Читать книгу Sehnsucht einer Stieftochter - Ann-Katrin Wallner - Страница 7
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ОглавлениеDer soziale Abstieg von Lenas Familie begann mit dem Aufstieg des Wilhelminischen Kaiserreichs. Um den genauen Zeitpunkt streiten sich noch die Geister.
Lenas Mutter Agnes wuchs in einem kleinen Dorf in Franken bei einer Tante auf. Sie war ein uneheliches Kind. Ihre Mutter wollte sich nicht zu ihrer Tochter bekennen, zog kurz nach der Geburt an die schöne Mosel nach Bernkastel, denn ledige Mütter versuchte man lieber aus der konservativ-religiösen Welt auszuschließen. Der Vater, wahrscheinlich ein Scherenschleifer, ein Vagabund, der den jungen Mädchen nur schöne Augen gemacht haben soll, sonst aber nichts bieten konnte, hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits aus dem Staub gemacht. Er habe sehr gut Klarinette gespielt, erzählte man sich im Dorf. Eigentlich sollte die Tochter auf den klangvollen Namen Maria Magdalena getauft werden. Doch diejenigen in Familie, Dorf und Kirche, die etwas zu sagen hatten, nannten sie lieber Agnes. Die Menschen in dem Bauerndorf waren fromm. Die Worte des Priesters waren Gesetz, seinen Ansichten wollte und konnte sich niemand widersetzen, denn Widerstand gegen die Autorität des Pfarrers hätte Ausgrenzung bedeutet. Und die Ansichten des Priesters waren nicht immer sehr barmherzig, hatten wenig von der Einfühlsamkeit und dem Tröstlichen, das man von einem Mann der Kirche erwartet hätte. Unehelich geborene Kinder waren für ihn Bastarde. Kein schönes Wort, für viele dieser Kinder auch eine lebenslange Bürde. Und so dachten auch die Menschen in dem kleinen fränkischen Dorf, das sich in eine Senke zwischen ein paar Weinbergen in die ansonsten eher flache Landschaft duckte. In dieser Welt wuchs Lenas Mutter auf. Mit sechzehn Jahren verließ sie das Haus der Tante, ging zunächst nach Würzburg in Stellung, doch irgendwann zog sie die Freiheit der Großstadt Frankfurt magisch an. Dort lernte sie einen Jurastudenten kennen, heiratete und brachte ihre Tochter Lena zur Welt. Schon früh bemerkte Lena, dass die Mutter zahlreiche Briefe verfasste. Manchmal schrieb sie Abend für Abend wie besessen unter einer kleinen Leselampe, deren Licht unruhig zu flackern begann. Am nächsten Morgen übergab die Mutter Lena ein Kuvert, das sie zur nächsten Post bringen musste. Sie tat es gerne, denn sie spürte, dass diese Briefe für Agnes etwas Befreiendes hatten. Doch die Mutter sprach weder über ihren Inhalt, noch gab sie etwas über die Familienverhältnisse preis. Aber Lena wusste, dass diese Schreiben zur Großmutter nach Bernkastel gingen. Und ihr fiel auf, dass sie von dort nie eine Antwort zurückbekam. Lena fragte die Mutter danach, die aber gab sich wortkarg, wollte nichts über die Beziehung zur Großmutter verraten und behauptete sogar, die Briefe würden sie nicht interessieren. Doch Lena wusste, dass Agnes schwindelte. Irgendwann hörte sie auf zu fragen und gab sich ihren Fantasien hin, träumte sich in eine Zeit hinein, die für sie zwar nicht zu durchschauen, aber dennoch lebendig war.
Oft verbrachte sie die Schulferien in dem kleinen fränkischen Dorf und sie war gerne dort. Inmitten von alten, hübsch verzierten Hoftoren, die sich um eine lang gezogene Gasse gruppierten, bewirtschaftete der Cousin der Mutter einen kleinen Bauernhof. Ein sympathischer Mann, dieser Cousin, sie mochte ihn. Zunächst war er noch Junggeselle, weil er der Meinung war, die in Umlauf befindlichen Frauen würden ihm nicht gefallen, dann heiratete er und lebte von nun an eher unglücklich, denn er und seine Frau waren viel zu verschieden und erkannten gleich nach der Eheschließung, dass sie besser nicht geheiratet hätten.
Mit dem Ochsengespann fuhren sie schon früh am Morgen zu weit entfernt liegenden Äckern, daran würde sich Lena auch später noch gut erinnern. Dieses eintönige Trotten der schweren Tiere, manchmal auch ihr wildes Brüllen, all das genoss sie. Es ging über holprige Feldwege, die in eine Dorfgasse mündeten. Die Ochsen waren zwar etwas ungestüm und nicht zum Streicheln, dennoch brave Tiere. Dem weiß-schwarz Gescheckten fehlte das eine Horn, was ihn nicht sonderlich störte. Gleichförmig und geduldig zog er den schweren Wagen, tagaus tagein, nur im Winter gönnte man ihm die verdiente Pause.
Die Ferien auf dem Bauernhof waren eine schöne Zeit, Lena erinnert sich später gerne an die Tage in dem kleinen fränkischen Bauerndorf. Nur Agnes, die Mutter, kam nie mit. Als müsste sie diesen Ort, in dem sie aufwuchs, vergessen, weigerte sie sich beharrlich, dort hinzugehen. Nicht einmal einen Tag wollte sie bleiben. Warum, das verschwieg sie ihrer Tochter. Doch Lena ist nicht dumm, sie kann sich denken, warum die Mutter diesen schönen Ort in Franken so mied. Für sie, die unehelich geboren wurde, war es eben kein schöner Ort!
Schon in Lenas Kinderjahren litt Agnes unter Schwermut. Zuweilen dachte sie, die Mutter nehme sie gar nicht mehr wahr, würde sich nur noch mit sich und ihrer Krankheit beschäftigen. Doch mit den Jahren bekam sie ein Gespür für die schwankenden Stimmungslagen der Mutter. Ihr leiblicher Vater, der kein versponnener, lebensfremder Intellektueller, sondern ein ganz patenter, charmanter, gebildeter und auch zielstrebiger Mann war, kümmerte sich rührend um die Familie. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften trat er eine Stelle als Richter an einem Amtsgericht an. Doch mit der Krankheit der Mutter war er überfordert. Obwohl er gewissenhaft die Familie versorgte, bemerkte sie, wie er sich von seiner kranken Frau entfernte, und sie spürte eine emotionale Kälte, die sich zwischen die Eltern schlich. Für beide war es die erste Liebe gewesen, die aber mit den Jahren und dem Fortschreiten von Agnes' Krankheit abzukühlen begann. Obgleich noch Kind, meinte Lena die Probleme der Eltern zu verstehen, durfte sich in die Welt der Erwachsenen jedoch nicht einmischen, hätte sich sonst ein Herz gefasst und erst mit dem Vater, dann mit der Mutter gesprochen, um sie wieder miteinander zu versöhnen.
Vor dem Zubettgehen las Agnes ihr hin und wieder vor. Immer dann hatte sie eine sanfte, warme Stimme, an deren Klang sich Lena später noch erinnern würde. Zunächst fing sie langsam an, machte viele Pausen, las dann schneller und das hörte sich sehr spannend an. Meist waren es Tiergeschichten, von dem Hund Oskar, den keiner haben will, der sich von Müllkippe zu Müllkippe durchkämpft, um etwas Fressbares zu finden. Als sie später ihren eigenen Hund geschenkt bekommt, weiß sie sofort, wie er heißen soll: Oskar!
Zwischen Mutter und Vater kam es immer öfter zum Streit, bis es zwischen den beiden ganz still wurde und der Vater eines Tages auszog. Ob eine andere Frau dabei im Spiel war, weiß Lena nicht.
Bei einem Sportfest lernte die Mutter einen neuen Mann kennen, Paul, der einmal Lenas Stiefvater werden sollte. Agnes war eine gute Hürdenläuferin. Paul bewunderte sie, wie sie so locker über den Boden schwebte und beinahe mühelos die Hindernisse nahm. Beim Trainieren lief er ihr manchmal hinterher, nahm ganz zufällig die gleiche Bahn und eines Tages rief er ihr nach, sie solle doch einmal stehenbleiben, er wolle sie heiraten. Woraufhin sie sich nur umdrehte und erklärte, das sei nicht der passende Moment, um sich zu vermählen, lief weiter, nahm in aller Gelassenheit noch ein paar Hürden. Einige Monate später heirateten die beiden.
Paul war sehr viel jünger als Agnes. Es war eine stille Hochzeit, nur die nächsten Angehörigen und Freunde waren gekommen. Lena war überglücklich, einen Stiefvater zu bekommen, der ihr schon seit der ersten Begegnung sympathisch war. Nach ein paar Wochen sprach sie ihn auch mit seinem Vornamen an, was ihr die Mutter sofort verbot.
Die neue Liebe tat Agnes gut, sie blühte auf, war plötzlich ein ganz anderer Mensch, gewann sogar eine Medaille beim Sportfest des Vereins. Den Sommerurlaub verbrachte die Familie nun an der Ostseeküste, in Ahlbeck, Bansin und Zinnowitz. Es wurde zu einem wiederkehrenden Ritual.
Doch an einem nebelverhangenen, lichtlosen Tag im Herbst 1938, Lena erinnert sich noch genau daran, lag Agnes weinend im Bett, starrte an die weiße Zimmerdecke, war kaum mehr ansprechbar. Lena sah in das Gesicht der Mutter und wusste, dass sie die Krankheit von nun an nicht mehr beherrschte, sondern wieder von ihr beherrscht wurde.
Wenn Lena ihre Kindheit Revue passieren lässt und die Mutter an der Pflichterfüllung gegenüber ihrer Tochter messen will, war sie nicht immer eine gute Mutter. Doch ihr manchmal etwas nachlässiges Verhalten bedeutete keine fehlende Zuneigung, war nur die Folge ihrer Schwermut, was vieles verzeiht. Schon als Kind dachte Lena über die Krankheit der Mutter nach. Erst als sie älter ist, wird ihr einiges klar und sie meint, Agnes' Probleme verstehen zu können. Bestimmt war es der soziale Druck, der auf ihr, der Tochter eines Scherenschleifers, so schwer lastete und sie krank werden ließ.
Es habe aber auch eine Zeit gegeben, so sagte es der Cousin im Frankendorf, da sei Agnes anders gewesen. Das sei in den Zwanzigerjahren gewesen, einer eher unkomplizierten und ausgelassenen Zeit, die die Frauen selbstbewusst machte und ihre verdrängten und unerfüllten Wünsche zur Entfaltung brachte. Schnell nahmen Finanzkrise und wirtschaftliche Armut die Frauen wieder an die Zügel, drängten ihre gerade gewonnene Emanzipation zurück. Eine, die meisten Menschen in ihrer materiellen Existenz bedrohende Entwicklung entfaltete sich wie ein rasender Sturm, legte den Samen frei für das sich anbahnende politische Unheil. In diesen Jahren begann Agnes' Schwermut mit voller Wucht auszubrechen.
Als Lena eines Tages aus der Schule kam, lag Agnes noch im Bett. Erst dachte sie, die Mutter würde schlafen, doch sie schlief nicht, ihr Körper war bereits kalt, sie musste vor Stunden gestorben sein. Als wäre sie gelähmt, saß sie neben der Toten auf der Matratze. Diese steinerne Kälte, die sie in der letzten Zeit so häufig gespürt hatte, war an diesem Tag anders und Lena begriff, dass sie endgültig sein würde. Liebevoll strich sie Agnes noch einmal über das Gesicht, eine Geste, die ihr für immer in Erinnerung bleiben sollte. In diesem Moment überkam sie ein überwältigendes Gefühl von Nähe zur Mutter, nun, da sie leblos vor ihr auf dem Bett lag. Sie blickte in die Vergangenheit, sah eine von Krankheit gezeichnete und manchmal verzweifelte Frau, die ihre Schwermut nicht in den Griff bekam. Und sie erkannte, dass ihr die Mutter liebevoll und zärtlich hatte gegenübertreten wollen, dies der Tochter aber nur selten auszudrücken vermochte. Lange Zeit hatte sie deshalb die Mutter als unzugänglich und hart wahrgenommen. Nun, da sie in ihr lebloses Gesicht sah, wusste sie, dass Agnes nur zerbrechlich gewesen war und diese Verletzlichkeit hinter dicken emotionalen Mauern verborgen hatte. Das Herz der Mutter war nie aus Eis gewesen, wohl aber die Umstände, die sie als "Bastard" geboren und krank gemacht hatten. Irgendwann kam der Stiefvater und sie empfand es als Erlösung. Beim Betreten des Schlafzimmers, noch in seinem Wintermantel und die Arbeitstasche in der Hand, blieb er zunächst stehen, nahm Lenas Hand, zog ihren Körper an sich, hielt sie fest umschlungen. Minuten standen beide still da, sprachen kein Wort, schauten nur an die weiße Wand, als blickten sie dem tragischen Ereignis hinterher. Und als würde der Himmel plötzlich aufreißen, schüttete er Regen aus und beide sahen manchmal zu Agnes, dann wieder auf die weiße Tapete. Eine am nächsten Tag vom Hausarzt der Familie angeordnete Untersuchung ergab, dass Agnes an plötzlichem Herzversagen gestorben sei.
Tagelang ist Lena nicht zur Ruhe gekommen, heute Abend erfüllt eine beruhigende Stille den Raum. Beide sitzen sie in der Küche, nur die große Uhr an der mit bunter Blumentapete beklebten Wand tickt leise. Draußen brennt nirgendwo ein Licht, niemand spricht ein Wort. Paul gießt sich Kamillentee in ein Glas, setzt es an den Mund und nippt nur daran, um es gleich wieder auf den Tisch zu stellen. Zunächst wirkt sein Blick unnahbar, als schaue er durch sie hindurch, dann entspannen sich seine Gesichtszüge und er beginnt sogar zu schmunzeln, gibt Lena einen Kuss auf die Wange. Wie ein Stromstoß durchzuckt sie das und diese Gefühle steigen wieder in ihr auf, sie läuft puterrot an. Als er bemerkt, wie sie sich an ihn drückt, genießt er nicht nur dieses schöne Gefühl, sondern hat auch Angst, sie könne seine Erektion spüren. Im gleichen Augenblick weiß er, dass er diese Erregung bei ihrem Anblick auch früher schon bemerkt hat. Beschämt vergräbt er seine Finger in ihrem Haar. Was ist passiert? Gefühle, die er nie hatte zulassen wollen, lassen sich nicht mehr verdrängen. Mit einem gekonnten Handgriff streift Lena ihr Haarband ab. Ihre vom Schein der kleinen Lampe angestrahlte Mähne hat nun etwas Leuchtendes, schimmert in vielen Nuancen. Sie habe schöne Haare, schmeichelt er, ergreift eine ihrer besonders hübsch geformten Locken und streicht sie ihr hinters Ohr. Die habe ihr die Mutter vererbt, erklärt Lena mit einer weit nach oben gezogenen Augenbraue und in diesem Moment kann sie gar nicht anders, als ihrem Lächeln einen Blick von Zärtlichkeit folgen zu lassen. Sie genießt seine Komplimente, schaut dabei verlegen auf das gegenüberliegende Regal, wo ihr Hunderte von Bücherrücken golden, rot, blau und braun aus dem Halbdunkel entgegensehen. Als sie in ihrem Zimmer steht, zieht sie sich aus, streift ihr hellblaues Nachthemd über, putzt sich in der Küche die Zähne, drückt den letzten Spritzer Zahnpasta aus der Tube, der im hohen Bogen an der Wand landet. Auf dem Weg zurück in den Flur sieht sie, wie er am Tisch sitzt, geht auf ihn zu, gibt ihm einen Gutenachtkuss auf die Stirn. Er sieht ihren hellrot glänzenden Mund, lächelt, umarmt ihre nackten Beine, zieht sie ganz nah an sich heran und flüstert: "Schlaf gut."
Sein Herz schlägt dabei so stark, dass er es überall spürt, im Hals, im Kopf, in den Fingerspitzen, heute sogar im Bauch. Als Lena in ihr Zimmer kommt, hat sich der Hund schon wie zu einem Rollmops geformt auf die Decke am Fußende gelegt.