Читать книгу Sehnsucht einer Stieftochter - Ann-Katrin Wallner - Страница 8
Wenn der Himmel zu strahlen beginnt
ОглавлениеHeute, an einem Samstag, fällt ihr das Aufstehen besonders schwer. Eine Weile denkt sie an gar nichts mehr, dann kommen die Erinnerungen an den letzten Abend wieder, als sie noch lange wach gelegen hat und ihr die Nacht wie ein großes Tor zu geheimnisvollen Gedankengängen erschienen ist.
Es hat zu regnen begonnen, ein stürmischer Tag. Der Wind peitscht durch die Luft und die Menschen hasten mit hochgeklappten Mantelkrägen durch die Pfützen, eilen zur Arbeit. Noch mit nackten Füßen läuft sie zur Tür, hört in diesem Moment auch Pauls Stimme, sieht ihn am Waschbecken stehen, wie er sich rasiert, dann am Kinn schneidet und Blut ins Waschbecken tropft. Er wolle gleich Brot besorgen und ob er den Hund mitnehmen solle. Zunächst nimmt sie nur seine Stimme und die dunklen Töne wahr, die durch die Luft schwirren, dann versteht sie, was er sagt.
"Prima Idee", ruft sie, hört kurz darauf, wie die Eingangstür ins Schloss fällt, der Hund mit seinen kleinen Pfoten die Holztreppe hinunterspringt. Flink und noch immer mit nackten Füßen tippelt sie ans Fenster, sieht, wie Paul mit Oskar die Straße überquert. Als habe er gespürt, dass sie am Fenster steht, dreht er sich um, schaut nach oben und sie läuft schnell zu ihrem Bett zurück, denn er soll nicht bemerken, dass sie den beiden nachsieht. Pfeifend dreht sie das Radio an, einen Volksempfänger, den sie zu einem Preis von 76 Reichsmark erstanden haben. Das weiß sie noch sehr genau, denn Agnes war zunächst nicht sehr begeistert, so ein teures Gerät zu kaufen. Paul hingegen konnte sie davon überzeugen und so wurde es angeschafft.
Als sie aufrecht steht, sieht sie in den Spiegel, betrachtet ihre Haare, die sie nach hinten gezähmt hat, dann das Gesicht, breitet die Arme aus wie immer, wenn sie sich wohlfühlt. In den letzten Monaten hat sie viel entdeckt, auch dass sie einen hübschen und erregenden Körper hat. Beiläufig schaut sie auf ihre Brust, sieht das kleine goldfarbene Kettchen an ihrem Hals, das ihr Paul zu Weihnachten geschenkt hat. Ihr Blick wandert weiter zu den schmalen Hüften und ihrer wespenartigen Taille, die vielleicht mit zwei Händen zu umfassen ist. Sie probiert es, legt beide Hände um die Körpermitte, ihre Taille ist aber üppiger als gedacht.
Im Flur wird die Eingangstür mit Getöse aufgeschlossen. Der Hund kommt als Erster herein, fegt durch die Wohnung, streicht ihr kurz um die Beine und lässt sich in der Küche wie ein Stein auf den Boden plumpsen. Wenig später betritt Paul das Zimmer, etwas blass, sein dichtes aschblondes Haar ist in der Mitte gescheitelt. Als wäre es ein Geschenk, legt er die braune Einkaufstüte auf ihr Bett. Nun stehen sie sich gegenüber. Lena, nur mit einem Schlüpfer bekleidet und mit nackten Brüsten, spürt den kurzen eindringlichen Blick des Mannes ihr gegenüber, der nun mit schnellen Schritten in die Küche läuft, als müsse er vor ihrem hübschen, halb nackten Körper das Weite suchen. Endlich angekleidet, betritt auch sie die Küche. Fast spielerisch ergreift sie die Kaffeemühle, fängt an, Bohnen zu mahlen. Immerzu macht sie diese kreisenden Bewegungen, bis der Arm zu schmerzen beginnt und sie sich eine Pause gönnen muss. Paul lächelt, das Grübchen an seinem Kinn, das sich zusehends vergrößert, gibt seinem Gesicht etwas besonders Sympathisches. Sie verliert sich in Gedanken, weiß, dass er sie magisch anzieht und ihre Gefühle durcheinanderbringt. Beide sitzen sich jetzt gegenüber. Sie beobachtet seine Hände, die flink mit dem Messer hantieren, um zwei Scheiben Brot abzuschneiden. In diesem Moment wünscht sie sich einen ebensolch großen Krümel seiner Beachtung zu finden, wie den, den er gerade auf den Boden fallen lässt.
"Was trinkst du heute Morgen?"
"Kaffee, schwarzen heißen Kaffee!", entgegnet sie in einer Tonlage, die eigentlich keinen Widerspruch duldet. Er lässt sich nicht davon beeindrucken.
"Du trinkst keinen Kaffee, das möchte ich nicht, der ist nicht gesund und außerdem zu teuer, mach dir eine Milch."
Obwohl seine freundliche Art darüber hinwegtäuscht, dass er sich durchzusetzen vermag, will sie ihm etwas entgegnen. Doch sie ist lieber still. Mittlerweile vom Stuhl aufgesprungen, spricht sie mit krächzender Stimme eine jener Unanständigkeiten aus, die sie eigentlich nicht aussprechen sollte, holt einen Milchtopf aus dem Schrank. Das Gefäß steht nun auf dem Gasherd, obgleich die Milch nach wenigen Minuten überzulaufen droht. Den noch von der Mutter gehäkelten Topflappen in der Hand, gießt sie sich die heiße Flüssigkeit in die Tasse.
"Bist du nun zufrieden?"
Noch immer über seine ablehnenden Worte verschnupft, hebt sie langsam den Kopf, meint: "Scheußliches Getränk."
Paul lächelt nur, streicht ihr erst über die Schultern, dann über den Po. Doch mit dieser Zärtlichkeit kann sie nichts anfangen, denn vor ein paar Augenblicken hat er ihr noch verboten, Kaffee zu trinken. Obwohl sie meist eine lenkbare Tochter ist und vieles richtig findet, was er sagt, hat sie immer öfter eigene Vorstellungen, möchte sie ausprobieren. Durchläuft gerade eine Phase in der es Eltern, insbesondere alleinerziehende Väter, nicht immer einfach haben.
"Was machen wir mit Agnes' Kleidern?", fragt er.
"Tja, gute Frage, sortieren und verkaufen, oder verschenken."
"Vielleicht könntest du auch ein paar besonders schöne Sachen behalten?"
"Möglich", antwortet sie nur, fühlt die besondere Wärme, die von seiner Hand ausgeht, die er ihr auf die Schulter legt. Doch blitzschnell erhebt er sich, läuft in sein Schlafzimmer.
"Komm mal, ich will dir etwas zeigen."
Sie betritt den Raum, wo er schon vor dem großen Kleiderschrank steht. Sein Bett ist nicht gemacht, zerwühlt, das weiße Laken ist verrutscht. Ein noch zartes Sonnenlicht wirft schon einen hellen Streifen auf den Fußboden.
"Schau, die vielen schönen Blusen. Bestimmt passt dir eine davon."
Zaghaft schüttelt sie den Kopf und meint, Mama sei etwas fülliger gewesen.
"Probier sie an", bedrängt er sie, und obwohl sie gar keine Lust hat, Kleider anzuprobieren, lässt sie sich darauf ein. Er legt ihr zwei Pullover in die Hand, die er sorgfältig ausgewählt hat. Obwohl ihre großen Brüste noch von einem grauen Wollpulli bedeckt sind, wirken sie ungemein aufregend auf ihn.
"Schau mal, die warmen Farben passen zu deinem dunklen Haar."
Er deutet auf die beiden Kleidungsstücke. Sie hält sich die Pullis an, streift kurzerhand ihren grauen Pullover vom Oberkörper, zieht den der Mutter an, der unangenehm zu spannen beginnt.
"Du hast ja noch mehr Busen als deine Mutter."
Es klingt, als würde es ihn überraschen. Er beobachtet, wie sie ihre Hüften schwingt, betrachtet ihre hübschen Beine, die, als er weiter nach unten schaut, in glänzenden Lackschuhen enden. Keiner der Pullover passt ihr, er legt die Kleidungsstücke wieder zusammen, schiebt sie in das oberste Fach des Schrankes und zieht anschließend die schweren Stoffgardinen noch weiter auseinander. Die Morgensonne sieht nun mit all ihrer Kraft durchs Fenster, zieht einen Streifen hellen Lichts durch das Schlafzimmer, macht beiden gute Laune. Er lächelt, dabei fällt ihr wieder sein Grübchen am Kinn auf, wie es sich durch die schnelle Mundbewegung vergrößert und seinem Gesicht eine Attraktivität verleiht, ihn vom Scheitel bis zur Sohle zu einer makellosen und liebenswerten Erscheinung werden lässt.
Vor ein paar Wochen haben sie den Jahreswechsel gefeiert, obwohl sie sich an die neue Jahreszahl 1939 überhaupt nicht gewöhnen kann. Paul hat es sich in dem großen, hohen Lehnsessel bequem gemacht, trinkt Kamillentee, den sie ihm gekocht hat. Sie ist müde, gähnt, will in ihr Zimmer gehen, er hält sie am Arm fest.
"Gibst du mir noch einen Gutenachtkuss?"
"Natürlich", beteuert sie, als sie schon im Türrahmen ihres Zimmers steht, sich das kurze, flauschige Nachthemd anzieht, das sich wie eine zweite Haut an ihren Körper legt. Mit nackten Füßen tippelt sie wieder in das Wohnzimmer, drückt seinen Kopf an ihre Brüste, gibt ihm einen Gutenachtkuss auf die Stirn.
"Schlaf gut", sagt er. "Hörst du, schlaf gut", wiederholt er, umfasst ihre nackten warmen Beine, stößt ihr, ohne viel Kraft und Elan, sanft in die Rippen. Dabei durchflutet sie wieder dieses Gefühl, das sie immer spürt, wenn er sie berührt. So sicher wie in seinen Armen hat sie sich selten gefühlt. In dieser anheimelnden Atmosphäre und in Erwartung dessen, was noch kommen könnte, bleibt sie neben ihm stehen und betrachtet seine braunen Straßenschuhe, die vor Sauberkeit blitzen. Selbst seine in der Mitte gescheitelten Haare liegen tadellos. Doch ihre schöne Erwartung ist wie weggeblasen, als sie den Empfänger wieder einschaltet. Das vierte Kind aus dritter Ehe des Alois Hitlers, eines österreichischen Zollbeamten, spricht zu seinem Volk: Adolf! Sie hört sich das nicht lange an, schaltet den Empfänger wieder aus, denn der Mann spricht nicht nur hart und laut, sondern rollt dazu noch das "r". Der Vater eilt ein paar Mal durch den Raum, meint, es sei gut, dass sie diesem Mann nicht nur die Stimme, sondern auch die Worte genommen habe. Gedankenverloren schaut sie ihm nach, beobachtet, wie er in sein Schlafzimmer geht, sich das Hemd aufknöpft, es über den Stuhl hängt. Nur seine Unterhose behält er an, ein etwas unförmiges, vom vielen Waschen ergrautes, ausgeleiertes Wäschestück. Bald darauf hört sie sein lautes Schnarchen, fühlt so etwas wie Zufriedenheit, vielleicht auch Glück, etwas, was sie immer fühlt, wenn er in ihrer Nähe ist.
Die Glocken einer nicht weit entfernt liegenden Kirche läuten. Zunächst gähnt sie und verflucht dieses verdammte Gebimmel, das sie eben aus dem Schlaf gerissen hat. Nach ein paar Minuten gewöhnt sie sich daran, findet es sogar romantisch, dass sie Glocken hört.
"Aufstehen, aufstehen", säuselt eine Stimme.
Paul steckt seinen Kopf in ihre Zimmertür und bleibt zunächst stehen. Kurz darauf entscheidet er sich anders und schreitet auf ihr Bett zu.
"Komm, setz dich."
Sie weist ihm ein Plätzchen auf der Matratze zu, die in der Mitte schon durchgelegen ist und beim Draufsetzen laut zu knarren beginnt. Er riecht gut, frisch gebadet, genauso wie sie. Zugegeben, die samstägliche Badezeremonie ist etwas umständlich, denn sie findet mangels eines richtigen Bades in der Küche in einer nicht allzu großen Wanne statt. Als die Mutter noch lebte, ist erst der Stiefvater, dann Agnes und zu guter Letzt auch Lena in das nur lauwarme Wasser gestiegen.
Er streicht ihr über die Wange, umfasst ihre Schultern und bemerkt mit leiser Stimme: "Ich bin so froh, dass ich dich habe."
Sie spürt die Wärme seiner Haut, schließt die Augen, strahlt in diesem Augenblick eine Zufriedenheit aus, die ihr das Leben leicht und unbeschwert macht. Etwas unbeholfen rollt er sich von der Matratze und steht auf. Noch im Türrahmen stehend ruft er ihr zu, dass er mit dem Hund Gassi gehen wolle, schlurft in seinen alten und bereits ausgetretenen Romikahausschuhen in den Flur, leint den Hund an, der freudig zu bellen beginnt. Gerne würde er sich ein paar neue Hausschuhe dieser Marke kaufen, die Inhaber von Romika aber sind Juden und mussten längst fliehen. Und die neuen arischen Eigentümer, die das Unternehmen wahrscheinlich weit unter Wert erworben haben, will er nicht unterstützen, da ist er konsequent. Als sie aufrecht vor dem Spiegel steht, bürstet sie ihr Haar, geht in das Zimmer zurück, zieht sich erst die Strümpfe, dann einen weiten, bequemen Rock mit der dazu passenden Bluse an.
"Hast du schon Kaffee gemahlen?"
Sie schaut betreten, erklärt, das habe sie vergessen.
"Wie kannst du es nur vergessen, das ist nun deine Aufgabe."
"Jawohl, mein Herr", sie nennt ihn erst beim Vor-, dann beim Nachnamen.
"Warum kochst du diese Wäsche auf dem Gas? Hast du schon deine Tage?"
Diese Frage ist ihr unangenehm, sie errötet.
"Ja, meine Monatswäsche", sagt sie, blickt verlegen auf den Fußboden, holt zwei Teller aus dem Küchenschrank, setzt sich auf den braunen Holzstuhl, der etwas abseits am Fenster steht. Sie spürt so etwas wie Dampf, der ihr in die Augen steigt. Es ist jedoch nur der Dampf der Wäsche, die auf dem Herd steht und dort kocht.
"Gehst du gerne zur Schule?", fragt er völlig unvermittelt, schnalzt mit der Zunge, und sie weiß gar nicht, warum er gerade jetzt diese Frage stellt.
Doch als würde ihn das Zeitunglesen mehr interessieren als ihre Antwort, widmet er sich sofort wieder der Lektüre, sie bemerkt es und sagt zunächst kein Wort mehr. Mittlerweile denkt sie an diesen seltsamen Lehrer, der heute vertretungsweise den Unterricht gehalten und erzählt hat, er müsse bald nach Afrika gehen, um die verwirrten Negerseelen zu den abendländischen Werten zu bekehren.
"Furchtbar, furchtbar!", ruft Paul plötzlich so laut, dass seine Worte die gerade eingetretene Stille wie einen Paukenschlag durchbrechen.
"Es ist ein 'Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden' gegründet worden. Alles wollen sie katalogisieren und registrieren, alles soll gemeldet werden. Es würde mich nicht wundern, wenn sie irgendwann schon den Gesundheitszustand der Neugeborenen in Meldebögen erfassen. Was das für behinderte Kinder bedeutet, mag ich mir gar nicht vorstellen", hört sie ihn schimpfen. Was daran so abscheulich sei, fragt sie, denn es ist ihr ziemlich unverständlich, dass er sich darüber so aufregt.
"Heute sollen sie nur erfasst werden, morgen geschieht vielleicht noch Schlimmeres mit ihnen."
"Mal nicht den Teufel an die Wand, warum sollten die so etwas tun?"
Er schaut sie von der Seite an, bleibt ihr die Antwort schuldig.
Doch er sollte recht behalten, denn noch im gleichen Jahr wird ein streng geheimer Runderlass des Reichsministers des Innern vorschreiben, dass behinderte Kinder von Hebammen und Ärzten gemeldet werden müssen.
"Den moralischen Fortschritt eines Landes kann man daran erkennen, wie die Gesellschaft mit Kranken und Behinderten umgeht", stellt er fest.
"Die Größe und den moralischen Fortschritt einer Nation kann man auch daran messen, wie sie ihre Tiere behandelt", ergänzt sie.
"Das hat ein berühmter Mann gesagt."
"Mahatma Gandhi, das haben wir in der Schule gelernt."
Doch er hört ihr nicht mehr zu, ist so in Gedanken vertieft, dass er gar nicht bemerkt, wie sie aufsteht, in ihr Zimmer geht, sich auf das Bett legt, ihren Arm unter den Kopf schiebt und verträumt an die weiße Decke schaut.
Von der Küche her kommt ein Geräusch, sie hört, wie er seine Zeitung zusammenlegt, den Stuhl zur Seite schiebt und an ihre Zimmertür tritt. Noch im Türrahmen stehend hat er das Gefühl, ihm würde ein bohrender Schmerz in den rechten Oberarm fahren, doch er ist sich ganz sicher, dass Herzinfarkte meist ihre Stiche in den linken Arm senden.
"Bist du schon wieder müde?"
Sie lächelt, reagiert nicht auf seine Worte. Er setzt sich auf die Bettkante, legt erst seine Hand auf ihren Kopf, dann umfasst er ihren Arm, der warm, ja fast heiß ist. Aus halb geschlossenen Augen bemerkt sie, wie er kurz gähnt, sich dabei langsam auf ihr Bett rollen lässt.
"Das ist ein Mädchenbett, wenn du dich auch noch darauf legst, wird es zusammenbrechen."
"Betten sind sehr stabil und brechen nicht so schnell zusammen", erwidert er. Von der Seite betrachtet sie seine nackte Brust, die durch das geöffnete Hemd hervorschaut und den Blick auf die hell gewellten, fast blonden Härchen freigibt, die störrisch in die Luft stehen. Sich plötzlich räuspernd, strafft er seinen Oberkörper, als müsse er Haltung annehmen, sie aber weiß gar nicht, warum er das tut, fragt ihn stattdessen, wo Oskar sei.
"In der Küche unter dem Tisch."
"Was war das eben?"
"Es hat geklingelt."
Er steht auf und flitzt auf Socken durch das Zimmer in den Flur, bleibt vor der Tür stehen, sagt, es sei nur der Postbote gewesen, legt sich wieder neben sie. Noch einige Zeit darüber grübelnd, warum der Postbote gerade bei ihnen geklingelt hat, dreht sie ihm das Gesicht zu.
"Du bist sehr hübsch, weißt du das, Lena?"
"Das hast du mir schon so oft gesagt."
"Und es ist ein Kompliment, warum willst du es nicht annehmen?"
Gedanken gehen ihm durch den Kopf und vom vielen Nachdenken bekommt er zuerst Kopfweh, dann macht sich ein seltsames Brummen in seinem Schädel breit und zu guter Letzt sieht er alles verschwommen, manchmal sogar doppelt. Doch im Nu überwindet er all diese Unannehmlichkeiten und berührt zärtlich ihre Haut, als fürchte er, Spuren auf ihrem Gesicht zu hinterlassen. Sie betrachtet ihn, spricht mit einer solch verführerischen und hingebungsvollen Stimme, dass er gar nicht anders kann und sie zu küssen beginnt. Hatte sie vor Sekunden noch Angst, seine Zärtlichkeiten zu erwidern, ist sie plötzlich voller Leidenschaft. Von einem Mann geküsst zu werden, das hat sie noch nie erlebt. Seine Hand fasst sanft unter ihre Bluse, streichelt ihre nackten Brüste. Wie Feuer durchdringt Wärme ihre Haut und sie spürt, wie sich ihre Brust in Sekunden verändert, größer, straffer wird. Ihre Lippen betrachtend gleiten seine Finger tiefer, umfassen die schmale Taille, die Hüften, betasten wieder ihre Wangen, zeichnen den Bogen ihrer Brauen, den weichen Schwung ihrer Lippen nach. Stunden liegen sie zusammen, ineinander verschlungen, wollen sich gar nicht mehr voneinander lösen.
"Ich bin so glücklich, dass ich dich habe", flüstert er, als wollte er seine Stimme dem ruhigen sanften Licht anpassen, das mittlerweile von draußen in das Zimmer dringt. Dabei tasten sich seine Augen durch die Dämmerung, die den Nachmittag in einem zwielichtigen Schimmer erscheinen lassen. In diesem Moment spürt sie nichts mehr von der Kälte, die sie so oft umgibt. Als wäre sie in einer glitzernden Märchenwelt gefangen, nimmt sie nur noch ihn wahr. Gefühle durchfluten das Zimmer, lassen Empfindungen höher schweben, und sie sieht den Himmel über sich, der, als habe man ihn erleuchtet, zu strahlen beginnt. Beide schweben auf einer Wolke von Stimmungen, einer Mischung aus Glück und Zufriedenheit, aber auch der Gewissheit, etwas Verbotenes zu tun.
"Verzeihung", sagt er plötzlich, reißt sie aus ihren Träumen, sie hält ihm den Finger auf den Mund, möchte, dass er still ist, doch er lässt sich nicht beirren.
"Wir dürfen das nicht", flüstert er und sie spürt die Bedenken und seine Bedrücktheit sogar in seiner Stimme.
Eigentlich ist er das Urbild eines ordentlichen Bürgers, der Sicherheit und Vernunft zugeneigt, doch nur Augenblicke zuvor scheint all das aus den Fugen geraten zu sein und er fühlt sich gewissermaßen zwischen zwei Welten zerrissen: einer solid-bürgerlichen, in der alles geregelt ist und vernünftig zugeht, und einer abenteuerlichen, von den Geheimnissen einer verbotenen Liebe durchdrungenen Welt. Gleichzeitig spürt er, wie der Widerstand in ihm erlischt, das Verbotene und Ungewisse aufzuhalten.
Nach einer Weile ruhiger geworden und mit klarem Kopf steht er auf, huscht mit leisen Schritten in den Flur. Sie hört, wie er in sein Zimmer geht, weiß, dass sie verliebt ist, nur noch Augen für ihn hat, kuschelt ihr Gesicht in die Daunen des Kissens, schläft wie ein satter Säugling in der Wiege ein.
Am nächsten Morgen hört sie, wie er sich im Flur die Schuhe anzieht, die Jacke überstreift, plötzlich neben ihr steht, sie in die Arme nimmt und fest an sich drückt.
"Ich bin bald zurück, machst du mir etwas Leckeres zu essen?"
Obwohl sie genau versteht, was er sagt, will sie nicht antworten, steht vom Stuhl auf, sieht ihm durch das geschlossene Fenster nach, wie er die Straße hinuntergeht. Heftig atmend patscht er durch wasserspritzende Pfützen, überspringt am Marktplatz einige Stufen der Steintreppe, reibt sich die feuchten Hände an der Hose ab und erreicht das Gebäude, wo, zwischen Bäumen versteckt in einem parkähnlichen Gelände, das Büro liegt. Seit Jahren ist er dort als leitender Buchhalter einer Schuhfabrik tätig.