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6 Freitag

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Ich stand in meinem Zimmer und blickte aus dem Fenster. Seit zwei Tagen hatte ich es nicht verlassen. Genauer gesagt, seitdem ich Tobias beim Küssen mit der anderen erwischt hatte. Ich reagierte kaum auf Nachrichten. Tobias hatte mehrmals versucht, mich anzurufen. Ich hatte nicht abgenommen. Die eingegangenen Mailbox-Nachrichten von ihm hatte ich auch nicht abgehört.

Meine Eltern waren arbeiten. Zum Glück ließ mich Mama in Ruhe. Ich wollte nicht darüber reden und hatte seitdem kaum gegessen. Ich beschloss, wenigstens einen Toast zu essen. Etwas zur Stärkung, denn in einer Stunde war die Orchesterprobe des HHC Tigersheim. Dort spielte ich seit vielen Jahren Akkordeon. Seit etwa drei Jahren sogar im großen Orchester. Darauf war ich sehr stolz und nichts konnte mich daran hindern, an der Probe teilzunehmen.

Ich riss mich von dem Ausblick an meinem Fenster los und ging nach unten in die Küche. Mein kleiner Bruder hatte mal wieder sein Abendessen, Mamas Auflauf, nicht ganz aufgegessen. Der war immer super, aber mir war nicht danach. Ich nahm einen Toast und steckte ihn in den Toaster. Als er wieder heraussprang, strich ich Nutella darauf. Den kleinen Rest, den ich nicht aufgegessen hatte, warf ich in den Mülleimer. Ich holte schnell mein Akkordeon und trug es vorsichtig zum Wagen. Ich hatte von meinen Eltern einen kleinen VW up zum achtzehnten Geburtstag bekommen. In schwarz mit lila Streifen. Die Kombination war einfach genial. Da ich eher selten fuhr, brauchte ich gerade mal eine Tankfüllung im Monat. Ich fuhr nach Tigersheim. Dort fand das Orchester im großen Musiksaal der Grund- und Hauptschule statt, die eigentlich nur noch die Grundschule beherbergte. Die Hauptschüler gingen nach Spullberg in die große Hauptschule, da es zu wenige Schüler für eine ganze Klasse gab.

"Hallo Anna!", wurde ich freudig begrüßt. So war das hier. Alle aktiven Spieler waren superlieb und man spürte jedes Mal den Zusammenhalt, zu dem jeder Einzelne seinen Teil beitrug. Walter, unser erster Vorstand, drückte mich kurz.

"Schön, dass du da bist. Und wie geht's dir? Was macht die Liebe?" Er zwinkerte mir verschwörerisch zu. Ich fing fast wieder an zu heulen. Zum Glück erlöste mich mein Kumpel Daniel.

"Hey, na, alles klar?", fragte er und umarmte mich. Ich entzog mich der Umarmung und meinte nur: "Klar, wie immer halt."

Mein schiefes Grinsen schien ihn nicht ganz zu überzeugen, aber glücklicherweise fragte er nicht weiter nach. Ich nahm mein Akkordeon und setzte mich auf meinen Platz. Unser Orchester ist in vier Stimmen aufgeteilt. Bass und E-Gitarre ergänzen es. Die Vierte, bei der ich mitspiele, ist meiner Meinung nach die schwierigste. Dafür, dass ich nur selten übte, konnte ich mittlerweile sehr gut mitspielen. Die meisten unserer fünfundzwanzig Akkordeonspieler waren jetzt da.

"Also, meine Lieben", sagte Walter und rieb sich dabei die Hände. "Ich hab euch heute nicht viel zu sagen. Der Arbeitsdienst für die Vatertagshocketse ist ja bereits eingeteilt. Jetzt habe ich nur eine Frage. Am Dienstag Morgen wurde der Günther Schwab tot aufgefunden. Ich kenne seinen Bruder und seine Frau ziemlich gut. Und sie hat mich gefragt, ob wir bereit wären, nächsten Mittwoch auf seiner Beerdigung zu spielen. Was haltet ihr davon? Hätten denn alle Zeit? Wir sollen um fünf da sein."

Wir blickten uns an und nickten.

"Klar können wir spielen." Ralph, unser Dirigent, nahm schon seine Noten heraus. "Was sollen wir spielen?"

"Er war auf unserem letzten Herbstkonzert. Ihm haben die Stücke sehr gefallen. Da wäre es doch angebracht, eines davon zu spielen?", meinte Walter, bevor jemand anderes sprechen konnte.

"Ja, das denke ich auch", kam es von Johanna aus der ersten Stimme.

"Jetzt sollte man nur wissen, was wir gespielt haben", sagte Olaf neben mir grinsend.

"Eines war Summer of 69", erinnerte ich mich nachdenklich.

"Spielen wir das Übliche?", fragte Heinz, der auch in der ersten Stimme spielte.

"Auf jeden Fall spielen wir Adiemus!" rief Theresa, die am Bass saß. Da hatte sie recht. Das passte immer gut. Auch wenn der Anlass diesmal nicht sehr schön war. Von dem Mord hatten wir alle bereits gehört. Papa hatte es beim Abendessen erzählt. Mama war der Appetit vergangen und ich wollte alle Details hören, mit denen er natürlich nicht rausrückte. Ich bräuchte solche schmutzigen und betrübenden Dinge nicht zu hören, vor allem nicht beim Essen und in Gegenwart meiner Mutter, lautete die Ermahnung.

"Der Dreamer passt auch ganz gut", wurde ich von Birgit aus meinen Gedanken gerissen. Ja, das stimmte. Ein wunderbares Stück von Ozzy Osbourne.

"Welche Zugabe hattet ihr damals als Erstes gespielt? Die hat ihm sehr gut gefallen", warf Walter in den Raum.

"Misteriosa Venezia war das!", rief Olaf.

"Okay, dann das und Summer und Adiemus. Was noch?" Ralph schaute seine Noten durch. "Choral und Morgens um sieben würde auch passen. Oder Trumpet?" Er blickte uns fragend an.

"Warum nicht alle?" Walter grinste. "Ich ruf morgen die Frau Schwab an und frag mal nach dem Ablauf. Ich bin dann mal weg. Bis später!" Er winkte und verließ den Raum.

"Er muss ja nicht spielen", lachte Ralph. "Ja, dann lasst uns alle durchspielen. Summer!"

Wir lachten alle und suchten flugs die Noten heraus. Die ersten Takte erklangen. Einfach ein Hammer Stück. Trotz der vielen Dreifachgriffe konnte ich fast komplett mitspielen. Es zauberte mir das erste Lächeln seit zwei Tagen auf mein Gesicht. Jetzt wusste ich wieder, weshalb ich so gerne spielte. Das überraschte mich jedes Mal aufs Neue. Auch Adiemus war der Wahnsinn, auch wenn es mich mehrmals aus dem Takt warf. Misteriosa Venezia probierte ich erst gar nicht, da haute es mich jedesmal raus. Ich konnte es mir nicht erklären. Der Rest klappte ganz gut, wenn auch mit Wiederholung. Dann war erst einmal Pause.

"So, jetzt erzähl mal Genaueres." Daniel strahlte mich an. Nikolas und Sophia traten auch näher. "Hallo Anna", begrüßten sie mich.

"Ja, viel mehr weiß ich ja auch nicht", versuchte ich mich herauszureden. Die anderen lachten. "Ja, ist doch so. Papa hat nur gesagt, dass er erstochen wurde. Mit großer Wut und vielen Stichen. Jetzt muss er ja erstmal ermitteln."

"Okay, ja, hast ja recht." Daniel lachte. Wir quatschten noch über Allgemeines, dann spielten wir weiter. Diesmal die Stücke für unser nächstes Herbstkonzert. Da freute ich mich jetzt schon darauf. Wenn es klappte, würde ich wieder die Moderation wie im letzten Jahr übernehmen.

Als ich später wieder in meinem Zimmer war, waren die Gedanken an Tobias wieder allgegenwärtig. Ich konnte sie nicht länger verdrängen. Die Tränen flossen schon wieder. Ich schaltete schnell den Fernseher ein, um mich abzulenken.

Stinkender Verdacht

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