Читать книгу Sehnsucht einer Stieftochter - Ann-Katrin Wallner - Страница 10
Der Affe
ОглавлениеEin unangenehmes, ja schreckliches Geräusch fährt durch die Stille, als der Wecker so früh am Morgen bimmelt. Das Erste, was ihr einfällt, ist diese blöde Schule. Wie gerne hätte sie noch ein bisschen geträumt, von Oskar, einem eigenen Garten mit Äpfeln und Birnen und natürlich von Paul.
"Na gut, es ist, wie es ist", murmelt sie, nun munterer geworden.
Als sie in die Küche kommt, ist niemand da. Stattdessen findet sie einen Zettel, auf dem eine dick geschmierte Butterstulle ruht. Der Hund sei schon Gassi gewesen, steht darauf in fast gemalten Buchstaben, die zum Ende der Zeile immer kleiner werden. Beiläufig lugt sie aus dem halb geöffneten Fenster. An einem hohen Mast auf der gegenüberliegenden Straßenseite hängen schlapp die Fetzen einer Hakenkreuzfahne, die der Wind so zugerichtet hat. Kein schöner Tag, kein schöner Gang, eigentlich hasst sie diese Schule, die zwar nur einige Steinwürfe von hier entfernt liegt, ihr aber trotzdem so unnahbar und fern vorkommt. Im Grunde hat dieser Weg unter großen, schlanken Bäumen etwas Entspannendes, es ist aber der Schulweg, der zur Mühe wird, je näher sie dem Gebäude kommt. Obwohl sie kein intellektuelles Naturtalent ist, lernt sie gerne, auch fällt ihr das Lernen nicht schwer, nur diese Schule mag sie nicht. In Gedanken versunken spricht sie Worte vor sich hin, sagt sie nicht laut, will niemand sein, der laute Selbstgespräche führt, so wie es die einsamen Menschen tun, mit denen niemand mehr redet. Ihr Kopf beginnt zu schmerzen, sie spürt einen undefinierbaren Druck hinter der Stirn, ist sich sicher, dass das etwas mit der Schule zu tun haben muss. Nicht nur der Zaun, auch das Gebäude dahinter, wirkt wie eine unüberwindbare Mauer, vor der sie so gerne Halt gemacht hätte, lieber wieder nach Hause gelaufen wäre.
Es ist bereits spät, die meisten sitzen bestimmt schon im Klassenraum. Sie wird wieder einmal die Letzte sein, doch sie trödelt lieber, anstatt sich zu beeilen, denn in einer kleinen Gasse, zwischen Wohnung und Schule, gibt es ein Tiergeschäft. Dort sitzt in einem großen Käfig ein dunkelbrauner Affe, der sie jeden Morgen anschaut, als habe er nur darauf gewartet, ihr lustige Kunststücke vorzuführen. Das Tier ist ihr ans Herz gewachsen, sie freut sich, wenn sie an dem Laden vorbeikommt. Oft steht sie wie angewurzelt vor dem Käfig, möchte nicht weitergehen, lieber mit dem Affen scherzen, als diese schreckliche Schule zu betreten. So ist es auch an diesem Morgen, aber sie weiß, dass sie sich von dem Affen losreißen, ein paar Schritte gehen, diesen fürchterlichen, kalten Zaun überwinden und sich auf den Unterricht einlassen muss. Ihre flotten Schritte hallen wenig später durch den langen Flur, sie öffnet die Tür, nimmt in beängstigender Klarheit die Blicke wahr. Manche schmunzeln, bestimmt, weil sie zu spät gekommen ist. Andere schauen eher verächtlich zu ihr hin, fragen sich, warum sie nie pünktlich sein kann. Doch alle finden es gut, dass jemand in den Unterricht geplatzt ist, das sieht sie den plötzlich gelösten Gesichtern an. Nur der Mathelehrer will nicht bemerken, dass sie erst jetzt aufgetaucht ist. Obwohl von den vielen Blicken verwirrt, lässt sie sich nichts anmerken, schreitet hocherhobenen Hauptes durch den Klassenraum zu den hinteren Bänken. Dort sitzt ihre Freundin Anna, sie allein strahlt über das ganze Gesicht, etwas, was Lena beruhigt. Ihre blonden Korkenzieherlocken hat Anna mit ein paar Haarspangen zusammengesteckt.
Es ist Mittag geworden. Gelangweilt betrachtet Lena die Zimmerdecke, kaut an ihren Fingerkuppen und eigentlich gibt es hier, in der Schule, keinen Grund für einen allzu großen Optimismus. Trotzdem ist sie froh, dass ihr die Laune nicht wie meist in den Keller rutscht. In diesem Moment ertönt auch der schrille Klingelton und einige stürmen in einem Affenzahn aus dem Klassenraum. Nur der Lehrer bleibt sitzen, ein schon ergrauter Herr mit Nickelbrille. Er ruft sie zu sich, gibt ihr ein paar wohlgemeinte Ratschläge, ermahnt sie sogar wegen des Zuspätkommens, es sind jedoch die genau gleichen Belehrungen, die er ihr schon gestern und vorgestern gegeben hat und sie hört nicht mehr hin.
Der Schulhof ist weitläufig, an seinem Ende liegt die Turnhalle, die wie ein lang gezogenes Schiff an den Westflügel des Schulgebäudes angrenzt und dort nachträglich angebaut worden ist. Jeden Samstag haben sie dort Sport und das ist etwas ganz Außergewöhnliches, denn sie liebt Sport, die Spiele, die sie dort machen, findet sie toll. Da die Schule, im Gegensatz zum überwiegenden Teil der Bildungseinrichtungen dieser Zeit, noch eine der wenigen gemischten ist, werden sie im Sport- und Biologieunterricht getrennt. Und als Mädchen hat sie auch ein Fach, das die Jungen nicht haben: Nadelarbeit, ein Unterrichtsfach, das insbesondere bei den Lehrerinnen hoch im Kurs steht, mit dem sie aber wenig anfangen kann.
Vor dem Kerl würde es ihr schon grausen, meint Lena, schiebt sich eine ungebetene schwarze Locke aus der Stirn und hinters Ohr, die dort aber nicht hängen bleiben will und sofort wieder zurück fällt. Der Kerl, von dem sie nicht gerade mit Begeisterung spricht, ist Herr Meyer. Ein gedrungener, pummeliger Mann mit breiter, platter Nase, wie sie meist Boxer haben. Er gibt nur ein Fach an der Schule, auf das er sich spezialisiert hat: Rassenkunde. Während des Unterrichts zeigt er ihnen gerne Bilder von verschiedenen Menschenrassen, erklärt, er habe ganz typische Merkmale der jeweiligen Rasse ausgewählt. Und er erzählt etwas von Schädelform, Haar- und Augenfarbe, etwas, was ganz entscheidend sei, ob man zu einer guten oder schlechten Rasse gehöre. Heute hat er wieder ein paar Bücher mitgebracht, die er hoch hält, sie dann zum Anschauen herumreicht. In jeder Schule gibt es mittlerweile auch einen Atlas, der für den Rassekundeunterricht bestimmt ist, den sie heute aber zu Hause, auf dem Küchentisch, vergessen hat. Als sie eines der Bücher näher betrachtet, kommt es ihr vor, als würden Menschen hier wie in einer Hunde- oder Geflügelschau Rasseprädikate verliehen; zudem sind die Bücher noch bunt bebildert und auf übel riechendem Papier gedruckt. Wie meist ist der Meyer heute wieder begeistert von seinen Büchern und seine Augen bekommen etwas Glühendes, ein seltsames Leuchten, insbesondere dann, wenn er auf die Germanen und deren herausragende Merkmale zu sprechen kommt. Und während er sich noch in Rage redet, wird Lena im gleichen Moment bewusst, wie wenig dieser Meyer dem germanischen Menschentyp gleicht, von dem er mit so viel Begeisterung spricht. An diesem Mittag geht sie weder unglücklich noch schlechter Laune aus der Schule, ist in Gedanken längst bei dem Affen, der ihr wieder Kunststücke vorführen wird.
Als sie die Straße entlangschlendert, denkt sie an diesen germanischen Menschentyp, von dem der Meyer mit so viel Anerkennung gesprochen hat, sieht die Statur von Paul vor sich, ist sich sicher, dass er dem germanischen Menschentyp ganz nahe kommt. Mittlerweile fühlt sie sich gut, auf jeden Fall besser als am Morgen, als sie an gleicher Stelle auf dem Weg zur Schule gewesen ist. Unversehens steht sie vor dem Tiergeschäft. Der Affe hat sie längst bemerkt, schwingt sich durch den Käfig, bleibt direkt vor ihr sitzen, schaut sie durch die beschlagene Fensterscheibe an. Über so viel Aufmerksamkeit durch das Tier freut sie sich, lächelt, klopft zaghaft an die Scheibe. Der Affe wird immer ungestümer, schwingt sich schneller, als sie ihm mit den Augen folgen kann, durch den Käfig. Ein älterer Herr steht plötzlich neben ihr.
"Wenn Sie klopfen, wird das Tier unruhig."
"Ach ja", antwortet sie nur, schaut den Fremden abschätzig von der Seite an und geht weiter. Der Affe im Schaufenster gibt in diesem Moment seltsame Laute von sich und sie glaubt, dass er nach ihr ruft. Seine Schreie werden jedoch leiser, irgendwann hört sie ihn nicht mehr.
Zuhause angekommen, steigt sie mit energischen Schritten die Treppe zur Wohnung hinauf, bemerkt Oskar, wie er schon an der Tür scharrt. Ohne Leine lässt sie ihn die Treppen hinunterhuschen. Aus dem Keller kommend bleibt die Hausmeisterin, heute in grauer Kittelschürze und mit seltsam verzerrtem Mund, vor ihr stehen. Dieser Frau gerade jetzt begegnen zu müssen, ist so ziemlich das Letzte, was ihr an diesem Tag hätte passieren sollen. Sie sieht heute komisch aus, ihre Unterlippe hängt wie erschlafft am Mund, als würde sie gar nicht dort hingehören. Vielleicht hat sie so etwas wie einen Kurzschluss im Kopf, den sie noch nicht bemerkt hat, denkt Lena und geht schnell weiter, denn solche Krankheiten sind ihr unheimlich.
"Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du den Hund im Treppenhaus anleinen sollst."
Obwohl sie die Hausmeisterin nicht besonders mag und auf ihre Worte auch nicht eingehen möchte, macht sie sich Sorgen um deren stark nach links gezogenen Mund, der, da ist sie jetzt sicher, nach einer schweren Krankheit aussieht. Nachdenklich stützt sie sich an der Wand ab, überlegt, ob sie die Hausmeisterin auf die komisch hängende Unterlippe aufmerksam machen soll, doch sie tut es nicht. Stattdessen humpeln sie und ihr Hund aus dem Haus. Sie, weil sie sich gerade den Fuß vertreten hat, Oskar hingegen lahmt, weil er in irgendetwas getreten ist, was ihm noch an der Hinterpfote hängt. Sie betrachtet die Wiese, sieht ein paar Kinder, die dort Ball spielen, an Händen und im Gesicht bereits verfroren aussehen und sehnsüchtige Blicke auf das Fenster eines Hauses werfen, vielleicht auf den Ruf der Mutter warten, damit sie wieder in die warme Stube kommen können. Obgleich sie darauf bedacht ist, den kleinen Oskar nicht aus den Augen zu verlieren, beobachtet sie noch immer die Kinder, spürt plötzlich etwas Schweres im Magen. Nur heute ist es nicht diese eklige säuerliche Milch, die dort unten rumort, denn sie hat heute Morgen keine Milch, sondern Kaffee getrunken. Paul hat ihn auf dem Tisch stehen gelassen, eine halbe Tasse nur. Obwohl er eigentlich ein sehr gemütlicher Mensch ist und selten ärgerlich wird, kann er schon mal böse werden, wenn sie Kaffee trinkt. Doch es muss schon besonders arg kommen, um ihn aus der Fassung zu bringen, und meist sind es die Mutter oder auch sie gewesen, denen so etwas gelungen ist. Ein bisschen Gewissensbisse hat sie, vielleicht auch Sorge, was er wohl zu der leeren Kaffeetasse sagen wird. Trotzdem zählt sie wieder die Stunden, bis er die Wohnungstür aufschließen wird, kann es gar nicht erwarten, dass er sie umarmt und dabei dieses Strahlen in den Augen hat. Aber es ist ihr auch klar, warum sie sich so auf ihn fixiert. An wen soll sie sich sonst anlehnen, sie hat nur noch ihn. Manchmal versucht sie, sich ihren leiblichen Vater vorzustellen. Doch die Erinnerung an ihn wird von Tag zu Tag blasser. Eigentlich eine verfahrene Situation, die Mutter ist tot, der leibliche Vater in Hamburg, nur Paul ist es, an dem sie sich festhalten kann und der ihr Halt gibt. In diesem Moment sieht sie ihn vor sich, spürt so etwas wie Glück und sie weiß, dass es zwischen ihnen nun ein Geheimnis gibt, das es inmitten dieser vier Wände zu bewahren gilt. Nichts davon darf an die Öffentlichkeit dringen. Und in diesem Augenblick fallen ihr wieder die seltsamen Worte der Hausmeisterin ein. "Turteltäubchen" hat sie gesagt. Unerhört, so etwas Blödes von sich zu geben, und sie ist auch beunruhigt, denn vor ein paar Monaten haben sie in der Schule darüber gesprochen, wann man volljährig wird. Ihr ist klar, dass sie noch minderjährig ist und die Lehrerin sogar erwähnt hat, dass Männer ins Gefängnis kommen, wenn sie sich mit minderjährigen Mädchen einlassen. Jetzt darf sie keine Dummheit begehen, damit würde sie sich viel Ärger einhandeln und Paul in große Gefahr bringen. Manchmal möchte sie sich jemandem anvertrauen. In ihrer Situation ist das jedoch unmöglich.
Den Mund gespitzt, beginnt sie ein Lied zu pfeifen, versucht es sogar zu singen. Überall hört sie dieses Lied, auf den Schulhöfen, in den Straßenbahnen, dieser Schlager dreht sich wie ein aufdringlicher Wurm im Ohr.
Zu Hause angekommen lässt sie laut die Tür ins Schloss fallen, sieht in die Küche, ist erstaunt, dass Paul schon auf dem Stuhl sitzt.
"Ach, du bist schon zu Hause?"
Er antwortet nicht, gibt ihr stattdessen einen Kuss auf den Mund, hält sie lange im Arm, streicht ihr über das Gesicht, beginnt zu lächeln, und sie meint, jetzt müsse einer seiner fidelen Scherze kommen, die er manchmal von sich gibt, er wirft ihr aber nur diesen berauschenden Blick zu, den sie so mag. Dabei drückt er ihren Oberkörper so fest an sich, dass ihr für Sekunden die Luft wegbleibt und sie Atemprobleme bekommt.
"He, ich ersticke gleich, du drückst mir die Luft ab."
Als sie wieder normal atmen kann, entdeckt sie in seinem Gesicht etwas Nachdenkliches, Zögerliches. Und sie versteht nicht, warum er plötzlich so seltsam schaut, betrachtet stattdessen seine frisch gewaschenen Haare, die verwegen aussehen, genauso wie die Bartstoppeln an seinem Kinn. Behutsam berührt sie seinen Arm, streicht ihm über das Gesicht, doch er reagiert nicht. Sie versucht es mit der Frage "hast du Hunger?", die er normalerweise prompt beantwortet und sofort eine gepflegte Konversation in Gang setzt, aber auch das tut er nicht. Seine Augen stur auf den Fußboden gerichtet, sieht er aus, als wäre ihm gerade eine riesige Laus über die Leber gelaufen. In der Küche ist es so eng, dass ihre Brüste beim Vorbeigehen seinen Arm streifen. Diese Berührung empfindet sie wie einen Stromstoß, der ihr durch den Körper zuckt. Er bemerkt es, bleibt stehen, hält sie fest, betrachtet ihre glänzenden Haare, überlegt sich, ob er sie küssen soll. Doch er tut es nicht, wirkt noch immer nachdenklich, nimmt die Gabel, schaut krampfhaft nach unten, beginnt, auf dem Teller herumzustochern.
"Du bist ein sehr hübsches Mädchen", sagt er, die Augen noch immer stur auf den Teller gerichtet. Obwohl sie seine Worte in sich aufsaugt, machen sie sie verlegen.
"Warum hast du keinen Hunger?", fragt er, schneidet sich ein Stück Blutwurst ab, das er, wie zu einem Meisterwerk geformt, auf den Apfelbrei und die Pellkartoffeln legt. Interessant! So könnten die expressionistischen Kunstwerke aussehen, die die Lehrerin heute, wenn auch nur sehr kurz und im Flüsterton, erwähnt hat. Doch sie kann sich unter Expressionismus überhaupt nichts vorstellen, betrachtet stattdessen die Pellkartoffeln, den Apfelbrei und die wie zu einem dicken Wurm gerollte Blutwurst.
Als er aufsteht, gibt er ihr einen Kuss auf die Wange, erklärt, er müsse sich hinlegen, sei todmüde, und kurz darauf hört sie sein lautes Schnarchen. Erschöpft von einem anstrengenden Tag, zupft sie sich das Kopfkissen zurecht und hat wieder diese Schmetterlinge im Bauch. So lässt sie den Abend langsam ausklingen, sieht leere Gläser, bekleckerte Teller stehen, denkt an die Hausaufgaben, die sie noch immer nicht gemacht hat und löscht das Licht der kleinen Nachttischlampe, überdenkt noch einmal den heutigen Tag.