.

Xiao Li lotst ihn zu einem wartenden Auto, und los geht Peters erste Fahrt in Peking.

»Woher wussten Sie eigentlich, an welchem Terminal ich lande?«, fragt Peter den neuen Kommilitonen.

»Ganz einfach«, antwortet Xiao Li, »jedes Terminal wird von festgelegten Fluggesellschaften angeflogen. Und da ich ja Ihre Flugnummer hatte, wusste ich, dass Sie auf T3 landen.«

Im wilden Zickzack um die anderen Verkehrsteilnehmer herum brausen sie auf der sechsspurigen Autobahn, die von kahlen Bäumen gesäumt ist, Richtung Stadt.

Peter fühlt sich erschlagen von den vielen Eindrücken. Die Regel, rechts fahren, links überholen, scheint hier nicht zu existieren. Jeder fährt, wo Platz ist und wo es am schnellsten erscheint. Die Fahrer nehmen dafür gerne in Kauf, dass sie fast sekündlich die Fahrbahn wechseln. Auch dass die Bäume alle wie mit dem Geodreieck angepflanzt sind, fällt dem Deutschen auf.

ÜBRIGENS

In Peking gibt es nur wenig natürlichen Baumbestand. Aus vielen Gründen, Platz- und Holzmangel sind nur zwei, wurden früher die meisten Bäume gefällt. Als man merkte, dass die Stadt immer mehr versandete, da keine Wurzeln die lose Erde festhielten, pflanzte man wieder neue Bäume. Und weil alles seine Ordnung haben musste, schön in Reih und Glied.

Das ständige Hupkonzert macht es Peter zudem schwer, sich auf die Erklärungen Xiao Lis zu konzentrieren. Xiao Li, genau! Plötzlich ist er neugierig, was denn eigentlich auf der Visitenkarte des Studenten draufstehen mag. Umständlich kramt er sie hervor und liest:

Li Caibo

Wissenschaftler für Sprache und Literatur

Fremdsprachenuniversität Peking

Danach folgen noch die Adresse und eine Telefonnummer. Komisch, denkt Peter, hatte er nicht gesagt, er hieße Xiao Li? Warum steht denn das Xiao hier gar nicht? Und merkwürdig, dass er sich mit dem Vornamen vorstellt und Sie sagt.

ÜBRIGENS

Visitenkarten sind in China ein Muss. Wer keine hat, ist auch nichts. Und scheuen Sie sich nicht davor, auch mal Manager zu sein. Je hochgestochener Ihre Position, desto mehr Eindruck machen Sie. Natürlich muss dies im Rahmen der Wahrheit sein – ein Student der Sprachen forscht ja aber auch so manches Mal nach dem richtigen Wort. Warum soll er sich dann nicht Wissenschaftler nennen?

Um dem Mysterium auf den Grund zu gehen, bleibt Peter nichts anderes übrig, als zu fragen.

Xiao Li steht ihm gern Rede und Antwort und erklärt: »In China steht der Nachname immer zuerst. Ich heiße also Li und mit Vornamen Caibo. Das xiǎo ist ein oft benutzter Zusatz. Es bedeutet klein. Es gibt auch lǎo, das bedeutet alt – oder besser ehrwürdig. Aber ich bin noch nicht so ehrwürdig, also nennen mich alle Xiao Li, Kleiner Li.«

Jetzt ist Peter noch beschämter. So eine leichte Vokabel wie klein hat er natürlich schon längst gelernt. Dass er da nicht von selber drauf gekommen ist!

»Sie können die Leute auch mit ihrem Titel anreden«, fährt der Kleine Li fort, »wie Meister, shīfu, oder Lehrer, lǎoshī. Davor steht der Nachname, nicht wie im Deutschen danach. Also Wang shīfu, Meister Wang. Vornamen benutzt man nur im Familien- und ganz engen Freundeskreis.«

Nach dem Schreck einer Vollbremsung des Fahrers, weil sich ein anderes Auto ohne zu blinken bei voller Fahrt direkt vor sie gesetzt hat, nimmt der Kleine Li das Thema wieder auf. »Ich war so frei, mir für Sie auch schon mal einen Namen auf Chinesisch zu überlegen. Was halten Sie von Ai Hua? Es klingt ja so ähnlich wie Auer.«

Peter wiegt den Kopf überlegend hin und her. Oder wackelt der wegen des schnellen Zickzack-Kurses des Fahrers?

»Es bedeutet ›China lieben‹«, übersetzt der Kleine Li ungerührt der Schaukelei. »Viele Ausländer übersetzen ihre Namen einfach nur phonetisch, aber sie achten nicht auf die Bedeutung. Die ist genauso wichtig wie ein guter Klang. Viele Namen sind ja richtig kompliziert für Chinesen, wie Schmitz zum Beispiel.«

Peter schaut verwundert auf den Kleinen Li und stößt sich, dank einer plötzlichen Bewegung, den Kopf am Haltegriff. Schmitz ist doch so ein simpler Name!

»Um Schmitz phonetisch zu übersetzen, braucht der Chinese vier Zeichen: She mi te se

ÜBRIGENS

Im Chinesischen gibt es keine Silben, die einen mehrfachen Konsonanten hintereinander haben. Außer bei der Endung ›ng‹, wie z.B. bei ming oder bang, werden alle Konsonanten von einem Vokal begleitet. Diese Endung ist neben ›n‹, wie z.B. bei lan oder wen, auch die einzige Variante, die nicht mit einem Vokal abschließt. Darum erfordern phonetische Übersetzungen, wie bei dem Namen Schmitz, mehrere Silben, also auch Schriftzeichen. Es gibt zudem keine Silbe, die länger als sechs Buchstaben ist.

Und schön klingt es auch nicht, denkt Peter.

»Und schön klingt es auch nicht«, sagt der Kleine Li. »Und dann fehlt ja noch der Vorname! Ihr Name klänge phonetisch übersetzt auch eher seltsam. Eventuell so was wie: Peite’er Aoer. Oder Bide Aoer. Bide ist praktisch die chinesische Übersetzung von Peter.«

Und hört sich an wie Bidet, fügt Peter im Stillen hinzu. Nein, nein, er braucht keine weitere Überredungskunst. Ob er es tatsächlich tun wird, stellt sich zwar erst irgendwann heraus, aber sein chinesischer Name soll es ruhig schon prophezeien: Er wird ›China lieben‹ heißen.

Namen sind nicht Schall und Rauch

Ganz im Gegenteil! Da die Anzahl der Nachnamen sehr begrenzt ist – es gibt nur rund siebenhundert – legen die Eltern großen Wert darauf, ihren Sprösslingen sowohl wohlklingende als auch bedeutungsschwangere Namen zu geben. Einige gehen so weit, einen Wahrsager aufzusuchen, der sie bei der Namensgebung beraten soll. Dieser versucht dann, anhand der Geburtszeit und des Sternzeichens etwas Passendes zu finden. Glück soll es verheißen und große Dinge herbeizaubern. Auf dem Namen kann also eine große Last liegen: Die Zukunft soll vielversprechend sein, dem Reichtum die Türen geöffnet werden oder das Kind eine wünschenswerte Eigenschaft entwickeln.

Auf dem Land werden Töchter zum Beispiel gerne Zhaodi, ›einen kleinen Bruder suchen‹, genannt. Kinder in der Stadt sollen durch ihre Namensgebung reich und intelligent werden, wie zum Beispiel auch der Kleine Li. Sein Vorname, Caibo, bedeutet ›Reichtum und Welle‹. Seine Eltern hoffen, dass er irgendwann auf der Woge des Geldes dahin schwimmt.

ÜBRIGENS

Kinder und damit auch die frühere Ein-Kind-Politik Chinas sind ein langes, eigenständiges Thema, siehe dazu auch Kapitel 15 ›Jié Wài Shēng Zhī‹. Daher nur kurz: Bauern auf dem Land, aber auch noch viele Menschen in der Stadt, hofften darauf, dass ihr einziges Kind ein Sohn sein wird. Töchter verlassen mit der Heirat das Haus der Eltern, Söhne bleiben, bringen sogar mit der Eheschließung eine weitere Arbeitskraft nach Hause und sichern somit den Lebensabend der Eltern. War das Erstgeborene eine Tochter und durfte die Familie aufgrund einiger Ausnahmeregeln ein zweites Kind bekommen, war kein Name besser für die Tochter als ›den Kleinen Bruder suchen‹.

Früher, als China in verschiedenen politischen Turbulenzen steckte, waren entsprechende Vornamen aktuell. Kinder, die um 1949, zur Gründungszeit der Volksrepublik China, geboren wurden, hießen oft Jiefang, Befreiung, oder Guoqiang, Landesverteidigung. Zugegeben, keine sehr liebevolle Namen. Während der Kulturrevolution, die 1966 begann, waren dann Namen wie Hong, rot, oder Geming, Revolution, sehr beliebt. Später, mit der wirtschaftlichen Öffnung Chinas Anfang der 1980er-Jahre, nahmen westlich klingende Namen wie Mali in Anlehnung an Mary zu.

Irgendwann kam die Idee auf, den Kindern auch sehr spezielle Namen zu geben, was sich vor allem auf die Schreibweise bezog. Dieser Kreativitätsschub warf allerdings ein unvorhergesehenes Problem auf: Bei der Umstellung der Behörden auf elektronische Datenverarbeitung fehlten ihnen diese ungewöhnlichen Zeichen in ihrem Schreibprogramm. Ihre Computer waren nur mit den gebräuchlichsten Zeichen ausgerüstet, die Ausstellung eines Personalausweises wurde somit zu einem unmöglichen Vorhaben. Bei der Frage nach der Problemlösung zuckten die Beamten meist nur mit den Schultern. Sie empfahlen, den Namen zu ändern. Umsonst war somit die Mühe, einen verheißungsvollen Namen gefunden zu haben.

Darüber, ob sich deswegen das Schicksal des Trägers zum Schlechten gewendet hat, gibt es aber keine Informationen.

Fettnäpfchenführer China

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