Читать книгу 7 Jahre Schneeregen - Anke-Larissa Ahlgrimm - Страница 11

VIII

Оглавление

[30. August, 2009]

„Sind das alles deine Geschwister?“, fragte Nala überrascht, als ich den Bilderrahmen mit dem Foto meiner Familie auf meinen Schreibtisch stellte. Den Bilderrahmen hatte Yves in der Schule gemacht und mit Glitzersteinen und Nudeln verziert. Warum man eigentlich Nudeln auf Bilderrahmen klebte, war mir noch nie klar gewesen. Aber vielleicht war ich ja mal hungrig und legte den Rahmen in einen Kochtopf.

Da Nala mir erklärt hatte, dass es bei einem Jetlag das Beste war, wenn man erst schlief, wenn es Nacht war, beschäftigte ich mich damit meine Koffer auszupacken. Wenn ich sofort schlafen würde, würde mein Schlafrhytmus durcheinander sein, hatte Nala gesagt.

„Jap, das sind meine fünf Brüder, alle jünger als ich. Und das ist natürlich meine Mutter“, erklärte ich und beugte mich mit Nala zu dem Foto runter. Es war vor einem Monat aufgenommen worden, als wir meine Großmutter in Paris besucht hatten. Diese hatte im Übrigen auch das Foto in ihrem großen Garten geschossen. Im Hintergrund war die Schaukel, auf der ich immer gesessen hatte, als ich kleiner gewesen war. Mittlerweile tat ich das nicht mehr, da mich meine Brüder davon runter schmissen, bevor ich überhaupt Schwung holen konnte.

„Wow, fünf Brüder“, lachte Nala und betrachtete unsere strahlenden Gesichter. Ich tat es ihr nach und wenn ich uns so ansah, bemerkte ich, dass wir gar nicht so chaotisch aussahen, wie wir eigentlich waren. „Deine Mutter ist hübsch.“

„Ich werd's ihr ausrichten. Leider hat keines ihrer Kinder ihre Gene abbekommen.“ Schmunzelnd strich ich über das Abbild der braunen welligen Haare meiner Mutter und sah dann zu meinen viel zu glatten hellblonden Haaren. „Wir kommen alle nach meinem Vater.“

„Apropos“, sagte Nala und sah mich vorsichtig von der Seite an. „Warum ist er nicht auf dem Foto? Ist er … also ist er vielleicht …?“ Unsicher richtete sie ihre Brille.

„Gestorben?“ Ich sah Nala mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sie nickte langsam und ich lachte daraufhin leise auf. „Für mich schon irgendwie. Er ist gegangen als ich sechs war. Eines Morgens war er einfach nicht mehr da. Ich bin nicht mehr über seine Schuhe gestolpert, es klebten keine Zettel mehr auf seinem Pudding und das Bett meiner Eltern war nicht mehr so voll“, erzählte ich leise und wandte mich von meinem Familienfoto ab, um einen weiteren Bilderrahmen aus meinem Koffer zu holen.

„Das tut mir Leid.“ Ich zuckte mit den Achseln und stellte das zweite Foto auf dem Holztisch ab. Es war von Haven und mir. Mein bester Freund hatte es selbst von uns gemacht. „Wirklich, Rubie.“

„Es ist in Ordnung, Nala. Meine Mutter sagt, er ist meine Tränen nicht wert, wenn er mir nicht mal zum Geburtstag gratulieren kann.“

„Deine Mutter ist echt weise und -“ Sie schnitt sich selbst das Wort ab und starrte das Foto von Haven und mir verwirrt an. „Hast du nicht gesagt, du hast nur jüngere Brüder? Oder ist das dein Cousin?“

Lächelnd blickte ich das Foto an. Havens Haare sahen aus wie immer und waren in dieser Wischmobfrisur. Ich hatte ihn schon gekannt, als seine Haare noch kurz und ganz kringelig waren, aber seit einigen Jahren ließ er sie nun wachsen und sie sahen aus wie ein Wischmob. Man darf mich nicht falsch verstehen, ich liebte seine Locken. Sie waren süß und weich und rochen fantastisch. Aber wenn sie für immer so bleiben würden, würde er sein ganzes Leben lang aussehen wie ein unschuldiger Engel. Nicht dass mich das stören würde.

„Das ist Haven, mein allerbester Freund und Nachbar. Er ist 7 Jahre älter und wir kennen uns seit ... oh auch 7 Jahren. Naja, auf jeden Fall ist er der Beste.“ Ein breites Grinsen formte sich auf meinen Lippen. Diesen Effekt hatte Haven schon immer auf mich gehabt. Er machte mich glücklich, auch wenn ich nur über ihn sprach. „Ich hoffe, er macht sich gerade nicht zu viele Sorgen, da ich ihn eigentlich anrufen wollte. Mein Handy war aber leer und jetzt hat Madame Roux es unter ihre Fittiche genommen. Sag mal, wann krieg ich es wieder?“

„Nie“, sagte Nala auf einmal grimmig und zeigte auf den Stapel Papier auf meinem Nachttisch. „Das steht in den Schulregeln. Keine elektronischen Geräte sind erlaubt. Du kriegst es nur, wenn du die Schule verlässt, also zum Beispiel in den Ferien.“

„Keine elektronischen Geräte?“, fragte ich nach, meine Augen vor Schock weit aufgerissen. „In der ganzen Schule?“

„Naja fast. In der Bibliothek gibt es ein paar Computer und bei Madame Roux gibt es ein paar Telefone mit Wählscheibe. Hörst du, Rubie? Mit Wählscheibe.“ Seufzend schüttelte Nala ihren Kopf. „Hier zu sein, ist fast schon eine Strafe. Aber der Unterricht ist gut. Man kommt hier auch eigentlich nur rein, wenn die Eltern reich sind oder jemand aus der Familie bereits hier war.“

Nachdenklich runzelte ich meine Stirn und ließ mich auf meinem Schreibtischstuhl nieder. „Bei mir trifft keines von beidem zu“, murmelte ich. „Wir sind sicher nicht reich und ich kenne niemanden, der auf ein Internat in Kanada war.“

„Hm“, machte Nala grüblerisch und setzte sich auf die Bettkante ihres Bettes. „Das ist komisch. Aber dafür gibt es bestimmt eine logische Erklärung.“ Mit einem vorsichtigen Lächeln warf sie mir einen aufmunternden Blick zu. Leider musste ich sagen, dass es mir nicht viel half.

Ich hatte es schon von Anfang an komisch gefunden, dass ich auf ein Internat in Kanada gehen sollte. Kanada, verdammt nochmal. Wenn meine Mutter gewollt hätte, dass mein Französisch sich verbessert, weil sie selber nicht mehr so oft in ihrer Muttersprache mit mir sprach, dann hätte sie mich genauso gut zu ihrer Mutter schicken können. In Frankreich gab es schließlich auch Schulen – sogar bilinguale.

Je länger ich darüber nachdachte, desto weniger waren mir die Intentionen meiner Mutter klar. Und je mehr mir das bewusst wurde, desto wütender wurde ich. Warum zum Teufel war ich hier? Warum war ich in Kanada und somit mehrere tausend Kilometer von meiner Familie und Haven entfernt?

„Zerbrich dir nicht den Kopf, Rubie“, riss mich Nala aus meinen Gedanken. Stumm starrte ich sie an und mein Blick musste mehr als tausend Worte sagen. „Weißt du was? Morgen nach dem Unterricht gehen wir zu Madame Roux und benutzen diese wahnsinnig alten Telefone.“

[31. August, 2009]

Die Uhr über der Klassenzimmertür tickte ziemlich laut. Ziemlich laut und nervig, aber mit jedem 'Tick' kam ich dem Unterrichtsende näher. Vor mir auf dem Tisch lag ein Aufgabenblatt. Heute am ersten Schultag, wollte jeder Lehrer eigentlich nur feststellen auf welchem Stand ihre Schüler waren. Die letzte Stunde – also Gott sei Dank jetzt – war Biologie gewesen und mit dem Aufbau des menschlichen Körpers kannte ich mich ziemlich gut aus für mein Alter – das sagte zumindest Haven immer.

Ich hatte also schon sämtliche Körperteile benannt und hatte noch weitere zehn Minuten Zeit. Nala, rechts neben mir, schien das nicht so leicht zu haben, da sie ganz langsam und Stück für Stück mit ihrem Tisch immer näher an meinen rutschte, bis die Kanten sich berührten.

„Warum hast du da Ohrspeicheldrüse stehen?“, raunte sie mir zu und deutete mit ihrem Bleistift auf mein Blatt. Ich lächelte ihr zu.

„Weil es stimmt“, sagte ich stolz und vielleicht leicht arrogant. „Vertrau mir, ich kenn mich aus. Außerdem ist das hier -“ Ich zeigte auf die Abbildung der Organe. „- der Magen und nicht die Leber.“ Eilig besserte Nala ihre Fehler aus, während ich mich entspannt zurücklehnte. Würde ich in jedem Fach so wenige Schwierigkeiten haben, wäre mein Leben viel einfacher.

„Du bist ein Streber, Rubie, ein richtiger Streber.“

Gekonnt ignorierte ich ihre Bemerkung und beugte mich zu ihr herüber. „Der Tag ist nun schon fast vorbei. Lass uns ein Fazit schließen. Nummer eins: Die Lehrer sind hauptsächlich ganz in Ordnung, nur dem Mathelehrer sollte man den Mund zu kleben.“ Nala entwich ein leises Kichern, was dazu führte, dass ein paar Schüler uns anblickten. Entschlossen streckte meine Zimmergenossin ihnen die Zunge raus und wandte sich wieder mir zu.

„Nummer zwei: das Fleisch in der Cafeteria ist schrecklich und wenn das so bleibt, werden wir Vegetarier.“

„Nummer drei: die Jungs hier sind weder süß noch nett.“ Bei diesen Worten musste Nala sich den Mund zu halten, um nicht laut loszuprusten. Dafür nickte sie jedoch heftig. Gut, dann war ich zumindest nicht die Einzige, die so dachte.

„Nummer vier: Die kleine Zicke in der ersten Reihe, mit dem wallenden schwarzen Haar und dem Name einer Modeikone wird uns noch viele Probleme schaffen, wenn sie weiterhin so extrem nervig und hochnäsig bleibt.“ Seufzend stimmte ich Nala zu und blickte zu der eben genannten Person.

Chanel saß direkt vor der Lehrerin und kaute auf ihrem Bleistift herum. Wie sie dort so unschuldig saß und vollkommen ahnungslos auf ihr Arbeitsblatt starrte, konnte man meinen, sie wäre genau das. Unschuldig und ahnungslos. Allerdings hatte sie es am heutigen Tage schon geschafft mir ein Bein zu stellen, mir aus Versehen an den Haaren zu ziehen und meinen grünen Buntstift durchzubrechen.

„Mein kleiner Bruder wurde auch nach einer Modeikone benannt“, flüsterte ich schließlich lächelnd und stützte meinen Kopf auf meiner Hand ab. „Und Yves Saint Laurent ist viel besser als Coco Chanel.“

„Hm, Chanel war schon cool“, seufzte Nala und drehte den Bleistift in ihren Händen, „Coco, meine ich. Diese hier ist ein Monster.“

„Ein Buntstifte-tötendes Monster“, stimmte ich ihr zu.

Bevor wir uns beide weiterhin über das Mädchen in der ersten Reihe aufregen konnten, erlöste uns der Schulgong. Hastig packten Nala und ich unsere Sachen und brachten dann unsere Blätter nach vorne zur Lehrerin. Ehe sie uns irgendwie hätte aufhalten können, rannten wir aus dem Klassenzimmer. Wir hatten immer noch vor meine Mutter anzurufen und dazu mussten wir in den Keller zu Madame Roux. Voller Elan hetzten wir die Marmortreppen hinunter, bis wir vor einer schwarzen Tür standen. Wir tauschten einen kurzen Blick aus und ich hob dann meine Hand an, um zu klopfen. Ich kam jedoch nicht dazu meine Knöchel gegen das Holz zu schlagen, da eine ältere Schülerin aus dem Zimmer kam.

„Keine Sorge, einfach reingehen. Das Frettchen ist grad sowieso nicht da“, sagte sie und huschte an uns vorbei und die Treppe hoch.

Nala und ich betraten das große Zimmer. Auf der einen Seite stand ein riesiger Schreibtisch – Mahagoni wahrscheinlich – und auf der anderen waren mehrere Telefone auf kleinen Tischen aufgereiht. Auf jedem Tisch lag dazu ein kleines Heftchen.

„Hat dieses Mädchen unsere Direktorin gerade ein Frettchen genannt?“, fragte Nala geschockt, während ich zielstrebig auf das Telefon am linken Rand ging. Ich nickte ihr zu.

„Ich denke schon.“ Für einen Moment starrte ich das grüne Telefon mit der Wählscheibe an. Nicht weil ich so etwas nur im Laden meiner Mutter gesehen hatte, sondern weil mir bewusst wurde das ich ein kleines Problem hatte. „Nala, ich weiß die Nummer meiner Mutter nicht auswendig.“

„Wer weiß das schon in diesem Jahrhundert“, murmelte Nala und griff nach dem kleinen Heftchen. Summend blätterte sie darin. „Du heißt Carpenter, richtig? Gut … Aspen … Byrd … Carpenter, voilà.“ Grinsend zeigte sie mir die Seite, auf der mein Name stand und darunter eine Nummer. „Das wusste ich noch von meinem Bruder, sonst hätte er uns nie anrufen können.“

Dankend lächelte ich sie an und wählte die angegebene Nummer. Mit dem Hörer ans Ohr gedrückt trat ich von einem Bein auf das andere.

Allô?“, meldete sich die liebliche Stimme meiner Mutter. Sofort wurde mir ganz warm ums Herz.

„Hast du nicht immer gesagt, man muss sich mit seinem Namen nennen, Maman?“, fragte ich amüsiert und grinste dann meine neue Freundin an. Diese zeigte mir Daumen hoch.

Chérie? Ach wie schön dich zu hören. Geht’s dir auch gut? Hast du schon Freunde gefunden?“ In England hatte es mich immer genervt, wenn Maman dauernd besorgt war. Aber hier in Kanada und so weit entfernt von ihr, fand ich es beruhigend.

„Ja“, lächelte ich also. „Das Mädchen, mit dem ich mir ein Zimmer teile, ist sehr freundlich. Sie heißt Ninette und -“ Ich musste kichernd abbrechen, da Nala mir in die Seite zwickte und mir gegen die Beine trat.

„Freut mich, dass du so schnell Anschluss gefunden hast, chérie.“ Ich konnte das Lächeln meiner Mutter in ihrer Stimme hören. „Freunde kann man immer gebrauchen.“ Apropos Freunde. Ich schnappte nach Luft, als mir einfiel, dass ich Haven immer noch nicht benachrichtigen hatte können.

„Maman, hast du Haven Bescheid gesagt?“, fragte ich und schloss verzweifelt mein Augen. Bitte sag ja, bitte sag ja.

„Natürlich, chérie. Ich soll dir schöne Grüße ausrichten.“

„Gruß zurück“, murmelte ich erleichtert und fuhr mit einer Hand über mein Gesicht. Wie hatte ich Haven vergessen können? Meinen allerbesten Freund. Aber jetzt war alles gut. Er war informiert. „Kannst du mir vielleicht seine Nummer geben? Dann kann ich ihn anrufen und -“

Chérie, ich glaube, du darfst niemanden außer mir anrufen“, erklärte meine Mutter sanft. Verwirrt runzelte ich meine Stirn und schüttelte den Kopf.

„Maman, das würde doch keiner merken“, erwiderte ich, nachdem ich mich im immer noch leeren Raum umgesehen hatte. Nala, die vermutlich mitbekommen hatte, worum es ging, nickte eilig. Ich hörte meine Mutter in der Leitung seufzen.

„Die Antwort ist 'nein', Rubie.“

7 Jahre Schneeregen

Подняться наверх