Читать книгу 7 Jahre Schneeregen - Anke-Larissa Ahlgrimm - Страница 10
VII
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Schweigend starrte ich aus dem Autofenster und betrachtete den Wald, durch den wir fuhren. Man konnte nichts anderes als Bäume sehen, was mich vermuten ließ, dass wir ziemlich tief im Wald waren. Eigentlich fand ich es ganz schön hier. Die Blätter waren orange, rot und gelb und ich hatte das Gefühl, die warmen Farben lenkten von der eigentlichen Temperatur ab. Auch der Rest, den ich bisher von Québec gesehen hatte, war wunderschön gewesen. Vielleicht würde es gar nicht so übel werden.
Man hatte mich vom Flughafen abgeholt – mich und ein paar andere Schüler. Ein breitschultriger Mann, der auf den Namen Mike hörte, hatte dort gestanden mit einem Schild mit der Inschrift 'Lycée D'Ariane' und jeden eingesammelt, der auf seiner Liste stand. Und nun saß ich hier in diesem blauen Auto, eingequetscht zwischen einem Mädchen, das sich während der Fahrt schon bestimmt alle Fingernägel abgekaut hatte und einem Jungen, der Kopfhörer in den Ohren hatte und seine Füße im Takt wippte. Dabei stieß er immer gegen meine Beine und dem Rhythmus nach zu urteilen, hörte er Heavy Metal. Um genau zu sein, konnte ich das sogar hören, da er die Kopfhörer auf dem maximalen Volumen eingestellt hatte. Im Nachhinein bereute ich es sehr, dass ich mich in die Mitte gesetzt hatte. Eine schreckliche Müdigkeit, die man wohl Jetlag nannte, hatte mich übermannt und da ich meinen Kopf ja schlecht auf eine der Schultern meiner Sitznachbarn legen konnte, blieb mir nichts anderes übrig, als wach zu bleiben
Das Mädchen, was auf dem Beifahrersitz saß, war älter als wir, hatte ihre Haare ganz kurz geschnitten und blau gefärbt. Ihre Lippen zierte ein Piercing und ihre Ohrlöcher wurden von Tunnels gestreckt. Ich fand sie wahnsinnig hübsch. Sie hatte schöne lange Wimpern, die fedrige Schatten auf ihre mit Sommersprossen besetzten Wangenknochen warfen. Sie war vielleicht nicht das Schönheitsideal – groß, schlank, blond -, aber das fand ich umso besser.
Gerade als ich zum tausendsten Mal schaute, ob mein Handy vielleicht doch anging, erhob sie ihre Stimme. „Mike, wie lange werden wir denn noch fahren?“
Der Mann im mittleren Alter straffte seine Schultern und räusperte sich. „Ich schätze noch etwa zwei Stunden, Jess.“
Ich unterdrückte ein genervtes Stöhnen und ließ meinen Kopf nach hinten fallen. Zwei weitere Stunden in diesem Auto. Zwei weitere Stunden Knabbern an den Fingernägeln und Wippen mit dem Fuß. Zumindest hatte ich noch das hübsche Mädchen – Jess, wie ich jetzt wusste – und sie schien ganz nett zu sein.
„Jess, bist du schon länger Schülerin hier?“, fragte ich leise, nachdem für weitere fünf Minuten Stille geherrscht hatte. Überrascht drehte Jess ihren Kopf zu mir, sodass ich direkt in ihre eisblauen Augen sah.
„Nein, ich bin hier rüber gewechselt, aber ich war im letzten Schuljahr bereits für einige Tage da, … ähm Rebecca?“
„Rubie“, verbesserte ich sie lächelnd.
„Rubie“, murmelte Jess lächelnd, „Du bist neu, richtig? Noch nie hier?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, niemals.“
Jess summte verständnisvoll und nickte langsam. „Es wird dir gefallen. Am Anfang ist es bestimmt etwas gewöhnungsbedürftig, aber … das ist eben das Flair vom LDA.“ Als ich sie fragte, was sie damit meinte, zwinkerte sie mir nur zu und sagte ich würde schon sehen. Dann wechselte sie geschickt das Thema. „Du kommst aus England, oder? Du klingst auf jeden Fall britisch. Also kommt deine Familie aus Frankreich? Das liegt ja dort am nächsten.“
„Sie könnte auch aus Belgien kommen“, ertönte eine schüchterne Stimme neben mir. Meine Sitznachbarin hatte von ihren Fingernägeln abgelassen und mischte sich nun auch mit ins Gespräch ein. Jess sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ich meine ja nur, Belgien wäre auch in der Nähe, sowie die Schweiz und Monaco und auch Luxemburg.“
„Okay, okay, Miss Schlaumeier“, lachte Jess und dem Mädchen schoss das Blut in die Wangen.
„Ich heiße Sofie, nicht Miss Schlaumeier“, wisperte sie so leise, dass ich sie beinahe nicht verstehen konnte. Außerdem sah sie so verlegen aus, dass ich dachte, sie würde gleich wieder damit anfangen ihre Fingernägel abzukauen.
„Du hattest schon Recht“, wandte ich mich letztlich an Jess, „Die Familie meiner Mutter kommt aus Paris und Umgebung.“
Jess grinste breit und klopfte auf ihre eigene Schulter. „Ich weiß, ich bin halt toll.“ Ich lachte leise über ihre Reaktion, jedoch hörte ich Sofie neben mir leise 'Glückstreffer' murmeln. „Also ich komm ja aus Kalifornien. Mein Stiefvater, der mehr mein Dad ist als mein Erzeuger, kommt von der Elfenbeinküste. Er spricht schon mit mir Französisch seit ich denken kann.“
Die Autofahrt endete genau zwei Stunden später, als wir auf einen Hof fuhren. Sobald ich das Gebäude erblickt hatte, klappte mir die Kinnlade hinunter. Das war ganz sicher nicht wie ich mir eine Schule vorgestellt hatte, es war ein verdammtes Schloss – noch dazu ähnelte es extrem Hogwarts. Verdammt, ich würde endlich ein Hogwarts Schüler sein. Die Fassade, die früher bestimmt mal weiß war, war gelblich und stellte einen fantastischen Kontrast zu dem braunen Dach da. Das Internat besaß bestimmt fünf Stockwerke, selbst als ich meinen Kopf in den Nacken legte, konnte ich von Nahem nicht den höchsten Punkt sehen. An den Seiten stiegen zwei Schlosstürme empor und ich träumte schon davon, ganz oben aus dem Fenster zu schauen und über die Aussicht zu staunen. Apropos Aussicht. Wie ich erkannte, als ich immer noch fasziniert aus dem Auto stolperte, war meine neue Schule komplett vom Wald umgeben. Alles, was ich von den Treppenstufen zum Haupteingang sah, waren Bäume, Bäume, Bäume – und der strahlend blaue Himmel mit der hellen Mittagssonne. Mike stieß die große und sehr breite Holztür auf und ließ mir leider keine Zeit ihre verschnörkelte Verzierung zu betrachten. Jedoch hatte ich sofort etwas, was meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Die Eingangshalle des Lycée D'Ariane war erstens so groß, wie das Grundstück, das meine Familie in England besaß und zweitens wahnsinnig … hell. Die Wände waren weiß gestrichen, wohin gegen der Boden mit schwarzen und weißen Fliesen besetzt war und ihn aussehen ließ, wie ein riesiges Schachbrett. Mann, warum war es hier nur so … chic? Hier wurden wir auch bereits von unserer Schuldirektorin Madame Roux erwartet. Sie stand auf den unteren Stufen der Treppe aus weißem Marmor – ich wollte nicht wissen, wer und wie viel man hier putzte.
„Bonjour, les élèves!“ begrüßte sie uns mit einem höflichen Lächeln. Fast schon elegant schritt sie die letzten Stufen hinunter und breitete langsam ihre Arme aus. „Willkommen am Lycée D'Ariane.“
Mit einem raschen Seitenblick stellte ich fest, dass auch Sofie und der Kopfhörer-Junge – Daniel, wie ich herausgefunden hatte - glühend vor Begeisterung waren und das alles mehr als nur toll fanden.
„Ich werde euch gleich auf eure Zimmer bringen. Die Einführung gestern habt ihr bereits verpasst, jedoch bin ich sicher, dass eure Zimmergenossen euch herumführen können“, erklärte sie, während sie uns die große breite Treppe hoch lotste. Mein Blick war auf die vielen eingerahmten Bilder an den Wänden gerichtet. Es waren Fotos von verschiedenen Jahrgängen, Fotos an Sportveranstaltungen und Fotos von alten Leuten, die ich nicht kannte. „Auf euren Zimmern befinden sich weitere Informationsblätter, sowie die Schulregeln und eure Stundenpläne. Wenn ihr noch Fragen habt, kommt ihr entweder in mein Büro im Keller oder ihr geht zu den Vertrauensschülern eures Jahrgangs. Ihre Zimmer befinden sich am Ende des Ganges.“ Wir kamen in einem Gang an, von dem aus dutzende Türen weggingen – unsere Zimmer. Gleich an der ersten Tür, die mir in den Blick fiel, hing ein Schild auf dem 'Atterbury, N. & Carpenter, R.' geschrieben stand, jedoch riss ich mich zusammen und hörte Madame Roux weiterhin zu. „Der Unterricht beginnt morgen um Punkt acht Uhr, allerdings erwarte ich euch bereits um sieben Uhr beim Frühstück im Speisesaal. Ich werde euch nicht länger aufhalten, ihr wollt sicher noch eure Koffer auspacken.“ Sie nickte zu unseren Koffern, die nun hinter uns standen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass Mike sie uns hinterher getragen hatte. Der arme Kerl, ich wollte nicht wissen, wie oft er die Treppe auf und ab hatte steigen müssen.
Aufgeregt zog ich meine quietschgelben Koffer zu mir und wollte gerade auf meine Tür zu gehen, als Madame Roux mich noch ansprach.
„Rubie?“
„Hm?“ Überrascht drehte ich mich um und sah meine Direktorin fragend an. Diese lächelte ihr perfektes Lächeln, wobei mir auffiel, dass es nicht wirklich ihre Augen erreichte.
„Besitzt du ein Handy?“ Ich nickte zögerlich. Mein Handy in meiner rechten Hosentasche wurde auf einmal viel schwerer, sobald Madame Roux ihre Hand ausstreckte. Es fühlte sich an als würde ich ihr gerade mein Leben in die Hand legen und es schmerzte dementsprechend, als sie es wegpackte. „Wir leben hier ganz klassisch, ganz altmodisch.“ war alles, was die Schuldirektorin noch sagte, bevor sie mit Sofia, Jess und Daniel weiterging. Zu sagen, dass ich meinem Handy nachtrauerte, war die Untertreibung des Jahrhunderts. Meine Mutter hatte mir oft gesagt, dass ich zu sehr an dem Ding hing. Und ich wusste, dass sie Recht hatte – wie immer -, aber mein Handy war eben mein Baby.
Schlussendlich fasste ich mich wieder und drückte die Türklinke runter. Langsam und fast schon dramatisch schob ich die Tür auf. Das Zimmer war nicht sonderlich groß, es reichte für zwei Personen. Es war als hätte man durch den Raum eine Linie gezogen und dann das Mobiliar gespiegelt. In der Ecke stand ein schlichtes Holzbett, daneben ein Schreibtisch und am anderen Ende des Raumes eine antike Kommode. Bei dem Anblick der Kommode schlug mein Herz sofort schneller. Endlich etwas, dass mich an zu Hause erinnerte.
Dann fiel mein Blick auf das brünette Mädchen auf dem Bett in der rechten Raumhälfte. Sie hatte sich gegen die Wand gelehnt und ihre Beine zum Schneidersitz gewickelt. Ihre dunkelbraunen, beinahe schwarzen, Haare waren zu einem losen Dutt gebunden, aus dem einige Strähnen sich gelöst hatten und ihr gebräuntes Gesicht umrahmten. Wenn wir uns nebeneinander stellen würde, würde ich wohl aussehen wie ein weißes Stück Toastbrot. Auf ihrer kleinen Stupsnase saß eine schwarze Hornbrille, die ihre dunklen Augen noch größer wirken ließ.
„Salut“, lächelte sie und zeigte ihre strahlend weißen Zähne. Mich durchströmte eine Woge von Freude und Wärme. Dieses Zimmer, dieses Mädchen. Das war alles nicht so schlimm, wie erwartet. „Ich bin Nala und du?“
„Rubie“, brachte ich grinsend heraus und schloss die Zimmertür hinter mir. Meine Beine trugen mich zu meinem neuen Bett und ich ließ mich sofort darauf fallen. Gott, ich musste wirklich aufpassen, dass ich nicht sofort einschlief.
„Das ist ein schöner Name.“
„Nala auch“, erwiderte ich und drehte meinen Kopf so, dass ich Nala ansehen konnte. Diese hatte schon ganz rote Wangen und schob sich verlegen ihre Brille hoch.
„Da musste ich etwas nachhelfen. Meine Eltern sind nicht auf die Idee gekommen mich so zu nennen.“ Ich zog verwirrt meine Augenbrauen hoch und deutete ihr an weiterzusprechen. „Es sind meine Initialen. N – a – l – a.“
„Und wie ist dann dein ganzer Name?“, hakte ich neugierig nach und setzte mich wieder auf.
Nala seufzte leise. „Aber nicht lachen, ja?“ Ich nickte eilig und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Ninette Aloysia Laverne Atterbury oder eben Nala Atterbury.“
Ich summte leise und sah sie dann mit geneigtem Kopf an. „Aber wenn das letzte 'a' die Initiale deines Nachnamens ist … müsste es dann nicht Nala Tterbury heißen?“
Nala brach in schallendes Gelächter aus. „Das klingt bescheuert.“
Ich zuckte nur mit den Achseln und lachte ebenfalls leise. „Dein Name, nicht meiner.“
„Schon mal was vom Geheimnishandel gehört?“, fragte sie kichernd. Ich schüttelte meinen Kopf und entlockte ihr ein freches Grinsen. „Das ist ganz einfach. Ich verrate dir ein Geheimnis und du bezahlst es quasi mit einem Geheimnis von dir. Also … ich hab dir meinen vollen Namen verraten und jetzt bist du dran.“ Auffordernd blickte sie mich an.
„Na gut“, schmunzelte ich, „Rubie Stephanie Carpenter.“ Für ein paar Sekunden sagten wir nichts, sondern lächelten nur beide vor uns hin. Unsere Blicke trafen sich und in dem Moment wusste ich, dass alles gut werden würde, wenn ich Nala als Freundin hatte.