Читать книгу Sehnsucht einer Stieftochter - Ann-Katrin Wallner - Страница 4
Beobachtung
ОглавлениеEin kalter Herbsttag im Jahr 1938. Es ist Mittag, kurz nach zwölf. Lena pfeift, erst leise, dann wird ihr Pfeifen lauter. Die Melodie, ein Ohrwurm, hat sie heute in der Schule aufgeschnappt. Alle pfeifen sie dort das Lied. Sogar die Lehrer pfeifen es, wenn auch leise und nur dann, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Erschrocken sieht sie sich um, hofft, dass ihr lautes Pfeifen von niemandem bemerkt wird. Ein Mann mit Bart, keinem Spitzbart, sondern einem altmodischen Zwirbelschnurrbart, kommt ihr auf der Straße entgegen. Als er das hübsche, dunkelhaarig gelockte Mädchen bemerkt, strafft sich seine Haltung und er versucht, den Bauch einzuziehen, was ihm bei seiner Leibesfülle schwer gelingt. Da er genau auf sie zusteuert, wird ihr sofort klar, dass sie mit diesem Mann, den sie überhaupt nicht kennt, wird reden müssen.
"Hast du eben etwas gesagt?"
Sie überwindet die erste Verdutztheit, taumelt aus den Gedanken.
"Nein, nichts, was soll ich gesagt haben? Gepfiffen habe ich. Kennen Sie das Lied nicht?"
Statt zu antworten, runzelt der Fremde nur die Stirn und in der Tat entwickelt sich ein kurzes Gespräch, wenn auch kein sehr anspruchsvolles. Hin und wieder beginnt sie sogar, bis zu den Haarspitzen zu erröten, dreht jedoch so geschickt den Kopf, dass er nicht sehen kann, wie sich ihre Gesichtsfarbe verändert. Eine Tomate wird nicht röter als ich, denkt sie, ärgert sich über ihre mangelnde Selbstsicherheit. Verwundert, gleichzeitig irritiert über das vollmundige Grinsen dieses Mannes, dessen schlechte Zähne ein allzu verschwenderisches Lächeln überhaupt nicht begünstigen, geht sie weiter.
In ihrem schwarzen, wie Samt glänzenden Mantel, der vielleicht ein wenig zu leicht für die Jahreszeit ist, beginnt sie zu frieren. Die breite Straße, die in der Mittagssonne liegt, kommt ihr wie ausgestorben vor, denn sonst fahren hier Busse, die sich durch den Verkehr hupen. Heute scheint alles wie leer gefegt. Einige Häuser tragen bereits weit sichtbare Narben des Verfalls, die dem Straßenzug etwas Trostloses verleihen. Sie biegt ab, sieht einen großen, mit einer Plane überzogenen Lastwagen vor einem Haus stehen, das etwas zurückgebaut ist. Schon öfter ist ihr dieses Gebäude aufgefallen, denn es wirkt großzügig und gepflegt, passt eigentlich nicht in diese verwahrloste Gegend, die ihre beste Zeit längst hinter sich gelassen hat. An der Vorderfront des Hauses rankt Efeu wie ein alles überdeckender grüner Vorhang an der Wand empor. Das Tor des Gartens steht weit offen, als hätte man vergessen, es zu schließen. Ein paar Vögel in den Bäumen zwitschern aufgeregt, fühlen sich durch irgendetwas gestört. Vor dem Gartenzaun sieht sie Holzverschläge, die frisch gestrichen sind, und entdeckt das Gesicht eines kleinen Jungen, der vor einer der hübsch herausgeputzten Hütten kauert. Sie schaut näher hin, betrachtet das blasse Gesicht des Kindes, seine Augen, die starr, wie zwanghaft, auf die Straße gerichtet sind. Regungslos steht der Junge da und es sieht aus, als würde er durch etwas hindurchschauen. Temperamentvoll reibt sie sich die Stirn, sieht wieder zu dem Jungen, der aber plötzlich verschwunden ist. Das Haus liegt vor ihr, zweistöckig, weiß, doch niemand ist zu sehen. Unheimlich! Sie geht ein paar Schritte zur Seite, behält das Gebäude immer im Blick. Kein Schild "Betreten verboten", keine angsteinflößenden Drahtzäune, stattdessen bemerkt sie die imposante braune Eingangstür, die von einem Metallgitter umrahmt wird. Der Krach eines zuschlagenden Fensters dringt ihr ans Ohr. Das muss der Wind gewesen sein, denkt sie, läuft ein paar Schritte, bleibt stehen, biegt in einen mit Kies bedeckten Weg ein. Zaghaft klopft sie an die braune Eingangstür, erst leise, dann lauter. Niemand öffnet, noch immer keine Spur von irgendwelchen Bewohnern. Der Rasen neben dem Kiesweg sieht aus, als hätte ihn vor Kurzem jemand niedergetrampelt. Sie klopft wieder. Nichts! Vielleicht hat sie auch nicht laut genug geklopft, versucht es mit der Faust, geht eine Treppenstufe hinab, bleibt stehen und murmelt "dann eben nicht".
Beeindruckt von dem großen Gebäude beobachtet sie den daneben liegenden Garten, doch das Kind sieht sie nicht mehr. Gestern haben sie in der Schule darüber gesprochen, dass man helfen soll, wenn jemand in Not ist, und sie ist sich sicher, dass der Junge Hilfe braucht. Das Erlebnis mit dem Kind, das nicht älter als drei oder vier Jahre gewesen sein kann, beschäftigt sie noch lange. Sie wirft die Arme in die Luft, geht die Straße entlang, gefolgt von einem weißen Spitz, der ihr seit Minuten nachläuft.
"Ich kann dich nicht mitnehmen", ruft sie dem Tier zu, streicht ihm über den Kopf. Der versteht es, dreht sich um, läuft in eine andere Richtung, verschwindet in einer kleinen Bäckerei und wird dort liebevoll in Empfang genommen, als habe man schon auf ihn gewartet.
In Gedanken sieht sie wieder das Gesicht des Jungen, erinnert sich an den erstarrten, leeren Blick. Während sie sich umschaut, tippelt sie weiter, wäre beim Rückwärtsgehen beinahe gegen einen Laternenmast gelaufen, erreicht das Haus, in dem sie im ersten Stock wohnt. Keuchend betritt sie die kleine Küche, beginnt zu husten, was sich nach einer nicht auskurierten Erkältung anhört. Wenn sie nicht hustet, hört sie ihre Bronchien pfeifen. Nachdenklich schaut sie aus dem Fenster auf die Straße, zu den Häusern. Obwohl es erst Mittag und taghell ist, wirkt die Straße wie ausgestorben und zudem noch so düster, als müsse man erst das Sonnenlicht hineinpumpen. Beklemmend still ist es in diesem Moment.