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Ein aufregender Abend

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Obwohl erst wenige Monate vergangen sind, empfindet sie die Zeit seit Agnes’ Tod schon wie eine Ewigkeit.

"Weißt du, seit die Mutter tot ist, habe ich nur noch meinen Hund, den ich drücken kann."

Da er sein nicht mehr ganz hörfähiges Ohr von ihr abgewendet hat, versteht er ihre Worte nicht gleich. Als er jedoch den Sinn begreift, steht er auf, nimmt sie in den Arm. Die Wärme, die von seinem Körper ausgeht, empfindet sie als wohltuend. Immer wenn er neben ihr steht und sie in die Arme nimmt, durchflutet sie dieses besondere Gefühl. Sie spürt, wie es sich im Körper ausbreitet, weiß, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlt. Eigentlich sind diese Empfindungen nicht neu, seit dem Tod der Mutter sind sie jedoch stärker geworden. Zunächst will sie diese Gefühle noch beiseiteschieben, irgendwann lassen sie sich aber nicht mehr verdrängen. Als er aus der Tür geht, sieht sie ihm nach, beobachtet seinen aufrechten, etwas schlaksigen Gang. Obwohl sie ihn nicht mehr sehen kann, hat sie noch immer sein Bild vor Augen und verliert sich wieder in ihren Träumen. Eigentlich ist sie froh, dass er noch einmal ins Zimmer zurückkommt, sich neben den Sessel stellt, ihr die Hand auf die Schulter legt. Der Duft von frisch gebackenem Kuchen zieht vom Treppenhaus in die Wohnung und versüßt die Atmosphäre.

"Könntest du mir einen Kaffee kochen? Jetzt, wo Agnes tot ist, musst du das übernehmen."

Kurz nickend geht sie in die Küche zur Anrichte, auf der die Kaffeemühle steht, und als wäre die Mühle federleicht, nimmt sie sie mit einer Hand, fängt zu mahlen an. Manchmal seufzt sie, denn schnell bleibt ihr die Kraft weg, doch sie ist wie besessen, dieses Gerät bedienen zu dürfen. Paul, der wieder vor dem Küchentisch steht, sieht kurz auf, bemerkt die zweite Tasse.

"Du sollst keinen Kaffee trinken", ruft er ihr zu. Diesen Satz hat sie schon so oft gehört, er verbindet ihn meist mit einem schrägen Blick, verpasst seiner Stimme zudem etwas Strenges, was sie nicht gut findet.

"Außerdem besteht Kaffeeknappheit wegen der brasilianischen Exportbeschränkungen. Kaffeeproduzenten dürfen nur noch die von der Kaffee-Überwachungsstelle vorgeschriebene Menge rösten", erklärt er ihr.

"Ach nein, nicht schon wieder. Ich werde bald sechzehn, da darf ich Kaffee trinken, die Mutter hätte es mir auch erlaubt. Außerdem interessieren mich die Exportbeschränkungen herzlich wenig", antwortet sie mit dem leicht aufmüpfigen Ton eines jungen Mädchens. Kaum hat sie die Worte ausgesprochen, wird ihr Blick sanfter. Er schaut von der Zeitung auf. Schwerfällig, fast polternd, steht er auf, als habe er vergessen, wie das anders und leiser geht.

"Oh, das ist aber seltsam!"

"Was ist seltsam?", fragt sie.

"Die haben eine Familie verhaftet. Ihren Sohn, einen vierjährigen Jungen, den haben sie nicht gefunden."

"Und warum hat man die Leute verhaftet?"

"Weiß der Geier, das geht aus diesem Artikel nicht hervor."

Er schaut noch einmal auf die Zeitung.

"Aber ... warte mal, hier steht etwas von Volksverrätern."

"Komisches Wort. Und was machen diese Volksverräter?"

"Lena, da fragst du mich zu viel, sie passen der Regierung wahrscheinlich nicht", knurrt er und sie spürt, dass er um den heißen Brei herumreden will. Sie ist lieber still, denkt kurz nach, es kommt jedoch nichts Sinnvolles dabei heraus. Stattdessen reibt sie sich die Augen und im nächsten Moment ist sie mit ihren Gedanken wieder ganz woanders, denkt an die Geier, die sie gestern im Biologieunterricht behandelt haben. Geier seien Faulsäcke, hat die Lehrerin gesagt, weil sie nur am Himmel kreisen und darauf warten, dass andere Tiere Beute machen, um sie dann zu verscheuchen und ihnen den Fang abzunehmen. Die Unterlippe vorgeschoben, sieht sie in den Spiegel, betrachtet ihr langes dunkles Haar. Unter der weißen Bluse zeichnen sich millimetergenau ihre großen Brüste ab. Der viel zu enge Rock, der ihr den Bauch einschnürt, betont ihre sanften Beckenrundungen. Paul steht plötzlich neben ihr, nimmt sie in den Arm und sie bemerkt das Schlagen seines Herzens, spürt, wie er seinen Körper an sie drückt.

Sehnsucht einer Stieftochter

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