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[29. August, 2009]

Mit federnden Schritten überquerte ich den Fahrradweg. Den Blick, den mir ein alter Mann mit Gehstock zu warf, ignorierte ich gekonnt und wickelte die blaue Stoffleine ein weiteres Mal um meine blasse Hand. Seit dem vor wenigen Minuten ein Lastwagen auf der Straße vorbei geprescht war, hatte Picasso sein Schneckentempo eingestellt und zog an der Leine wie ein wildes Tier.

Haven folgte uns mit zwei Metern Abstand. Seine Hände hatte er in seinen Hosentaschen vergraben und sein hübsches rundes Gesicht war zu einem mürrischen Ausdruck verzogen. Ich wusste, dass er nur so tat als würde er mich nicht kennen, damit ihn niemand ansprach. Das machte er in letzter Zeit öfter. Mir war nicht ganz klar, weshalb. Allerdings so oft er auch unzufrieden dreinblickte, umso öfter tat er es auch nicht. Und dies war das, was zählte. Er war immer noch mein bester Freund.

Nach weiteren fünf Minuten Schweigen, lief er endlich auf selber Höhe wie ich, schenkte mir jedoch immer noch keinen Blick.

„Man geht mit seinem Kätzchen nicht Gassi“, sagte er schließlich, seine Augen immer noch auf den Asphaltweg und seine dreckigen Schuhe gerichtet. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Daran lag es also. Er schämte sich, weil am anderen Ende der Leine kein aufgedrehter Chihuahua auf und ab hüpfte, sondern ein schneeweißes Kätzchen, dessen Pfoten nicht mehr ganz so weiß waren.

„Picasso braucht Auslauf“, erwiderte ich knapp und hielt ihm meine freie Hand hin. Wie gewohnt ergriff er sie und verschränkte unsere Finger. Summend schwang ich unsere Hände zwischen uns her. Dieser Anblick war für niemanden in unserem Heimatort mehr ungewohnt. Die meisten kannten uns seit wir klein waren und wussten, dass wir unzertrennlich waren. Und wenn es einer mal nicht wusste, dachte er, wir wären Geschwister. Kein Wunder bei unserem Altersunterschied von 7 Jahren.

„Picasso ist nicht mal ein französischer Künstler gewesen“, beschwerte sich Haven und erntete einen verwirrten Blick von mir. Da hatte wohl jemand Läuse zum Frühstück gehabt. Sonst würden sie ihm ja jetzt nicht über die Leber laufen. Normalerweise nörgelte er nicht über alles und schon gar nicht darüber, dass ich – eine halbe Französin – meinen Kater nach einem spanischem Künstler benannt hatte.

„Das stimmt wohl, aber ich fand, der Name Picasso passt besser zu ihm als Braque oder Duchamp.“

Wir kamen an einer großen Straße an, weswegen ich den sich sträubenden Picasso an der Leine zu mir lockte, um ihn dann auf meinen Arm zu nehmen. Ganz zufrieden war das kleine weiße Fellknäuel immer noch nicht, doch ich ließ mich von seinen Krallen und Zähnen nicht ablenken.

Haven schwieg wieder. Ich wusste echt nicht, was mit ihm los war. Seit Monaten hatten wir diese Momente, in denen er erst wie immer war und dann wieder das grummelnde Monster aus der Mülltonne in der Sesamstraße. Eigentlich war er schon so, seit meine Mutter mir – und indirekt ihm – verkündet hatte, dass ich auf ein Internat in Québec gehen würde. Damit ich meine Muttersprache nicht verlernte und vergaß, wo ich herkam. Dass wir gar nicht aus Kanada, sondern Frankreich kamen, weigerte sie sich als Gegenargument zu akzeptieren. Französisch ist Französisch, das war zwar wirklich nicht richtig und das sollte besonders sie wissen, aber was soll's. Die Logik seiner Mutter sollte man niemals hinterfragen. Das war die goldene Regel für Heranwachsende und daran hielt ich mich mittlerweile. Schließlich würde es mir nichts bringen, wenn ich einen Aufstand machte.

„Maman will heute mit mir meine Koffer packen“, erzählte ich, als wir die Straße überquerten, um zu dem Antiquitätenladen meiner Mutter zu gelangen. „Möchtest du uns helfen?“ Um ehrlich zu sein, war dies ein kleiner Hilferuf meinerseits. Ich wollte meine Koffer noch nicht packen und schon gar nicht alleine mit meiner Mutter. Ich hatte noch die komplette nächste Woche Zeit dafür – eigentlich.

„Nein.“ Havens Antwort kam schnell und harsch. Wie wenn man sich ein Pflaster abriss. Es tat trotzdem weh. Mein trauriger Blick schien einen Schalter in ihm umzulegen.

Er blieb vor mir auf dem Gehweg stehen und legte sanft seine Arme um mich, darauf bedacht Picasso nicht zu zerquetschen. Er war riesig. Das war er schon immer gewesen. Vielleicht lag das an unserem Altersunterschied. Vielleicht aber auch daran, dass er ein Riese und ich ein Zwerg war. „Tut mir leid, ich kann euch nicht helfen, weil ich nicht will, dass du gehst.“

„Das ist kindisch“, sagte ich leise und lehnte meine Stirn gegen seine Brust. Ich konnte seinen rasenden Herzschlag spüren – vielleicht war es aber auch meiner, der in meinen Ohren pochte. „Ich bin die 11-Jährige. Ich muss kindisch sein.“ Haven seufzte schwer und strich über mein hellblondes Haar.

„Bitte werde nicht erwachsen, wenn du weg bist.“

„Versprochen. Außerdem bin ich ja Weihnachten wieder zuhause.“ Ich löste mich aus seiner Umarmung und grinste ihn breit an. Haven erwiderte das Grinsen und tippte mir auf die Nasenspitze. „Und ich hab noch eine Woche hier. Also keinen sentimentalen Mist, bitte.“

„Verstanden und jetzt lass uns reingehen. Sonst erkältest du dich.“ Liebevoll lächelte er mich an, sodass seine Grübchen sich zeigten. Dann schob er mich sanft zu der Glastür mit dem verschnörkelten Holzrahmen. Eine Glocke ertönte, sobald wir sie aufstießen und ins Warme schlüpften. Der Laden war dunkel gehalten und mir stieß sofort der Duft von Lavendel und Mottenkugeln in die Nase. Meine Mutter roch oft so, wenn sie abends von der Arbeit kam. Mit dem Geruch verband ich gemütliche Abende auf unserem alten Sofa, Übernachtungen in ihrem Bett mit meinen Brüdern und Kindheitserinnerungen in diesem Laden. Meine Mutter hatte ihn übernommen als ich vier Jahre alt war. Seit dem huschte ich durch die Gänge, schlief auf den schäbigen Sesseln ein, las die Bücher mit den vergilbten Seiten und schlüpfte in die alten Kleider. Der Raum wurde erleuchtet von einem alten Kronleuchter. Einen Ähnlichen gab es im Haus meiner Großmutter in Paris.

Als wir das Antiquitätengeschäft betraten, kassierte meine Mutter gerade eine Kundin ab. Ich hatte bereits gelernt, dass ich sie dabei nicht stören durfte, weswegen ich ihr nur ein kleines Lächeln schenkte und dann Picasso auf den braunen Teppichboden absetzte. Mit seinen nun dreckigen Pfoten tapste er vorsichtig auf dem Teppich herum und sah sich neugierig um. Ich hatte ihn noch nie hier her gebracht. Bis jetzt hatte er nur sein altes Zuhause und unser Haus zu Gesicht bekommen.

„Sind Katzen hier überhaupt erlaubt, Cherry?“, fragte Haven leise, als er den entsetzten Blick einer alten Dame sah, die bis gerade eben noch eine Spieluhr betrachtet hatte. Ich zuckte nur mit den Achseln. Der Laden gehörte meiner Mutter, da konnte ich ja wohl machen, was ich wollte. „Cherry?“ Ich wandte meinen Blick von Picasso zu Haven.

„Ja, Haven?“

„Hast du -“

Bonjour, chérie“, begrüßte mich meine Mutter, die leicht gestresst auf mich zukam. Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und strich über meinen Kopf. Dann nickte sie meinem besten Freund zu. „Haven.“ Und schon war er wieder angespannt und mürrisch. Na toll.

„Hallo, Mrs Carpenter.“

„Wann kommst du heute Abend, Maman? Wir müssen die Koffer packen, nicht?“, fragte ich, während ich aufpasste, dass Picasso nicht samt Leine stiften ging. Meine Mutter sah sich kurz um, bevor sie mir wieder ihre Aufmerksamkeit schenkte.

„Ich mach ein bisschen früher Schluss, ja, chérie?“ Ich nickte lächelnd und erntete einen weiteren Kuss auf die Wange. „Ich muss wieder zur Kasse. Geh du bitte wieder nach Hause, ich will nicht, dass deine Brüder so lange alleine sind. Und schaff mir die Katze aus dem Laden.“ Trotz ihrer harten Worte schenkte sie mir ein aufmunterndes Lächeln und tätschelte meine Schulter. Ich versuchte, meine Bedrücktheit nicht zu zeigen und nickte.

Während meine Mutter wieder ihre Kunden beriet, sammelte ich meinen Kater und meinen besten Freund ein und machte mich auf den Heimweg.

Eines von sechs Kindern zu sein war anstrengend. Fünf kleine Brüder zu haben war ein Fluch und Segen sogleich. Fünf kleine Brüder zu haben hieß, dass das Haus immer laut war. Fünf kleine Brüder zu haben hieß aber auch viel Liebe. Fünf kleine Brüder zu haben hieß, dass man in einem Chaos lebte. Fünf kleine Brüder zu haben hieß, dass man niemals seine Ruhe hatte. Fünf kleine Brüder zu haben hieß die Verantwortung zu haben. Fünf kleine Brüder zu haben hieß aber auch, dass ich die Schuld notfalls auf sie schieben konnte – und das tat ich auch öfter als man meinen sollte. Hatte ich aber auch schon erwähnt, dass fünf kleine Brüder, gerne Kleidung stahlen?

„Maman, ich glaube Maxime hat wieder meine Unterwäsche geklaut“, jammerte ich, nachdem ich meine Kommode durchforstet hatte, ohne ein einziges Bustier gefunden zu haben. Ich wusste nicht, was mit meinem Bruder los war. Ich war mir aber sicher, dass er meine Unterwäsche – oder sämtliche andere Kleidung eigentlich – nur aus Spaß entwendete. Wenn er sie zumindest anziehen würde, hätte vielleicht sogar ich meinen Spaß.

Meine Mutter, die gerade mein kleines Zimmer betreten hatte, schenkte mir einen undefinierbaren Blick. Man müsste meinen, dass sie als einzige andere Frau im Haushalt zu mir stand, aber dies war nur selten der Fall.

„Das ist bestimmt seine Art und Weise zu sagen, dass du nicht gehen sollst, chérie“, versicherte sie mir und klappte den ersten Koffer auf meinem Bett auf. Ich rollte heimlich mit den Augen, sobald sie nicht hinsah. Dass ich ging, war schließlich nicht meine Entscheidung.

„Das ist seine Art und Weise ein nerviger neunjähriger Junge zu sein.“ wisperte ich mehr zu mir selbst und stellte mich an meinen Türrahmen. „MAXIME!“ Wenn ich etwas gelernt hatte in den letzten Jahren, dann dass meine Brüder am besten hörten, wenn ich durchs komplette Haus rief.

„WAS?“, hallte die Antwort meines ältesten kleinen Bruders durch das Haus. Ohne hinzusehen, wusste ich, dass meine Mutter mich mit einem strengen Blick bedachte, doch das war mir egal. Ich konnte immer und überall eine feine Lady sein, aber jetzt wollte ich nur meine Unterwäsche zurück. „ANTRETEN ODER ICH TRETE DIR IN DEN HINTERN!“ Jetzt hörte ich meine Mutter hinter mir seufzen. Ich war nicht schuld. Es war ganz allein ihre Schuld, dass sie mehr als ein Kind wollte.

Nach einer Minute kam mein Bruder im Schneckentempo die Treppen hoch geschlurft. Ich rollte genervt mit den Augen.

Allez hop“, forderte ich ihn auf und winkte ihn zu mir. Er schien zu wissen, was ihn erwartete. Nach weiteren zwei quälenden Minuten stand er endlich vor mir. „Wo ist meine Unterwäsche?“

Er zuckte unschuldig mit den Achseln. „Woher soll ich das wissen? Ist ja nicht meine.“

„Maxime James Carpenter“, ertönte die warnende Stimme meiner Mutter und man konnte direkt sehen, wie Maxime jegliche Diskussion aufgab. Er machte sich klein, indem er seinen Kopf einzog, und sah mich dann entschuldigend an.

„Unter deinem Bett in der Kiste mit deinen Schwimmsachen“, gab er schließlich verlegen zu. Da er wirklich aussah als würde es ihm leidtun, warf ich ihm nur einen letzten enttäuschten Blick zu, bevor ich die besagte Kiste unter meinem Bett hervorholte. Tatsächlich: Wenn man einen blau-karierten Badeanzug beiseiteschob, fand man meine Bustiers aufgestapelt darunter. Zumindest hatte Maxime die Farbordnung nicht durcheinander gebracht. Mein kleiner Bruder wollte bereits die Treppen wieder runter, bevor er sich nochmal zu uns umdrehte.

„Yves hat deine Lieblingsbücher im Zimmer der Drillinge versteckt.“ Seine Stimme war leise und voller Reue und zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass meine Brüder wirklich nicht wollten, dass ihre große Schwester nach Kanada abhaute.

„Ich hole sie mir gleich“, sagte ich sanft zu ihm und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. In der Woche, die ich hier noch hatte, würde ich viel Zeit mit ihnen verbringen und mit Haven. Ich wollte nicht, dass sie sich schlecht fühlten.

Meine Mutter sah mich stolz an und strich über meinen Rücken. Ihre warmen Hände beruhigten meine Gedanken, die wie Düsenjets durch mein Gehirn fegten.

„Warum?“, fragte ich schließlich. Wir hatten bereits meine Unterwäsche und mehrere Stapel Sweatshirts in dem Koffer verstaut und die Frage ging mir nicht mehr aus dem Kopf. „Warum musste es Kanada sein, Maman? Das ist so weit weg.“

„Weil das Leben kein Ponyhof ist, chérie“, erklärte meine Mutter behutsam und faltete einen alten Pulli von Haven zusammen. Er hatte ihn mir schon vor einem Jahr geschenkt und natürlich musste er mit nach Québec. „Ich möchte, dass du die bestmögliche Ausbildung kriegst und das Lycée D'Ariane bietet dir klasse Möglichkeiten. Der Unterricht ist in Englisch und Französisch und -“

„Und nicht jeder wird sofort angenommen, ich weiß.“ Ich stieß ein tiefes Seufzen aus und ließ mich auf meinem Bett nieder. Picasso stapfte bereits auf dem Kopfkissen herum und ließ sich nur zu gerne von mir hinter dem Ohr kraulen. Gab es irgendeine Möglichkeit, dass ich Picasso ebenfalls in einen meiner Koffer packen konnte?

„Außerdem ist es nur Kanada, kein anderer Planet. Und man kann nicht für immer zuhause bleiben. Ich bin auch aus Frankreich raus, für deinen Vater.“

„Du hast Recht, Maman.“ Ich richtete mich wieder auf. Kinn hoch, Brust raus. „Ich bin ein starkes Mädchen, ich schaff das.“ Mit diesen Worten wollte ich wohl mehr mir selbst Mut machen als irgendetwas anderes. Ich begann wieder Kleidungsstücke in meinen Koffer zu legen. Ich war so damit beschäftigt, dass ich den nachdenklichen Blick meiner Mutter gar nicht bemerkte.

7 Jahre Schneeregen

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