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2 Dienstag

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Ich blickte schlaftrunken auf meinen Wecker und stand in der nächsten Sekunde senkrecht neben meinem Bett. Es war bereits halb neun.

"Verdammt, nicht schon wieder ..."

Nach diesem unvollständigen Satz stolperte ich quer durch mein Zimmer und verschwand schnell im Bad. Das würde wieder Ärger geben! Ich musste mir endlich angewöhnen, abends nicht mehr zu lesen und vor allem, ganz dringend, immer den Wecker zu stellen. Frau Gans stand kurz davor, mir wegen meines recht häufigen Zupätkommens einen Verweis auszustellen, was ich meinem verplanten Gehirn in die Schuhe schieben musste. Da Frau Gans mich seit einigen Jahren kannte und daher wusste, dass ich es nicht mit Absicht tat, nahm sie es meist mit einem amüsierten Lächeln auf. Aber irgendwann war auch ihre Geduld zu Ende.

Zum Glück waren meine Eltern bereits aus dem Haus. Nicht auszudenken, was für eine Strafpredigt mir Mama wieder gehalten hätte. Zu Recht natürlich, aber scharf darauf war ich nicht. Besonders Papa legte sehr viel Wert auf Pünktlichkeit. Er war Kriminalhauptkommissar bei der Polizei in Spullberg. Er belehrte meinen jüngeren Bruder und mich regelmäßig darüber, wie wichtig es war, pünktlich zu erscheinen, obwohl es im Ländle ziemlich ruhig zuging.

Ich schnappte mir Schlüssel, Handy und meine Tasche, die ich dank Mamas Rat immer bereits am Abend vorher packte. Ich warf die Haustür hinter mir zu und holte mein Fahrrad aus dem Schuppen. Die Schule war mit dem Fahrrad in nur fünfzehn Minuten erreichbar, sofern man gut in die Pedalen trat. Siebzehn Minuten später erreichte ich den Pausenhof des Spullberger Twain-Gymnasiums, welches zu Ehren und Andenken an den Schriftsteller Mark Twain so hieß. Die Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn waren die Lieblingsbücher in meiner Kindheit gewesen. Ich schloss mein Fahrrad bei den anderen an der Überdachung ab.

Jetzt hatte ich noch etwa eine Minute, um meine WhatsApp-Nachrichten zu checken. Ein paar Nachrichten von meinen Freundinnen mit der Frage, wo ich den schon wieder abbleiben würde, einer süßen Guten-Morgen-Nachricht von meinem Freund Tobias und von Mama, dass ich doch bitte abends mit dem Hund Gassi gehen sollte, da sie länger arbeiten musste. Ich verdrehte die Augen. Nicht, dass ich nicht gerne mit Lasse Gassi gehen würde. Ich liebte den kleinen Labrador, der mein Leben auf den Kopf gestellt hatte, aber heute kam es mir sehr ungelegen.

Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als ich beinahe gegen die helle Tür meines Klassenzimmers gerannt wäre. Ich schüttelte den Kopf, steckte mein Handy in die Jackentasche und betrat das Klassenzimmer.


Der Kriminalhauptkommissar William Herle saß an seinem Schreibtisch und trank gemütlich eine Tasse Kaffee. Er blätterte in dem Stapel Papier vor sich. Nichts Wichtiges, man konnte alles liegen lassen. Er nahm den letzten großen Schluck aus seiner Tasse, stand schwungvoll auf und machte sich auf den Weg zum Kaffeeautomaten, der am anderen Ende des Flurs stand. Selbst ein Kriminalhauptkommissar hatte seine Schichten zu machen. Heute hatte er die Frühschicht erwischt. Sein Partner Florian Est ließ mal wieder auf sich warten. Aber er hatte ja noch ein paar Minuten Zeit bis zum Dienstbeginn. Man sollte alles nicht so eng sehen. William fischte eine 50-Cent-Münze aus seiner Hosentasche, stellte seine Tasse in den Ausgabeschacht und überlegte, was er nehmen sollte.

„Wie wär´s mal mit einer Tasse heißer Schokolade?“

William fuhr herum. „Mein Gott, Flo! Musst du mich so erschrecken?“

Der große Dunkelhäutige mit seiner tiefen Stimme, die man jederzeit wiedererkannte, grinste bloß.

William schüttelte den Kopf und entschied sich spontan für Cappuccino. Der Kaffee aus dem Automat war gar nicht mal so übel. Er ging zurück in sein Büro, das er sich mit Florian teilte. Eigentlich stand einem Kriminalhauptkommissar ein eigenes Büro zu, doch aufgrund der langjährigen Partnerschaft mit Florian wollte er nicht allein sein. Sie konnten sich blind aufeinander verlassen und ihre Gedankengänge ergänzten sich. Daher hatte er sich mit Händen und Füßen gewehrt, als das Thema vor einigen Jahren aufgekommen war. Florian hatte ihm zugestimmt und so hatten sie ihr gemeinsames Büro behalten.

Die heutige Schicht versprach, ruhig zu bleiben. Viel zu tun hatte William nicht. Er wollte ein paar liegengebliebene Protokolle durcharbeiten. Als Kriminalhauptkommissar musste man immer wissen, was in seinem Gebiet passierte. Er war für Spullberg und seine Untergemeinden zuständig. Dazu gehörten die beiden Richtung Wendelshausen gelegenen kleinen Gemeinden Unterhausen und Oberhausen, Wildberg mit der alten Ruine auf dem Berg und das kleine Thal. Das eigenständige Tigersheim unterstand auch dem Kommissariat Spullberg. Alle Protokolle wanderten über seinen Tisch, da er das Vergnügen hatte, vor dem Polizeichef des Landeskriminalamts Julius Winkler für alles, was schief ging oder unsauber ausgeführt worden war, geradezustehen. Das war nicht immer einfach, da der Chef zu cholerischen Anfällen neigte.

William schob die Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf seinen Papierstapel. Ein kurzer Blick zu Florian am Tisch gegenüber sagte ihm, dass dieser ihn kritisch beobachtete. Er sah schnell wieder auf sein Papier und versuchte, sich zu konzentrieren und das unbehagliche Gefühl zu unterdrücken.

Plötzlich stürmte einer der Streifenpolizisten herein und erschreckte die beiden Kommissare.

„Herr Herle, man hat soeben eine Leiche gefunden! In einer Nebengasse am Bahnhof! Ist heute Nacht ermordet worden!“

William schaute zu Flo, der nickte und William seufzte.

„Mord. Los geht‘s!“

Er schnappte sich das Telefon und klingelte Klaus Wagner, den Rechtsmediziner und besten Kumpel aus seiner Jugend, an.

„Hallo, der nächste Mord will untersucht werden. Kommst du? Ich schicke dir die Daten aufs Navi.“

„Ja, ich komme. Du weist doch, dass ich Navigationsgeräte nicht leiden kann. Sag mir die Adresse, ich kenne mich hier schon aus.“

William verdrehte die Augen. Klaus war nicht allzu überzeugt von der Technik. Er bevorzugte die Dinge analog.

„Ja, mach ich. Beeil dich, bevor die Presse Wind davon bekommt.“

„Klar doch. Bis gleich.“

Bevor William etwas erwidern konnte, hatte Klaus schon aufgelegt. Er stellte das Telefon auf die Ladestation, schnappte sich seine Schlüssel und sein Handy und rannte Florian hinterher, der wie üblich bereits auf dem Weg zum Auto war. Florian machte nicht viele Worte, er handelte einfach. Sie gingen zu ihrem Dienstwagen und fuhren mit Blaulicht zum Tatort.

Dr. Haas, der Notarzt, stand an einen Laternenpfahl gelehnt, direkt neben der gelben Tatortabsperrung. Der Tatort, eigentlich eine dunkle Gasse, war hell erleuchtet mit weißen Strahlern. So konnte den Ermittlern kein Detail entgehen.

„Guten Abend, Herr Herle. Also, meine Anwesenheit ist nicht notwendig, der Mann ist definitiv tot.“

„Guten Abend. Ja, okay. Dann schauen wir mal.“

William zog die ihm verhassten Gummihandschuhe sowie einen Einwegoverall über und betrat gemeinsam mit dem fast zeitgleich eingetroffenen Klaus den abgesperrten Tatort. Klaus war sofort auf die männliche Leiche fixiert, während William sich mehr auf die Umgebung konzentrierte.

Die nächsten Minuten war alles still. Selbst das vierköpfige Spurensicherungsteam gab kein Wort von sich, sondern arbeitete konzentriert und akribisch. Sie sammelten alle Beweise ein, auch wenn sie noch so unscheinbar waren. Keiner wusste schließlich, welche Spuren zum Täter gehörten und welche nicht. Einzig die Bewegungen der Männer waren zu hören. Die Gasse war umgeben von hohen Wänden, die zu zwei Fabrikhallen gehörten. Der Bahnhof lag von hier aus etwa fünf Minuten entfernt. Die Polizisten, die den Tatort abgesperrt hatten, verhielten sich ruhig, denn der einzige Zeuge war bereits befragt worden. Er hatte den Toten auf seinem Heimweg von der Nachtschicht entdeckt. William schaute sich genauestens um. Der Tote lag zusammengekrümmt auf seiner linken Seite auf dem Boden. Der rechte Arm lag ausgestreckt, der linke war zusammengekrümmt, als hätte er etwas beschützen wollen.

„Hm“, machte Klaus. William drehte sich um und ging zu ihm. Gemeinsam betrachteten sie die unzähligen Stichwunden, mit denen der tote Körper übersät war. Das Hemd war komplett zerrissen. Das Blut hatte alles durchtränkt.

„Definitive Todesursache sind die Stichverletzungen und der hohe Blutverlust. Genaues kann ich natürlich erst nach der Obduktion sagen. Da war viel Wut im Spiel, Will.“ William nickte. Er spürte sie gut. Der ganze Tatort schien vor Wut zu vibrieren, die Dunkelheit und die hellen Lichter schienen ihn zu verhöhnen.

„Gibt es schon Hinweise auf die Identität des Mannes?“ rief William den Polizisten hinter der Absperrung zu. Die beiden schüttelten den Kopf.

„Will, ich hab die Brieftasche. Gib mir mal eine Beweistüte.“

William reichte sie Klaus aus dessen Koffer. Der legte die vor Blut triefende Geldbörse hinein und verschloss die Tüte. Weiter gab es nichts zu finden. Die eingetüteten Beweise der Spurensicherung wurden bereits verladen, um im Labor analysiert zu werden. William suchte daher Florian. Als er ihn am Bahnhof rauchend fand, schüttelte der Dunkelhäutige den Kopf. William drehte sich um und ging zurück zum Wagen. Jetzt ging die Arbeit erst richtig los.

Ich lag bäuchlings auf meinem Bett und grübelte. Mit meinem Freund Tobias lief es nicht ganz rund. In letzter Zeit war er sehr verschlossen und gab mir kaum noch Auskunft über seine Pläne. Wenn ich mich mit ihm verabreden wollte, hatte er immer neue Ausreden parat. Er hatte seine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann abgeschlossen, kurz bevor wir zusammen kamen. Jetzt arbeitete er Vollzeit. Papa mochte ihn nicht besonders. Er meinte, Tobias sei ganz nett, aber ich solle auf jeden Fall vorsichtig sein. Es sei nur ein Gefühl. Mama meinte dazu bloß, da ich schon immer seine Kleine gewesen war, würde er eben auf mich besonders achten. Das hing auch mit seinem Job als Kriminalhauptkommissar zusammen.

"Anna!" Ich schaute auf. Was wollte mein kleiner Bruder? Er war fünfzehn und konnte sich eigentlich selbstständig versorgen.

"Ich komme!", rief ich und lief die Treppe von meinem Zimmer herunter. Chris stand in der Küche. Lasse hüpfte freudig um ihn herum.

"Kannst du mit ihm Gassi gehen? Ich bin zum Zocken verabredet."

"Was springt für mich raus?", fragte ich ihn. Eigentlich wollte ich heute noch Mathematik lernen, weil in zwei Tagen eine große Arbeit anstand, die ich nicht verhauen wollte. Daher kam mir das sehr ungelegen.

"Hm", überlegte mein Bruder. "Ich räume die restliche Woche die Küche auf!", verkündete er dann. Ich lachte. Ausgerechnet. Davor drückte er sich, wo er nur konnte.

"Na gut. Versprochen?" Ich glaubte ihm nicht so ganz.

"Heiliges Indianerehrenwort!" Mein Bruder grinste mich frech an. Ich gab mich geschlagen.

"Lasse, komm", sagte ich und der kleine Labrador folgte mir sofort. Ich band meine langen braunen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen. Dann holte ich mein Handy und warf die Haustür hinter mir zu. Ich leinte Lasse an, der bereits fröhlich mit dem Schwanz wedelte. Ich ging die Straße entlang. Lasse lief freudig voraus. Meine Gedanken drehten sich weiter im Kreis. Das Wetter war wunderbar. Die Sonne schien noch. Die Tage wurden länger. Man merkte, dass der Sommer im Anmarsch war. Die Blumen auf den Wiesen blühten schon fast um die Wette. Ich lief und lief, aus der Straße hinaus bis auf die Felder.

Im Sonnenuntergang dachte ich weiter nach. Ich war Anna-Luisa Herle, die Tochter des Kriminalhauptkommissars William Herle, und im Januar achtzehn Jahre alt geworden. Mit meinem Freund Tobias war ich seit fast einem halben Jahr zusammen. In einem Jahr würde ich mein Abitur machen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht passte. Das mit Tobias war komisch. Ich sah ihn kaum noch. Letztens hatte er mich zwar von der Schule abgeholt, aber nur nach einem kurzen Kuss daheim abgesetzt. Ich wusste nicht mehr weiter. Meine beste Freundin Jenny hatte von Anfang an gesagt, dass er nicht zu mir passen würde. Die letzten Wochen sprachen nicht unbedingt für ihn. Ich sehnte mich nach einer liebevollen Umarmung. Aber ob ich diese von ihm erhalten würde, stand leider in den Sternen. Er schien sich kaum noch für mich zu interessieren. Ab und zu ein paar WhatsApp-Nachrichten waren mir geblieben. Ich konnte mich allerdings nicht erinnern, etwas falsch gemacht zu haben. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, waren wir bei ihm gewesen oder er hatte mich in das Spullberger Kino Traumpalast eingeladen. Da war alles in Ordnung gewesen.

Plötzlich bellte Lasse und zog wie verrückt an der Leine. Ich erschrak, so tief war ich in meine Gedankenwelt hinabgetaucht. Der alte Herr Bauer! Er hatte Susi, seine Hündin, kaum unter Kontrolle. Ich ging näher auf die beiden zu. Lasse wedelte mit dem Schwanz. Susi kam näher und fing an, ihn zu beschnüffeln. Lasse versuchte, um sie herumzulaufen, jedoch hinderte ihn die Leine und so beließ er es bei einer halben Umrundung. Jetzt begann auch Susi, mit dem Schwanz zu wedeln.

"Sehen Sie, sie erkennt ihn doch wieder. Sie ist immer so vergesslich, wissen Sie." Der alte Herr Bauer strahlte. Ich lachte und zog an der Leine.

„Lasse, komm jetzt!“ Wir verabschiedeten uns und ich ging weiter den Weg entlang. Herrn Bauer traf ich oft auf meiner gewohnten Runde, die ich meistens mit Lasse ging. Lasse hüpfte und zog fröhlich an der Leine. Er brachte mich immer zum Lächeln. Ich atmete tief durch.

Ich werde mich meinen Problemen stellen. Der Gedanke beflügelte mich und ließ meine Laufgeschwindigkeit deutlich steigern. Ich erreichte die Häuser am Rande Spullbergs. Im Sonnenuntergang sah alles noch schöner aus. Ich war froh, dass ich hier im Schwabenland wohnen durfte.

Leichtfüßig schritt ich auf das Haus zu, in dem ich mit meinen Eltern und meinem Bruder wohnte. Ich schloss auf und ließ Lasse frei laufen, der sofort auf seinen Lieblingsplatz in der Mitte des Sofas zusteuerte. Ich stieg die Treppe hoch in mein Zimmer, warf meinen Schlüssel auf den Tisch und ließ mich auf das Bett fallen. Schnell den Wecker gestellt, damit nicht wieder das gleiche Desaster wie heute Morgen passieren konnte. Dann zappte ich durch die Programme im Fernseher, doch ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich schaltete ab und verkroch mich unter der Decke. Morgen musste ich wieder pünktlich sein. Mit diesem Gedanken schlief ich ein und verwendete keinen weiteren an die Matheaufgaben, die ich hatte machen sollen.

Stinkender Verdacht

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