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Kein glücklicher Tag

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Es ist früh am Morgen, als sie aus dem Fenster schaut. Fast alle Gebäude sehen gleich aus, sind schon ein halbes Jahrhundert alt. In vielen gibt es nur einen Ofen, der meist mit Kohle befeuert wird. Gedanken belasten sie seit Tagen, meist nachts, heute aber sind sie schon am frühen Morgen da. Manchmal versucht sie, sie durch Lesen zu bezwingen, und wenn sie Glück hat und sich nur tief genug in ein Buch vergräbt, gelingt ihr das auch, denn für ein spannendes Buch vergisst sie schon mal die Welt. Doch heute nicht, sie hat es nach dem Aufstehen versucht, vergeblich! Je heller es wird, desto größer wird ihr Unbehagen. Im Bauch, in der Brust wird es eng, es ist kein Schmerz, eher so ein mulmiges Gefühl. Gedanken wirbeln ihr durch den Kopf und sie sieht schemenhaft den Stiefvater, der sich gerade laut fragt, wo er die Zeitung hingelegt haben könnte. Er ist schlank, sein Gesicht hat etwas Liebenswertes, selbst im Sitzen erscheinen seine Schultern auffallend breit. Ein hochgewachsener Mann, tadellos gekleidet, alles an ihm lässt den Schluss zu, dass er jedes Staubkorn, jeden noch so kleinen Fussel an sich verachtet, immer auf Makellosigkeit bedacht ist. Seine Augen strahlen so braun wie die Mohrenköpfe, die es in den Jahrmarktsbuden jetzt überall zu kaufen gibt.

Etwas steif, mit unbeweglicher Miene, steht er vom Sessel auf, sieht zu Lena herüber, die mit ausgestreckten Beinen, ganz in sich versunken, auf dem Sofa sitzt und vor sich hin summt. Er hebt den Kopf, läuft ein paar Schritte, seine Stimme klingt seltsam verklärt, hat etwas Großväterliches, obwohl sie gar nicht versteht, warum er auf einmal so komisch spricht.

"Lena, was summst du da überhaupt?"

Sie schmettert die Frage mit einer beherzten Handbewegung ab und schweigt. Ob sie seine Frage beantworten könne oder ob das zu viel verlangt sei, will er wissen.

"Ich summe ein Lied, alle haben es gestern in der Schule gesummt, die meisten sogar gepfiffen."

"So, so, gepfiffen, dir ist klar, dass es kein schönes Lied ist."

"Geschmackssache."

Er lächelt, es ist jedoch kein richtiges, eher ein in sich gekehrtes Lächeln. Mit übereinandergeschlagenen Beinen sitzt sie inmitten brauner weicher Kissen, fasst sich in die Achselhöhle, bemerkt zunächst überhaupt nichts, dann einen leichten Schweißgeruch, der vom Parfum, das sie sich heute Morgen ein bisschen zu großzügig aufgetragen hat, überlagert wird. Vom Fenster aus beobachtet sie wieder die Straße, hat einen hervorragenden Blick auf die gegenüberliegenden Häuser. Es ist eine typische Innenstadtstraße, breit, geradlinig, ist früher vielleicht eine Allee gewesen, von deren einstmaliger Pracht nichts mehr zu sehen ist. Wie ein ozeanischer Strom, der zwei Kontinente voneinander trennt, klemmt sie sich zwischen die beiden Welten, hier ein armes Arbeiterviertel, dort ein Viertel der wohlhabenderen Gesellschaft.

Der heutige Tag ist klirrend kalt und der Vater hat den Ofen im Wohnzimmer angezündet, obwohl sie beide lieber in der Küche sitzen. Eigentlich haben sie immer in der Küche gesessen, Lena, die Mutter Agnes und der Stiefvater. Das am anderen Ende des Flures liegende große Wohnzimmer bleibt meist leer.

"Die Pension hat mir geschrieben."

"Welche Pension?", fragt sie.

"Na, die in Zinnowitz."

In diesem Augenblick denkt sie an die Ostsee, an das grau-blau glitzernde Meer und an tobende Wellen, die an das Ufer donnern.

"Ich habe ihnen mitgeteilt, dass wir in absehbarer Zeit nicht mehr kommen werden."

Lena nickt, ihr wird auf einmal speiübel.

"Und ich habe auch die Anzeige zum Tod von Agnes beigelegt, die heute in der Zeitung erschienen ist."

Sie nickt wieder und schluckt, spürt, wie sich ein dicker Kloß durch ihren Hals schiebt.

"Warum ist die Anzeige erst heute, eigentlich viel zu spät, erschienen?"

"Ist halt so und jetzt auch nicht mehr zu ändern, in all der Aufregung habe ich nicht rechtzeitig daran gedacht."

Seit einiger Zeit sitzen sie nun schon im Zimmer. Vor dem Ofen hat Oskar, Lenas kleiner Hund, es sich bequem gemacht.

Heute ist kein schöner Tag. Sie spürt die heiße Milch, die sie trinkt und die ihr den Mund verbrennt, den viel zu engen schwarzen Rock, der ihr den Bauch einschnürt. In diesem Moment fällt ihr auch der kleine blasse Junge wieder ein, den sie vor ein paar Tagen an dem Holzschuppen gesehen hat. Und sie weiß, dass sie heute etwas erwartet, was sie niemals erleben wollte, die Beerdigung von Agnes, ihrer Mutter. Die Trauer um ihren Tod empfindet sie wie ein unbelichtetes Foto, ein verwirrendes, unwirkliches Gefühlschaos. Den ganzen Morgen ist sie schon durcheinander, manchmal völlig daneben, fahrig, denkt an das, was ihr gleich bevorsteht. Von Zeit zu Zeit verliert sie sogar den gedanklichen Faden und beschließt, das Ganze mit der Beerdigung noch einmal von vorne zu durchdenken.

Der Vater hebt den Kopf, betrachtet sie mit feierlichem Ernst. Das mag sie so an ihm. Während die Jungen ihres Alters zu Albernheiten neigen, spricht er mit ihr, als wäre sie eine erwachsene Frau, und er hört ihr auch meist zu, wenn sie etwas sagt. Nur selten überhört er ihre Worte, allenfalls dann, wenn ihm etwas anderes wichtiger ist, was allerdings nicht oft, nur hin und wieder einmal, vorkommt. Oft lobt er sie, etwas, was andere Väter nicht tun, das weiß sie.

Gegen zehn Uhr verlassen sie die Wohnung, steigen das dunkle Treppenhaus hinunter, schlagen die schwere graue Eisentür hinter sich zu und gehen eine schmale, mit Basaltsteinen gepflasterte Straße entlang. Der Vater umfasst ihre Schultern, und obwohl sie diese Geste so sehr mag, zieht er hastig seinen Arm zurück, schaut sich verlegen um.

Die Straße, in die sie nun einbiegen, ist hier zwar breit, doch weder schön noch ausgesprochen hässlich, schlängelt sich eher langweilig einen Hügel hinauf. Sie hängt sich bei ihm ein, muss es tun, denn sie spürt, wie ihr die Kraft aus den Beinen weicht und nicht mehr zurückkommen will. Immer kraftloser wird ihr Körper, je näher sie dem Frankfurter Hauptfriedhof kommen, der sich schon schemenhaft aus dem Nebel schält. Vor ein paar Monaten ist sie mit der Schulklasse hier gewesen, daran erinnert sie sich wieder. An den Gräbern berühmter Leute wie Friedrich Stoltze, Goethes verheirateter Liebe Marianne von Willemer und dem Nervenarzt und Struwwelpeter-Autor Heinrich Hoffman haben sie gestanden. Der Vater wirft einen Blick zu den Gräbern der Prominenten und meint, wer hier liege, habe es im Leben zu etwas gebracht. Behutsam ergreift er die kalte Klinke des Portals der Kapelle und sie nähern sich einem schmalen Altar, der weit vorne steht. Nur ihre hallenden Schritte sind zu hören, denn die Kapelle ist ansonsten leer. Sie gehen an den Sitzbänken vorbei und Lena wünscht sich, dass viele Menschen gekommen wären, um ihr Trost zuzusprechen, doch niemand ist da, will der verstorbenen Mutter die letzte Ehre erweisen. Schade! Die Mutter hatte man gemocht, eine angenehme und sympathische Frau, deren schwarzer, einfacher Sarg vor dem schmucklosen Altar steht und nur mit einem kleinen Bouquet Rosen bedeckt ist, dessen rote Blüten zu leuchten beginnen.

Beide nehmen in der vordersten Bank Platz. Lena sieht auf das Bild der Mutter, das vor dem Sarg auf dem Boden steht. Es neigt sich leicht zur Seite, zeigt eine Frau Anfang dreißig, deren schwarze, schulterlange Haare ein herzförmiges Gesicht umrahmen, den dunklen, fast asiatisch wirkenden Augen etwas Fremdartiges, ja Feuriges geben. Der Vater sitzt noch immer neben ihr, räuspert sich leise, versucht ihre kalte Hand zu ertasten, die er ihr aus der Manteltasche zieht und fest drückt. Es hat etwas Beruhigendes, wenn sie seine Hand spürt, das wird ihr sogleich bewusst. Auch wenn es nicht ihr leiblicher Vater ist, hat er sich immer liebevoll um sie gekümmert. Seine Souveränität ist es, die sie so beeindruckt und die er in den aussichtslosesten Situationen schon unter Beweis gestellt hat. Während sie bei manchem zagt und zögert, geht er zielstrebig auf die Dinge zu, hat in brenzligen Situationen schon mal eine Ausdauer wie ein Kamel. Obwohl sie diesem Wüstenschiff noch nie von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden hat, weiß sie, dass Kamele sehr ausdauernd sind. Eigentlich hat sie nur noch ihn und sie ist stolz darauf, dass er ihr zur Seite steht, obwohl sie beide sehr verschieden sind. Während er eher ein stilles Wasser ist, ruhig, tief, bedächtig, und immer, wenn es eng wird, einen Ausweg weiß, ist sie eine unruhige Welle, die meist nur viel Schaum macht. Seit dem Tod der Mutter redet sie ihn nur noch mit Paul an. Doch eigentlich heißt er Paul-Heinrich und hat noch ein paar Vornamen mehr.

Die schwere Holztür der Kapelle öffnet sich und fällt dann laut ins Schloss. Das Morgenlicht wirft seltsame Schatten an die Wände, verdunkelt erst den Raum, um ihn gleich wieder mit Licht zu durchfluten. Erstaunt dreht sich Lena um, Paul tut es ebenso. Eine alte Frau, den Rücken gebeugt, mit schon schlohweißem Haar, geht den schmalen Gang zwischen den Bänken entlang, bleibt neben den beiden stehen. Sanft legt sie Lena die Hände an den Kopf, drückt sie fest an ihre Brust. Der bleibt erst einmal die Luft weg, obgleich sie die Wärme und Zuneigung dieser Frau fühlt, es kaum fassen kann, so liebevoll von einer Fremden umarmt zu werden. Eine Zeit lang sieht sie in das zum Knoten zusammengebundene Haar, betrachtet den gebeugten Körper, der fast vornüberfällt, schätzt es, dass diese Frau neben ihr steht, ihr mit einer solch herzlichen Geste ihre Anteilnahme zum Ausdruck bringt.

"Danke, dass Sie unseren Weg und den meiner verstorbenen Frau begleiten", sagt Paul mit brechender Stimme, drückt der Frau die Hand. Die lächelt nur, ihr fast zahnloser Mund legt sich in tiefe Falten, obgleich ihr altes, von Sorgen gezeichnetes Gesicht so viel Wärme ausstrahlt, dass es scheint, als lächele ihr eine hübsche, viel jüngere Frau zu. Selbst wenn sie spricht, spielt ein Strahlen um ihren Mund. Ihr Lächeln verströmt etwas, das Lena nicht nur beeindruckt, sondern auch beruhigt, und sie fühlt plötzlich eine Unbeschwertheit, die für eine Trauernde während der Beerdigung gar nicht angebracht scheint.

Ein kleiner Trauerzug formiert sich, der an einer Gräberreihe zum Stehen kommt. Es ist mucksmäuschenstill, nicht einmal Vögel begleiten diesen kurzen, letzten Gang der Mutter, obgleich verständlich, denn die meisten Vögel sind irgendwo im Warmen, in Afrika oder sonst wo auf der Welt. Schweigend dreht sich der Vater um, nimmt erst Lena, dann die Frau in den Arm. Es ist nun windstill, aber noch immer kalt, kein Wetter, das die Seele ermuntern könnte. Ein paar Spatzen zanken sich nun in den Bäumen, bewegen die kleinen Körper, wahrscheinlich, um nicht zu erfrieren. Wie eine schwere Gardine hängt die Kälte über dem Ort. Das Geräusch klappernder Absätze schwirrt durch die Luft, und als sie wieder weichen Boden unter den Füßen haben, schreiten sie auf eine breite asphaltierte Straße zu, die sich kerzengerade in der Ferne verliert. Eines dieser hochmodernen Autos, ein Volkswagen, fährt vorbei, ebenso laut wie schnell. Als Lena sich umsieht, ist die alte Frau schon weitergelaufen, ohne sich zu verabschieden. Sie schaut ihr nach, denn diese kleine gebeugte Gestalt in ihren zerschlissenen Kleidern ist wie ein Geschenk an diesem Morgen, vermittelt ihr Hoffnung und Mut. Niemand sollte sie mehr wiedersehen.

Vom Frankfurter Hauptfriedhof kommend, biegen sie in eine breite Straße ein. Der Wagen eines Fuhrwerks steht quer auf der Fahrbahn. Zwei Pferde beginnen zu scheuen und galoppieren die Straße entlang, den Wagen wie einen ägyptischen Streitwagen hinter sich herziehend.

"Halt ... halt! Oh Gott verdammt, meine Pferde!"

Der Mann, der auf dem Fuhrwerk sitzt und sich mit akrobatischen Bewegungen auf der Sitzbank zu halten versucht, schreit wieder nach seinen Gäulen. Lena gestikuliert ängstlich mit den Händen, schaut nach Paul, der auf die Straße rennt, sich den Pferden auf Höhe der hier einmündenden Bergerstraße entgegenstellt und sie mit erhobenen Armen zum Stehen bringt. Die Passanten, die das beobachten, klatschen, und Lena ist in diesem Moment mächtig stolz auf den Vater. Laut wiehernd und mit viel Schaum vorm Maul ziehen die Tiere den Wagen zur Seite.

"Brav, brav, ganz brav", sagt der völlig verstörte Mann hoch oben auf dem Wagen und beginnt, die Autofahrer zu beschimpfen. Die umstehenden Passanten versuchen, den aufgebrachten Mann zu beruhigen, was irgendwann auch gelingt.

"Warum hat der Mann so ein puterrotes Gesicht?", fragt Lena.

"Stress, purer Stress, wenn einem die Gäule durchgehen, ist das kein Zuckerschlecken. Vielleicht hat er auch einen zu viel gezischt", meint Paul und bemerkt Lenas fragende Augen.

"Der hat einen gesoffen! Heute ist Zahltag. Viele bekommen ihren Lohn und manche vertrinken ihn gleich wieder. Hast du noch nie die Frauen beobachtet, die die Männer aus den Gasthäusern holen, manchmal sogar unter Androhung von Prügel?"

"Nein, das habe ich noch nie gesehen."

"Wenn die eigene Frau im Anmarsch ist, ducken sich die Männer einfach weg, meist unter den Tisch, was von ihren Saufkumpanen nicht nur toleriert, sondern regelrecht gedeckt wird. Wenn es ums Saufen geht, halten die wie Pech und Schwefel zusammen."

"Hast du das auch schon mal gemacht?"

"Nein, ich gehöre nicht zu der Fraktion dieser Kampftrinker, denn das ist eine böse Sache", versucht er sie zu beruhigen.

Mittlerweile stehen sie vor der Eingangstür des Hauses, in dem sie zur Miete wohnen. Als Lena die Wohnung betritt, brennt im Wohnzimmer noch immer der Ofen, verbreitet eine wohlige Wärme. In der Küche steht nur ein Gasherd. Den neuen Herd haben sie vor Kurzem angeschafft, denn durch die Senkung der Gaspreise und den bezuschussten Kauf von Gasgeräten, haben sie sich so etwas Modernes leisten können. Staatliche Förderprogramme haben Mitte der Dreißigerjahre dazu geführt, dass neue Gasherde, Warmwasseranlagen und Waschmaschinen gekauft werden konnten. Von diesem "staatlichen Segen" haben auch sie profitiert.

"Du musst mit dem Hund raus, der will bestimmt mal Pipi machen", ruft Paul, ist sich aber nicht sicher, ob sie es gehört hat, denn sie hebt nur den Kopf und schaut, in jugendlicher Selbstvergessenheit, ins Wohnzimmer. Ihr Blick fällt auf die dunklen schweren Möbel, die einst für Generationen gezimmert wurden, dem Raum etwas Staubiges und zugleich Liebenswertes geben.

Sehnsucht einer Stieftochter

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