Читать книгу 7 Jahre Schneeregen - Anke-Larissa Ahlgrimm - Страница 6

III

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Rubies Sicht

[10. September, 2004]

Lächelnd bettete ich meinen Kopf auf meine verschränkten Arme, welche auf der Fensterbank ruhten, und starrte hinaus. Ich hatte mich auf einen kleinen Hocker stellen müssen, um aus dem Fenster sehen zu können, doch dies störte mich nun kaum mehr. Mit einem Mal hörte ich nicht mehr den Lärm der Baustelle, die gerade in meinem Stockwerk herrschte, und ich konzentrierte mich lediglich auf die sonnenbeschienenen Hausdächer unserer Stadt. Es war später Nachmittag und ich war erst vor wenigen Stunden aus der Schule nach Hause gekehrt. Bis jetzt konnte ich den Fragen meiner Mutter ausweichen, die sie mir seit einiger Zeit täglich stellte. Wie war dein Tag? Hast du jemand Nettes kennengelernt? Oder sogar neue Freunde gefunden?

Meine Antworten waren ebenfalls immer die Gleichen. Der Tag war schön, ich habe niemanden neuen gefunden und keiner meiner Schulfreunde war so toll wie Haven. Bei dem letzten Satz rümpfte meine Mutter immer unscheinbar ihre Nase. Ich hatte noch nicht wirklich herausgefunden, warum Mama so auf meinen besten Freund reagierte. Sie müsste ihn eigentlich lieben. Schließlich war er so nett und freundlich und immer für mich da.

Vielleicht bildete ich mir ihr Verhalten auch lediglich ein. Schließich war sie immer fürsorglich gewesen und hatte immer ein Auge auf meine Freunde gehabt – auch in Paris.

„Was zum Teufel stellen diese Leute mit den Zimmern deiner Brüder an?“ Havens Stimme erschreckte mich zu tiefst, weswegen ich beinahe von dem kleinen Hocker fiel, auf dem ich stand. Nachdem ich jedoch begriffen hatte, dass es sich nur um meinen besten Freund handelte, drehte ich mich begeistert um.

„Haven!“ rief ich lachend aus und lief über die Matratzen auf dem Zimmerboden auf den großen Jungen zu. Meine Arme umschlangen seine Hüfte und ich vergrub mein Gesicht in seinen Bauch. „Sie bauen bei den Jungs einen Anbau hin.“ Meine Stimme wurde von Havens Pulli gedämpft, doch er würde es schon trotzdem verstehen. Keine Sekunde später löste sich Haven aus meiner Umarmung und warf mir einen verwirrten Blick zu.

Ich ließ mich ruckartig auf einer der Matratzen nieder und klopfte auf den Platz daneben, um Haven anzudeuten, er solle sich neben mich setzen.

„ Wieso braucht ihr denn einen Anbau? Ich dachte, das Baby kriegt das Büro von deinem Vater?“, fragte Haven. Auf meine Lippen huschte ein breites Lächeln, wie immer wenn ich an die Schwangerschaft meiner Mutter dachte. Auch wenn Geschwister meistens ziemlich nervig waren, freute ich mich trotzdem auf noch mehr kleine Füße auf dem Parkettboden.

„Das ist ein Geheimnis“, grinste ich schelmisch und verknotete meine Beine zu einem Schneidersitz. Ich war ziemlich stolz auf mich, dass ich noch nicht geplappert hatte. Ich trug dieses Geheimnis nun schon mehrere Monate mit mir herum und das war für meine Verhältnisse ein ziemlicher Rekord.

„Ein Geheimnis? Aber ich bin doch dein bester Freund?“ Schmollend schob Haven seine Unterlippe vor und riss seine grünen Augen auf. Er wusste, dass ich so nicht lange standhalten konnte. „Na komm, ich werde schließlich auch auf das Baby aufpassen müssen.“ Da hatte er allerdings Recht. Immer wenn Mrs Walsh nicht konnte, durfte Haven sich um mich und meine Brüder kümmern.

„Babys“, verbesserte ich ihn schließlich seufzend. Sofort wurden Havens Augen noch größer als zuvor.

„Was? Es werden Zwillinge?“

Kichernd beugte ich mich zu ihm vor, um ihm ins Ohr zu flüstern. „Drillinge, aber das darfst du niemandem verraten.“

„Warum nicht?“

Ich zuckte ahnungslos mit den Achseln. „ Weiß nicht, Maman will, glaube ich, die Leute überraschen. Sie will auch nicht wissen, ob es Jungs oder Mädchen werden.“

„Und wann ist der Geburtstermin? War das nicht Januar?“, hakte Haven neugierig nach und ich nickte. Ich wusste gar nicht, wie wir es geschafft hatten monatelang nicht über die Babys zu reden. Zu manchen Zeiten war es mein liebstes Thema und meine Mutter musste mir wortwörtlich den Mund stopfen, damit ich überhaupt mal aufhörte zu reden.

„Aber die Ärztin hat gesagt, dass Mehrlinge oft früher kommen, also könnte es auch Dezember werden.“ Mit einem Lächeln auf den Lippen, erinnerte ich mich an den Arzttermin vor einer Woche, bei dem ich dabei sein durfte. Ich hatte neben meiner Mutter auf einem kleinen Hocker gesessen, hatte meine Geschwisterchen auf dem Ultraschall gesehen und ihrem schnellen Herzschlag gelauscht. Abends wenn wir alle nach dem Abendessen auf dem Sofa saßen, legte ich gerne meinen Kopf auf dem Bauch meiner Mutter ab. Einige Male schon hatte mir jemand an den Kopf getreten, als wäre er ein Fußball – weswegen ich auch befürchtete, es würde mindestens ein Bruder für mich dabei sein. Ich liebte ja meine Brüder, aber eine Schwester wäre zur Abwechslung auch mal nett.

Plötzlich verzog ich mein Gesicht erschrocken und schlug mir eine Hand vor den Mund. Haven hob bloß fragend eine Augenbraue.

„Du darfst Maman nicht sagen, dass du es weißt. Die macht Pariser Steak aus mir“, sagte ich beunruhigt und senkte beim letzten Satz meine Stimme, sodass nur noch ein Flüstern meine Lippen verließ. Havens süffisanten Blick ignorierte ich gekonnt, während ich mir ausmalte wie meine Mutter reagieren würde. Ce n’est pas bon, ce n’est pas bon.

„Ich werde schon nichts verraten, Cherry“, beruhigte mich Haven und legte mir eine Hand auf die Schulter. Seufzend nickte ich und lehnte mich an seine Schulter. „Wie wäre es, wenn wir einen Film sehen?“

[12. September, 2004]

Mit einem leisen Gähnen setzte ich mich in meinem Bett auf. Die Digitaluhr auf meinem Nachttisch sagte mir, dass es gerade einmal kurz nach sieben Uhr war, weswegen ich erst mal ein tiefes Seufzen ausstieß. Ich wollte eigentlich noch lange nicht aufstehen, allerdings hatte ich Durst und vielleicht würde ein Glas Milch mich ja wieder schläfrig machen. Deshalb schwang ich also meine Beine über die Bettkante und stellte mich auf den kühlen Teppichboden. Um zu der Zimmertür zu gelangen, musste ich um die Matratzen auf dem Boden schleichen, da dort meine Brüder schliefen, bis ihre Zimmer wieder bewohnbar waren. Maxime und Yves schliefen jedoch fröhlich weiter, sogar als ich aus Versehen gegen eine Kommode lief und es laut schepperte.

Mon dieu“, flüsterte ich leise, sobald ich endlich die Treppen erreicht hatte und in Ruhe in die Küche gehen konnte. Auf dem Weg dorthin stockte ich jedoch. Ich konnte mich noch genau erinnern, wie mein Vater am Abend zuvor seine Schuhe unordentlich im Flur liegen gelassen hatte, nachdem er von der Arbeit nach Hause kam – doch der Flur war ordentlicher als je zuvor. Auch kam es mir so vor, als wäre der Kleiderständer nicht so vollbepackt wie sonst.

Kopfschüttelnd betrat ich die Küche. Es war einfach viel zu früh.

Als ich jedoch den Kühlschrank öffnete, musste ich erneut stutzen. Normalerweise war das erste, das meine Aufmerksamkeit erhaschte, die Zettel, die mein Vater auf seinen Pudding klebte, mit der Aufschrift ‚Meins‘. Nirgendwo war ein Zettel zu sehen, im Gegensatz zu dem Pudding, welcher wie immer in der Mitte des Kühlschranks thronte.

Ein Schauer lief mir über den Rücken, als mir ein schrecklicher Gedanke kam. Vielleicht war Dad weg? Nein, er war bestimmt nur unerwartet auf Geschäftsreise gefahren und sein Pudding würde sonst schlecht werden.

Doch diese optimistischen Gedanken schafften es nicht meine Angst zu übertönen, weshalb ich schnellen Schrittes ins Wohnzimmer ging. Ohne darüber nachzudenken, trugen meine Beine mich zu der Kommode, auf der unsere Familienfotos standen. Mein Blick fiel auf die Wand dahinter, an der einmal das Hochzeitsfoto meiner Eltern gehangen hatte. Anstelle dessen hing dort nun ein Foto von mir, das an meiner Einschulung gemacht worden war.

Dieses Mal irrte ich mich nicht. Ich wusste doch wohl, welche Fotos in unserem Haus hingen. Maman war oft vor dem Hochzeitsfoto gestanden und hatte es lächelnd angesehen. Sie hatte mir immer erzählt, wie sie ihr Hochzeitskleid selbst genäht hatte und wie Dad beinahe in ihre Hochzeitstorte gefallen war. Irgendwas war hier faul.

Ich verbrachte bestimmt die nächste viertel Stunde damit nach Anzeichen meines Vaters zu suchen. Doch ich fand nichts. Keine Actionfilme am Fernseher, keine alten Literaturschätze neben dem Sofa, keine Hausschuhe auf der Treppe und keine Bleistifte, die sonst wirklich überall zu finden waren.

Nur nach einem traute ich mich nicht zu suchen. Nach meinem Vater selbst im Bett meiner Eltern. Ich wusste, eigentlich müsste er dort neben meiner Mutter liegen und noch tief schlafen. Er war wie ich ein Langschläfer und nichts – außer meiner Mutter – konnte ihn früh aus den Federn zerren. Allerdings war das Bett meiner Eltern auch der einzige Ort, wo ich Antworten auf meine Fragen finden konnte.

Nie war ich so langsam die Treppe hochgeschlichen, wie ich es jetzt tat. Mir kam es so vor, als wären meine Beine aus Wackelpudding und würden jeden Moment einknicken. Ich holte tief Luft, sobald ich vor der Tür des großen Schlafzimmers stand. Ich würde das schaffen. Ich musste nur die Tür öffnen und mein Vater würde dort schlafen. Ich brauchte vor gar nichts Angst zu haben.

Tränen stiegen mir in die Augen, als ich die leere linke Bettseite entdeckte. Auf der großen Matratze lagen lediglich ein Kopfkissen und eine Bettdecke, in die meine Mutter noch eingewickelt war. Meine Augen huschten zu der Schranktür, die noch offen stand und mir die leeren Fächer dahinter preisgab.

Ein Schluchzen verließ unbeabsichtigt meine Lippen und ich presste mir sofort meine Hände vor den Mund, doch es war zu spät, denn meine Mutter war bereits aufgeschreckt.

„Rubie?“, fragte sie verschlafen und musterte mich mit müden Augen. Unter ihren braunen Augen konnte ich Augenringe ausmachen, die sonst nur mein Vater hatte. Bei dem Gedanken an meinen Vater, schluchzte ich erneut auf. „Hast du schlecht geschlafen?“

Ich schüttelte wild meinen Kopf. „Wo ist Dad?“ Meine Stimme war tränenerstickt und es war ein Wunder, dass meine Mutter mich überhaupt noch verstand. „Und warum hat er alle seine Sachen mitgenommen?“ Mamans Gesichtszüge waren nun etwas sanfter geworden, bevor sie schmerzverzerrt ihr Gesicht verzog. Stumm hob sie die Ecke ihrer Bettdecke an, was wie immer eine Einladung für mich war, um zu ihr ins Bett zu kriechen. Eilig kam ich der Einladung nach und versuchte sogar meine kalten Hände von ihrer nackten Haut fernzuhalten, da sie sich immer darüber beschwerte. Ich bettete meinen Kopf auf ihrer Brust und atmete ihren beruhigenden Duft ein.

Maman sprach nicht und beantwortete schon gar nicht meine Fragen. Jedoch tat es gut, eine Schulter zu haben, an der ich mich ausheulen konnte. Während meine Mutter sanft mit ihrer Hand über meinen Rücken strich, ließ ich meine Tränen in ihrem Nachthemd versiegen und lauschte konzentriert ihrem Herzschlag. Ich spürte sofort, wie es mich beruhigte und langsam wieder in den Schlaf wiegte. Maman half schon immer besser bei Schlaflosigkeit, als es irgendein Glas Milch konnte.

Ich war schon beinahe eingeschlafen, als ich die leise Stimme meiner Mutter vernahm. „ Wir brauchen keinen Mann, um glücklich zu sein, chérie.“

Das zweite Mal erwachte ich ein paar Stunden später. Meine Mutter hatte anscheinend das Fenster geöffnet, bevor sie das Zimmer verlassen hatte, da nun eine leichte Brise über meine nackte Haut wehte. Ich rümpfte meine Nase. Wollte Maman etwa, dass ich mich erkältete? Erst als ich das leere Bett genauer betrachtete, fielen mir wieder meine Erkenntnisse des Morgens ein. Dad war weg. Vermutlich für eine sehr lange Zeit. Für einen Moment überlegte ich, ob ich nach unten zu meiner Mutter wollte, die bestimmt schon Frühstück gemacht hatte. Jedoch würde ich es nicht ertragen können, wenn sie mich mit einem besorgten Blick bedenken und mir mein Haar streicheln würde. Nein, lieber würde ich Haven davon erzählen. Schließlich lebte sein Vater auch nicht mehr bei ihnen, weswegen er mich bestimmt besser verstand.

Und so schlich ich zum zweiten Mal am Tag die Treppen runter, nur um dieses Mal durch die Glastür in den Garten zu verschwinden. Das noch vom Tau feuchte Gras an meinen nackten Füßen jagte mir einen Schauer über den Rücken, doch so schnell wie ich im Garten war, war ich auch im Haus der Smiths. Ich hörte, wie Marie in der Küche herum hantierte, entschied mich aber zuerst bei Haven vorbeizuschauen.

Mein bester Freund war zum Glück bereits wach, als ich durch die offene Tür schlüpfte. Er lag bäuchlings auf seinem Bett mit einem dicken Buch in der Hand und schien vollkommen vertieft in die Welt der Charaktere.

Ich brauchte nicht mal etwas zu sagen, als ich mich neben ihn aufs Bett legte. „Guten Morgen, Cherry“, begrüßte mich seine fröhliche Stimme, ohne dass er seinen Blick von seiner Lektüre nahm. Ich blieb jedoch stumm, weswegen er doch irgendwann aufsah. Sobald er meine noch verquollenen Augen entdeckte, legte er sein Buch beiseite und zog mich näher an sich. „Was ist los?“

„Dad ist nicht da“, flüsterte ich leise und ließ meine Finger über den Saum seines Kopfkissens wandern.

Haven runzelte verwirrt seine Stirn. „Ist er wieder mit der Arbeit weg?“ Ich schüttelte meinen Kopf, doch als ich meinen Mund aufmachen wollte, um die Situation zu erklären, fehlten mir die Worte. Es fühlte sich an, als hätte jemand ein Brett in meinen Kopf gesteckt und meine Zunge verknotet. Englisch kam mir vor wie eine Fremdsprache und auf einmal fehlte mir jegliches Vokabular. Haven schien zu merken, wie ich mit mir selbst kämpfte. „Hey, ganz ruhig. Vielleicht sagst du es erst auf Französisch? Dann fallen dir bestimmt wieder die englischen Wörter ein.“ Aufmunternd strich Haven über meine Schulter, während ich versuchte meine Gedanken zu ordnen.

Il est allé et il a pris toutes ses choses.” Die Worte sprudelten geradezu aus mir heraus und Haven neben mir nickte brav, als würde er auch nur irgendwas verstehen. „Ich finde nichts mehr von Dad im Haus und Maman will mir nichts sagen.“

„Oh.“ Ja, oh. Havens Blick sagte mir, dass er dies nicht erwartet hatte und nun selbst nach den richtigen Worten suchte.

„Was, wenn ich Dad nie wieder sehe?“ Ich spürte, wie meine Augen sich erneut mit Tränen füllten und schloss sie deshalb eilig. „Ich hab ihn doch so lieb.“

„Ich kann dir nicht versprechen, dass du deinen Vater wiedersiehst“, sagte Haven schließlich nach einer Minute Schweigen. „Aber ich kann dir versprechen, dass ich bei dir bleibe.“

Erleichtert lächelte ich den Lockenkopf an. „Für immer?“

„Für immer und ewig, bis wir alt und grau sind.“

7 Jahre Schneeregen

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