Читать книгу 7 Jahre Schneeregen - Anke-Larissa Ahlgrimm - Страница 5
II
ОглавлениеHavens Sicht
[21. Juni, 2003]
An einem Samstagmorgen schlief ich gerne aus. Vor allem, weil ich innerhalb der Woche früh aufstehen und zur Schule fahren musste, hatte ich meinen Schlaf wohl verdient – eigentlich. Ich wusste nicht, wie spät es war, als meine Zimmertür knarzend aufgeschoben wurde. Mein Gefühl sagte mir, es war früher als ich es mir wünschen würde, jedoch wagte ich es nicht auf die Uhr zu sehen. Die leisen Schritte im Zimmer verstummten und ich spürte, wie jemand auf mein Bett kletterte.
„Guten Morgen, Cherry“, murmelte ich, noch schlaftrunken, bevor ich mein Gesicht weiter ins Kissen kuschelte. Für einen Moment herrschte Stille und ich wäre beinahe wieder eingeschlafen, wenn nicht ein paar kalte Hände ihren Weg zu meinen Armen gefunden hätten.
„Woher weißt du, dass ich es bin?“, fragte sie und ich musste nicht mal die Augen öffnen, um ihr Schmollen zu sehen.
„Weil Jada 15 ist und nicht mehr morgens in mein Bett kriecht.“ Um ehrlich zu sein, war dies nur die halbe Wahrheit. Wenn Mum über Nacht nicht da war, teilten meine Schwester und ich oft mal ein Bett. Allerdings kroch sie morgens nicht in mein Bett und sie war schon gar nicht so leicht, dass sie auf mir sitzen durfte. „Ist deine Mum arbeiten?“ Rubie, die sich mittlerweile zu mir unter die Decke gekuschelt hatte, nickte gegen meine Schulter. Seufzend rieb ich mir meine Augen. An Schlafen brauchte ich jetzt gar nicht mehr zu denken.
„Mrs Walsh passt auf Max und Yves auf“, murmelte sie leise. Lori Walsh war eine Frau aus unserer Nachbarschaft. Wenn Rubies Mutter auf der Arbeit war und ihr Vater für seinen Job als Architekt verreisen musste, spielte sie den Babysitter für Rubie und ihre Brüder. „Sie glaubt, ich schlafe noch.“ Ja, das klang auch vollkommen nach ihr. Auch mit ihren fünf Jahren war das Mädchen schon der festen Überzeugung, sie würde lieber ihre Zeit mit mir verbringen statt mit Mrs Walsh. Schließlich hatten wir auch Schokolade im Haus.
„Hat Mum dich reingelassen?“
„Ja, ‘s gibt Frühstück“, antwortete Rubie grinsend und ich setzte mich grummelnd auf. Ich hatte gehofft, dass Mum noch schlafen würde und Rubie durch die Terrassentür herein gekommen war, jedoch passierte dies nur in meinen kühnsten Träumen. „Na dann, komm.“
„Allez hop.“ Kichernd hüpfte Rubie von meinem Bett und ließ sich von mir beobachten, wie sie eine Rolle auf dem Teppich machte. Ich wusste nicht, wie sie es geschafft hatte, dass ich sie tief in mein Herz geschlossen hatte. An einem Tag hatte ich noch meine Zeit mit Schule und Lesen totgeschlagen und nun hatte ich einen kleinen Sonnenschein, der mir täglich ein Lächeln auf die Lippen zauberte.
„Brich dir bitte nichts, deine Mutter würde mich umbringen“, lachte ich, als ich Rubie die Treppen runter folgte. Wie immer versuchte sie zwei Treppenstufen auf einmal runter zu springen. Bis jetzt hatte sie sich nie wehgetan, doch ich konnte es schon vor mir sehen. Grinsend blickte die Blondine mich an, bevor sie in die Küche rannte.
„Da ist ja wieder mein Lieblingsmädchen“, ertönte die Stimme meiner Mutter. Als ich ebenfalls die kleine Küche betrat, hatte Mum das Mädchen bereits auf einen Hocker gesetzt und ihr einen Teller mit Rührei hingeschoben.
„Manchmal frage ich mich, warum ich hier überhaupt noch freiwillig lebe“, sagte Jada, die längst neben Rubie saß und in ihrem Frühstück stocherte. Ihr Ton triefte nur so von Sarkasmus, weswegen ich mich ihr grinsend gegenüber hinsetzte. „Grins nicht so, Mistkerl, du bist an allem Schuld.“
„Ich bin gar nicht -“, protestierte ich amüsiert, doch Mum unterbrach mich sanft mit einer Hand auf meiner Schulter.
„Darling, ich habe gehört dein Dad kommt heute aus Amerika zurück“, wandte sie sich an Rubie, welche dabei war sich ihr Frühstück in den Mund zu stopfen. Sofort hörte das Mädchen auf, Rührei auf ihre Gabeln zu schieben, und nickte aufgeregt.
„Oui“, sagte sie noch mit vollem Mund und wischte sich dann mit ihrem Handrücken über die Lippen. „Er bringt mir eine Puppe mit.“ Ich konnte ihr ansehen, dass sie sich sehr über die Rückkehr ihres Vaters freute. Außerdem lag sie mir deshalb schon seit Tagen in den Ohren. Ich kannte die Carpenters nun erst seit knapp einem Jahr, jedoch wusste ich, dass Thatcher etwa 180 von 365 Tagen im Jahr nicht zu Hause war. Er war immer auf Geschäftsreisen, immer auf der Suche nach neuen Kunden, immer auf der Arbeit. Rubie litt sehr darunter. Sie liebte ihren Vater sehr und niemand kannte das Gefühl ohne Vater aufzuwachsen besser als ich. Aber sie hatte noch einen Vater – die Hälfte des Jahres.
Ich sah meinen Dad höchstens an Feiertagen, wenn er sich in unser Haus traute und dann nur, um mir und meiner Schwester Geschenke zu übergeben.
„Und was habt ihr drei heute vor?“ Mum sah uns neugierig an, während sie an ihrer Teetasse nippte. Jada war die Erste, die ihre Stimme erhob.
„Ich fahre nachher noch zu Tessa. Sie redet dauernd von dem Pool ihrer Nachbarn, also werden wir den ausfindig machen“, sagte sie grinsend und schob sich den letzten Rest ihres Frühstücks in den Mund. Mum hob skeptisch eine Augenbraue.
„Ich werde dich nicht vom Polizeirevier abholen, Jaye“, warnte sie meine Schwester, welche nur genervt nickte. Ich kannte Jada gut genug, um zu wissen, dass sie sich nie bei so etwas erwischen lassen würde. Deswegen dachte der Großteil unserer Nachbarschaft auch, dass sie ein braves und perfektes Mädchen war. Das würde ihr wahrscheinlich noch so einige Türen öffnen.
„Wir haben noch gar nichts vor“, antwortete ich schließlich für Rubie und mich. „Vielleicht schauen wir einen Film oder wir bauen eine Höhle in meinem Zimmer?“ Ich warf dem schmatzenden Mädchen einen fragenden Blick zu und erntete ein begeistertes Grinsen. Im Gegensatz zu mir hatte Rubie bereits alles auf ihrem Teller verdrückt, weswegen sie nun enthusiastisch auf ihrem Hocker wippte und mich aufforderte schneller zu essen. Ich kannte dies schon von ihr, weswegen ich mir genügend Zeit nahm, um mein Essen zu genießen. Die ungeduldigen Blicke von der Blondine ignorierte ich gekonnt.
∞
Es war Mittagszeit, als es plötzlich an der Tür klingelte. Jada war bereits zu ihrer besten Freundin abgehauen und Mum war auf der Arbeit, weswegen nur noch ich und Rubie in unserer riesigen Höhle aus Decken und Kissen übrig geblieben waren. Ich hatte schon eine Vorahnung, wer vor der Haustür stand, jedoch hielt ich Rubie nicht auf, als sie sich freiwillig meldete die Tür zu öffnen. Ich folgte ihr lediglich schweigend.
„Rubie“, ertönte Mrs Walshs erleichterte Stimme, sobald sie das Mädchen hinter der großen Tür entdeckte. Rubie rümpfte seufzend ihre Nase. Wir beide wussten schon, was jetzt kommen würde. „Ich habe mir ja solche Sorgen gemacht, als ich dich nicht in deinem Bett gesehen habe. Deine Mutter kommt doch bald wieder nach Hause.“ Sie log. Mrs Walsh hatte nicht erst jetzt in Rubies Zimmer geblickt und sie hatte auch gewusst, dass Rubie hier bei mir war – wie immer eigentlich. Der einzige Grund, warum sie erst jetzt kam, war Lucie Carpenter, welche von der Arbeit kommen würde und ihre Tochter nicht vorfinden würde. Schon viel zu oft hatte ich dieses Schauspiel mitbekommen. Lori Walsh war einfach eine verlogene Schlange, die wusste, wie man sich gut präsentieren konnte.
Erst als die blonde Frau sich vorbeugte, um Rubies Wangen zu tätscheln, entdeckte ich das Mädchen hinter ihr. Es handelte sich um Bethany Ava Walsh, die Tochter von Lori, von welcher sie jedem ausführlich erzählte – ob es denjenigen interessierte oder nicht. Bethany war – zu ihrem eigenen Unglück – Everybody’s Darling und das, obgleich sie zwei Jahre jünger war als ich. Jedes Mal, wenn ich sie in der Stadt sah, war sie in Begleitung ihrer perfektionistischen Eltern und niemals falsch gekleidet – wirklich niemals. Auch jetzt schien ihr Sommerkleid als wäre es ihr auf den Leib geschneidert worden, ihre blonden Haare steckten in einer kunstvollen Flechtfrisur und ich konnte wetten, Puder auf ihren Wangen schimmern zu sehen.
Ich schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln und als unsere Augen sich trafen, sah ich sie zum ersten Mal heute strahlen. Ich konnte nicht wirklich nachvollziehen, wie es war, wenn man von den Eltern ständig unter Druck gesetzt wurde, jedoch hieß das nicht, dass ich kein Mitleid empfinden konnte.
„Na komm, Sweetheart. Wir wollen ja nicht deine Mutter verärgern.“ Und mit diesem Satz nahm Mrs Walsh den Arm von Rubie und zog sie aus dem Haus. Rubie protestierte nicht, sie wusste es besser. Sie wusste, Mrs Walsh würde nur unverschämter werden. Also stolperte sie den Gehweg entlang, am linken Fuß eine grüne Socke, am rechten eine blaue. Nun war es Bethany die mit ihren Lippen ein ‚Es tut mir Leid‘ formte und ihrer Mutter folgte. Seufzend sah ich mich im Flur um, bevor ich mir Rubies Schuhe schnappte und alles andere, was sie hier vergessen hatte. Nachdem ich unsere Haustür hinter uns zugesperrt hatte, rannte ich zum Haus der Carpenters. Die Tür stand einen winzige Spalt offen und ich war mir sicher, dass Bethany gewusst hatte, ich würde noch zu ihnen stoßen.
Im Gegensatz zu der angenehmen Ruhe in unserem Haus, war es hier deutlich lauter. Ich konnte Rubies kleinen Bruder Maxime hören, wie er im Wohnzimmer mit seinen Spielzeugautos spielte, und ich hörte Rubie, wie sie sich im ersten Stock über Mrs Walshs kalte Hände beschwerte. Ich wollte gerade die Treppe hoch gehen, als etwas an meinem Hosenbein zupfte. Mit einem Lächeln auf den Lippen betrachtete ich den kleinen Jungen, der vor mir auf dem Fußboden saß und seine Arme nach mir ausstreckte.
„Du weißt, ich werde nicht für immer da sein, um dich zu tragen, Yves“, sagte ich lachend und setzte das Baby auf meine Hüfte. Breit grinste mich der Kleine an und klammerte sich an mich. Ich konnte es kaum erwarten, dass er anfing zu sprechen und Rubie und ich ihm unsinnige Sachen beibringen konnten. „ Gut, dann suchen wir mal deine Schwester, ja?“
Wir fanden Rubie zur Hälfte in ihrem Schlafanzug auf dem Boden ihres eigenen Zimmers. „Ich will nicht“, maulte sie und schlug die Hand von Mrs Walsh weg.
„Du brauchst deinen Mittagsschlaf“, antwortete die Frau streng und stülpte Rubie ihr Schafoberteil über. Als Rubie anfing mit französischen Wörtern um sich zu hauen, schritt ich endlich ein.
„Ich mach das schon, Lori.“ Sanft drückte ich Mrs Walsh das Baby in den Arm und setzte mich neben Rubie auf den Boden. Augenblicklich beruhigte sich Rubie und hörte auf mit ihren Beinen zu treten. „Na komm, Cherry. Ich les dir auch etwas vor.“ Ich zwinkerte dem Mädchen zu.
„Okay.“ Leise seufzte Rubie und stand auf. Ich half ihr ins Bett zu klettern, setzte mich auf die Bettkante und griff nach dem Buch auf dem Nachttisch.
Es dauerte eine halbe Stunde, bis Rubies Atem regelmäßiger wurde und sie tief eingeschlafen war. Ohne laute Geräusche zu machen, räumte ich das Buch weg und verließ das Zimmer. Rubie würde frühestens in einer Stunde wieder aufwachen, weswegen ich noch Zeit hatte zu mir nach Hause zu gehen. Wenn sie wach wurde, konnte sie immer noch zu mir kommen.
Ich hatte gerade den Fuß der Treppe erreicht und wollte das Haus verlassen, als ich hörte, wie mein Name genannt wurde.
„Lucie, wir haben doch schon oft genug darüber gesprochen“, ertönte die Stimme von Thatcher. Er und seine Frau standen sich im Wohnzimmer gegenüber und warfen sich böse Blicke zu. „Rubie kann sich anfreunden mit wem sie möchte.“
„Ich sag ja nur, dass es noch nicht zu spät ist Haven aus dem Haus zu kriegen. Wir müssen Rubie nur klar machen, dass sie ihn nicht braucht“, antwortete Lucie bestimmend und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Verwirrt runzelte ich meine Stirn. Normalerweise war ich echt nicht der Typ Mensch, der gerne lauschte, aber nun konnte ich nicht anders.
„Dir ist bewusst, wie verrückt das klingt, oder?“
„Sie ist meine Tochter, Thatcher. Und Haven ist definitiv nicht die Gesellschaft, dich ich mir für sie wünsche“, erwiderte Rubies Mutter und ich musste mir die Hand vor den Mund halten, um nicht laut zu schnauben. „Er ist sieben Jahre älter als sie und Rubie ist leicht zu beeindrucken. Er wird sie gänzlich um seinen kleinen Finger wickeln und dann kann er mit ihr anstellen, was er möchte. Außerdem habe ich gelesen, dass Minderjährige eher dem Alkoholkonsum verfallen, wenn sie ältere Freunde haben.“
„Lucie, Darling.“ Thatcher stieß ein tiefes Seufzen aus. „Haven ist doch kein schlechter Umgang. Im Gegenteil, er ist doch ziemlich gut erzogen. Ich könnte mir nur so einen Sohn wünschen und ich denke, dass sehen einige so.“ Ich hatte gar nicht gemerkt, wann ich angefangen hatte zu lächeln, jedoch taten mir jetzt bereits die Wangen davon weh. Ich hatte Thatcher schon immer gemocht, allerdings tat ich dies nun etwas mehr.
„Du hast selber zwei tolle Söhne“, schnauzte seine Frau ihn sofort an und wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, sie wäre eifersüchtig. „Wie wäre es, wenn du mal mit dem zufrieden bist, was du hast.“
„Das bin ich doch, Liebling. Aber Maxime ist drei Jahre und Yves erst neun Monate alt. Man kann sie noch gar nicht mit Haven vergleichen.“
„Ich finde trotzdem, wir sollten Haven und Rubie voneinander trennen. Letztens habe ich sie erwischt, wie beide auf der Fensterbank in ihrem Zimmer saßen. Im ersten Stock, Thatcher. Sie saßen mehrere Meter über dem Boden auf einer Fensterbank und haben ihre Beine baumeln lassen. Rubie hätte runterfallen können. Sie hätte sich verletzen können.“ An diesen Vorfall konnte ich mich noch genau erinnern, schließlich war es erst vor einer Woche gewesen. Ein Regenbogen hatte sich über den Himmel gezogen und ich wollte Rubie eine bessere Aussicht bieten. Ich hatte ja nie geahnt, dass es Lucie so sehr stören würde. Es war ja nichts passiert.
„Haven ist alt genug, um Gefahren richtig einzuschätzen. Außerdem liegt ihm auch viel an unserer Tochter. Er würde nicht zulassen, dass ihr etwas geschieht.“ Langsam wurde Thatchers Ton etwas schroffer und ich überlegte, ob es vielleicht nicht doch besser wäre, wenn ich verschwand. „Wir können dieses Gespräch gerne nochmal in fünf Jahren führen, aber momentan macht es keinen Sinn. Rubie ist glücklich, warum kannst du das nicht akzeptieren?“ Die genervte Antwort von Rubies Mutter hörte ich schon gar nicht mehr, da ich das Haus verließ. Es war mir egal, ob sie hörten, wie ich die Tür hinter mir zuschmiss. Ich brauchte einen Moment Ruhe und der beste Platz dafür war mein Bett.
Ich wusste, Lucie würde es nicht akzeptieren. Sie würde weiterhin versuchen uns auseinander zu bringen. Und egal wie einfach es sein würde, Rubie alleine zu lassen, ich würde es nicht tun.
Ich würde sie nicht alleine lassen. Komme, was wolle.