Читать книгу 7 Jahre Schneeregen - Anke-Larissa Ahlgrimm - Страница 4
I
ОглавлениеHavens Sicht
[10. August, 2002]
„Versuche dich zu beeilen“, rief Mum mir nach, als ich bereits die Treppen vor unserem Haus runterlief. In meinen Händen hielt ich ein Tablett mit kleinen Muffins, die wir gerade erst aus dem Ofen geholt hatten. Wie immer war es meine Aufgabe, das Gebäck bei der Bäckerei vorbeizubringen. „Und grüße Barbara von mir!“
„Mach ich!“ Meine Stimme war wahrscheinlich so laut, dass die ganze Straße mich hören konnte, aber ich kannte jeden hier und ich war mir sicher, ich würde niemanden stören. Zumindest nicht, wenn ich einmal am Tag laut schrie.
Der Weg zur Bäckerei dauerte nur zehn Minuten und da ich ihn öfter ging, war es auch nicht sonderlich aufregend. Es war Hochsommer, die meisten Stadtbewohner – oder zumindest, die, die Kinder hatten – waren buchstäblich ausgeflogen und sonnten sich nun in der Sonne Italiens. Mum, meine Schwester Jada und ich blieben wie immer hier, da wir das Geld, das wir für einen Urlaub ausgeben würden, lieber für andere Sachen ausgaben und dann im Herbst vielleicht für ein Wochenende wegfuhren. Das machten wir schon so, seit dem ich denken konnte und ich hatte nie ein Problem damit.
„Haven! Wie schön dich zu sehen“, begrüßte mich die ältere Dame hinter der Theke, kaum hatte ich die Bäckerei betreten. Wie immer trug sie ihre rote Schürze und ihr freundlichstes Lächeln.
„Hallo, Barbara“, grinste ich und stellte das Tablett auf der Glastheke ab. Während Barbara noch die Muffins begutachtete, nahm ich mir einen davon und entfernte das Papier vorsichtig. „Ich soll dich noch von Mum grüßen.“
„Gruß zurück, aber ihr müsst das wirklich nicht dauernd machen. Wir sind eine Bäckerei, wir können gut selber Muffins backen“, sagte Barbara in einem strengen Ton und zog ihre Augenbrauen hoch. Amüsiert, da sie es nicht wirklich ernst meinte, rollte ich mit den Augen und biss in den Muffin.
„Aber dann könntet ihr sie nicht verschenken.“
„Sprich nicht mit vollem Mund“, lachte sie kopfschüttelnd und beugte sich über die Theke, um mir einen Krümel von den Mundwinkeln zu wischen. Schmunzelnd kaute ich weiter auf dem Gebäck. „Und was hat mein Lieblingsjunge heute noch vor?“
„Lesen“, antwortete ich ehrlich und verlagerte mein Gewicht von einem Bein auf das andere. Die grauhaarige Frau stieß ein leises Lachen aus. Wenn sie lachte, sah sie viel jünger und entspannter aus. Ich liebte es Menschen zum Lachen zu bringen und bei Barbara liebte ich es fast noch mehr.
„Ich sehe, du bist ein vielbeschäftigter Mann.“ Barbara löste die Schleife ihrer Schürze, um sie danach etwas fester zu binden. Dann richtete sie das Tablett auf der gläsernen Theke und stellte dann ein kleines Papierschild daneben, das die Kunden höflich aufforderte sich einen Muffin zu nehmen. Das Schild hatten Jada und ich vor ein paar Monaten gebastelt und die Bäckerei hatte es nun behalten, da Barbara wusste, wir würden nicht aufhören für sie zu backen. „Dann überlasse ich dich mal wieder deiner Lektüre.“
„Danke, Babs. Schönen Tag noch!“ Lächelnd winkte ich ihr und ihren Kolleginnen zu und verließ dann das kleine Geschäft. Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und mein Buch weiter zu lesen. Mum hatte mir letztens erst Harry Potter und der Stein der Weisen geschenkt und seit dem war ich gerade zu gefangen in der Welt der Zauberer.
Ich war schon fast Zuhause und gerade in unsere Straße eingebogen, als ich jemanden entdeckte. Dieser Jemand war ein kleines Mädchen, das mitten auf dem Bürgersteig saß und sich mit großen Augen umsah. Verdutzt blieb ich stehen. Ich hatte sie noch nie hier gesehen, weshalb ich nicht wusste, ob irgendwer ein Auge auf sie hatte. Also ging ich vor sie in die Hocke, damit wir etwas mehr auf Augenhöhe waren.
„Hallo, ich bin Haven und du?“ Das Mädchen mit den hellblonden Haaren sah mich neugierig an, während sie weiterhin auf ihren Fingernägeln kaute.
„Maman m’appelle chérie“, nuschelte sie. Meine Augenbrauen schossen sofort in die Höhe. Fremdsprachen waren nicht sonderlich meine Stärke, aber wenn ich mich nicht täuschte, handelte es sich hierbei um Französisch. Eine Sprache, die ich weder sprechen konnte noch lernte
„Cherry?“, hakte ich deswegen unsicher nach. „Ist dein Name Cherry?“ Ein ziemlich großer Stein fiel mir vorm Herzen, als die Kleine nickte. Zumindest wusste ich ihren Namen. „ Wohnst du hier in der Straße?“
„Paris“, antwortete Cherry kopfschüttelnd. „Chez Mamie.“
„Du wohnst in Paris?“ Das würde die französische Sprache erklären. „Aber ist deine Mutter nicht hier in der Nähe?“
Cherry zuckte mit den Schultern und murmelte etwas auf Französisch. Nachdenklich sah ich in ihre blauen Augen. Ich konnte sie ja schlecht hier auf dem Boden sitzen lassen und dazu ganz alleine.
„Weißt du was? Wir werden deine Mum schon finden. Na komm“, sagte ich lächelnd und stellte mich wieder aufrecht hin. Ich erwartete, dass Cherry aufstand und mir folgte, doch sie blieb stumm sitzen und streckte ihre Arme nach mir aus. Schmunzelnd hob ich sie hoch und setzte sie auf meine Hüfte. „ Wo hast du Mummy zuletzt gesehen?“
„Là-bas.“ Mit ihrem kleinen Finger deutete sie die Straße entlang, wo ein großer Anhänger parkte. Als wir näher kamen, bemerkte ich, dass der Wagen vor unserem Haus stand. Wie hatte ich ihn davor nicht bemerken können? Auch Cherry betrachtete das Fahrzeug mit gekräuselter Stirn. Es schien so als würde sie seinen Anblick nicht mögen. Plötzlich trat eine Frau aus unserem Nachbarhaus. Sie trug einen Karton in den Händen, jedoch fiel ihr das aufgrund ihres Schwangerschaftsbauches etwas schwer.
„Wie hätte ich denn ahnen sollen, dass du auch Sachen deiner Mutter in Kartons gepackt hast?“, rief sie ins Haus. Ihre Stimme war von einem dicken französischen Akzent geprägt, weswegen ich keine Zweifel hatte, dass sie zu Cherry gehörte. Vor allem merkte ich es aber daran, dass Cherry zu strahlen begann und ich sie absetzen musste, damit sie nicht aus meinen Armen sprang. Also stellte ich sie wieder auf ihre eigenen Füße, damit sie zu der brünetten Frau rennen konnte. Diese sah sie erst überrascht an und nahm sie dann auf den Arm.
„Chérie, qu’est-ce que tu as fait?Oú étais-tu? Je me suis fait du souci!“ Ich hörte noch eine Weile zu, wie die Frau – die Cherrys Mutter zu sein schien – zu dem Mädchen auf französisch sprach. Für mich klang es sehr wie eine Standpauke, jedoch verstand ich wirklich kein Wort. Erst als ein Mann dazu trat, wandte ich meinen Blick von den Beiden ab, um ihn zu beobachten. Ich war mir ziemlich sicher, dass er Cherrys Vater war. Sein blondes Haar und die hellen Augen ähnelten denen von Cherry sehr und auch seine Gesichtszüge glichen ihren. Er war auch derjenige, der mich endlich bemerkte.
„Hi, Kleiner“, sagte er lächelnd und trat einige Schritte auf mich zu. Ich wollte ihm sagen, dass er mich nicht ‚Kleiner‘ nennen sollte, jedoch hielt ich das nicht für die beste Idee. „Hast du Rubie gefunden und sie hergebracht?“
Verwirrt nickte ich. „Ihr Name ist Rubie?“
„Genau und ich heiße Thatcher, Thatcher Carpenter. Wir ziehen gerade hier ein, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.“ Grinsend deutete Thatcher auf das Haus hinter sich. Für einen Moment wollte ich erzählen, dass ich dachte seine Tochter hieße Cherry. Doch dann fiel mein Blick auf Rubie, welche nun in den Armen ihrer Mutter lag und ihr Gesicht in ihrer Schulter vergrub. Vielleicht wäre dieses Missverständnis irgendwann eine lustige Anekdote, die ich ihr erzählen konnte, wenn sie älter war.
„Wir wohnen gleich hier“, sagte ich lächelnd und deutete auf unser Reihenhaus gleich neben dem der Carpenters. Um ehrlich zu sein, hatte ich gar nicht bemerkt, dass irgendwer neben uns einzog. Allerdings bekam man so einiges nicht mit, wenn man in seinem Zimmer blieb und ein Buch nach dem anderen verschlang. „Ich sollte auch wieder zu Mum.“
„Das wäre wohl besser, sonst macht sie sich noch Sorgen, wie Lucie“, scherzte Thatcher und zwinkerte mir zu, woraufhin seine Frau ihm irgendwas Französisches an den Kopf warf. „ Wir sehen uns dann …“
„Haven“, antwortete ich schmunzelnd. „Mein Name ist Haven.“ Thatcher warf mir ein breites Lächeln zu und ich wollte gerade die Treppen zu unserer Haustür erklimmen, als Rubie nach mir rief. Überrascht drehte ich mich um und sah zu dem kleinen Mädchen, das mir hinterher rannte.
„Au revoir, ‘Arry“, flötete sie und winkte mir mit beiden Händen, bevor sie auf dem Absatz umkehrte und zu ihren Eltern zurück lief. Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen, betrat ich unser Haus. Ich würde sie definitiv wiedersehen.
∞
Ich hatte wirklich nicht geahnt Rubie so schnell wiederzusehen. Als ich jedoch kurz nach Mittag die Treppen runter ging und in das Wohnzimmer trat, wurde ich mit einem kleinen Mädchen auf unserem Teppich konfrontiert. Sofort fiel mein Blick auf die offene Terrassentür und den Garten, den wir uns mit den Carpenters teilten. So war sie also ins Haus gekommen.
„Warum sitzt du immer auf dem Boden, wenn ich dich antreffe?“, fragte ich amüsiert und kniete mich vor ihr auf unseren weichen Teppich. Das breite Grinsen, das sich auf Rubies Lippen ausbreitete, ließ ihre Augen erstrahlen.
„Weiß nicht“, antwortete sie und zuckte ahnungslos mit den Achseln.
Lachend hob ich eine Augenbraue. „Ach, Madame spricht Englisch? Wie kommt’s?“
„Daddy sagt, du verstehst nicht.“
„Da hat er vielleicht Recht, französisch ist nicht gerade eine meiner Stärken“, murmelte ich schmunzelnd und strich mir eine Locke aus der Stirn. „ Wie lange sitzt du schon hier?“
Erneut zuckte Rubie mit ihren Achseln. Lachend erhob ich mich und hielt ihr eine Hand hin, damit sie sich hochziehen konnte. Dieses Mal ergriff Rubie sie.
„Wie wäre es, wenn ich dir unser Haus zeige? Hättest du Lust darauf?“
„Ja!“ Rubies Augen strahlten, wie die hellsten Sterne im Nachthimmel, als sie meine Hand in ihre nahm und aufgeregt auf und ab sprang. „Los, los!“
„Immer langsam mit den jungen Pferden, Cherry“, sagte ich amüsiert. Mein Blick schweifte bereits durch den Raum, während ich mir Gedanken machte, was ich ihr alles zeigen konnte.
„Rubie“, verbesserte sie mich leise.
Grinsend tippte ich ihr auf die Nasenspitze. „Zu spät, jetzt heißt du schon Cherry.“ Ich machte eine weit ausholende Geste und stellte sicher, dass Rubies Augen auf mir lagen. „Dies ist unser Wohnzimmer. Da ist unser Fernseher auf dem wir Filme schauen und das Sofa ist so bequem, es könnte auch ein zweites Bett sein. Wo soll’s jetzt hin?“
„Küche“, sagte Rubie bestimmend und zog mich in den Flur, als wüsste sie wohin sie gehen musste. Mit gehobenen Augenbrauen folgte ich ihr. Im Flur blieb sie dann etwas hilflos stehen und sah mich auffordernd an. Ich musste mir ein belustigtes Kopfschütteln verkneifen und führte sie stattdessen in unsere kleine Küche.
„Das ist unsere Küche. Nichts Besonderes. Ich glaube, man sagt dazu klein, aber fein.“ Ich blickte mich in unserer Küche um, als stünde ich zum ersten Mal hier. Ich betrachtete die beigen Schränke, den brummenden Kühlschrank und den Obstkorb, den ich nur anrührte, wenn Mum Bananen gekauft hatte.
Danach zeigte ich Rubie jeden noch so kleinen Raum im Erdgeschoss – mit Ausnahme von dem Schlafzimmer meiner Mum -, bevor ich Rubie lachend die Treppen auf dem Rücken hoch trug. Ihr glockenhelles Lachen schallte durch das ganze Haus und ich fragte mich, warum ich mich zuvor nie viel mit kleinen Kindern abgegeben hatte. Sie waren zauberhaft und fast schon engelsgleich – zumindest in Rubies Fall.
„Okay, hier drüben ist mein Zimmer, das ist ein ehemaliges Büro und dort ist das zweite Bad“, erklärte ich, während ich auf die verschiedenen Türen deutete. Rubie sah sich mit weiten Augen um als würde ich sie gerade durch ein antikes Schloss führen und wir wären gerade im Schlafgemahl des Königs gewesen.
„Und das?“ Neugierig betrachtete sie die weiß gestrichene Tür, auf der die Buchstaben JADA draufgeklebt wurden. Sie stand einen klitzekleinen Spalt offen, wahrscheinlich damit meine Schwester nicht komplett erstickte in ihrem Loch.
„Das ist das Zimmer von meiner Schwester Jada, also Sperrgebiet, wenn du nicht gerade aufgefressen werden willst.“ Kaum hatte ich dies ausgesprochen, lugte ein brünetter Haarschopf durch den Spalt und ein paar braune Augen starrten mich grimmig an. Spöttisch lächelte ich meine Schwester an. „Da ist ja das kleine Monster.“
„Ich bin älter und größer, Haven“, sagte sie bestimmend. Dann fiel ihr Blick auf Rubie neben mir. Sofort verließ sie ihre kleine Höhle und stellte sich zu uns in den Flur. „Und wer bist du?“
„Rubie“, antwortete das kleine Mädchen lächelnd und hielt Jada ihre Hand hin. Grinsend wurde sie ergriffen und geschüttelt.
„Von nebenan“, fügte ich hinzu. „Ich zeige ihr gerade unser Haus.“ Um meine Aussage zu unterstützen, nickte Rubie eilig und schenkte Jada ihr breitestes Grinsen. Jada erwiderte dies und kniff unserer neuen Nachbarin in die Wange.
„Willst du mein Zimmer auch sehen?“ Erneut nickte Rubie, dieses Mal eindeutig begeistert und stürmte fast schon an Jada vorbei in das kleine Zimmer. Ich folgte den Mädchen und lehnte mich schließlich an den Türrahmen. Die Wände in Jadas Zimmer waren in einem Pastelblau gestrichen, nicht mehr wie früher in einem grellen Pink. Jedoch schlief sie immer noch in derselben Disney Bettwäsche wie früher – auch noch mit 14 Jahren. „Okay, das sind meine *NSYNC Poster, aber sprich mich bitte nicht darauf an, ich bin noch traumatisiert. In der Kiste sind meine alten Puppen, also wenn du möchtest, kannst du gerne ein paar haben. Oh, und das ist O’Malley, mein Kater.“ Kaum hatte Rubie den orangen Kater auf Jadas Sessel entdeckt, flitzte sie zu ihm. Es war ein Glück, dass O’Malley bereits schon einige Jahre auf dem Buckel hatte und deswegen nicht Reißaus nahm. Rubie schien ihre Hände gar nicht mehr von dem Kater nehmen zu wollen.
„Ich habe auch eine Katze“, sagte ich schließlich – zugegeben auch um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen. „Sie heißt Nox und ist bestimmt in meinem Zimmer.“ Rubies Augen wurden so groß wie Teller, weswegen Jada und ich einen wissenden Blick austauschten. Vermutlich hatten wir uns für das Mädchen gerade ungewollt unentbehrlich gemacht.