Читать книгу Stinkender Verdacht - Ann-Katrin Zellner - Страница 13

8 Mittwoch

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Heute war die Beerdigung von Günther Schwab, dem ermordeten Steuerberater. Ich zog meine schwarze Hose an und überlegte, ob ich dazu auch eine schwarze Bluse wählen sollte. Zurzeit trug ich das überwiegend. Es hatte viel mit Tobias zu tun. Andere trugen jetzt bunte Sommerfarben, nur ich lief meistens in Schwarz herum. Ein Therapeut würde mir jetzt vermutlich erklären, dass ich mich nicht in meiner Trauer vergraben, sondern weiterleben sollte. Dem Schwarzen entgegenwirken. Tun und lassen, was mir gefiel. Aber das war nicht so einfach. Tobias war mein erster Freund gewesen. Das gebrochene Vertrauen steckte ich nicht so schnell weg.

In der letzten Zeit vor unserer Trennung hatte ich ihn kaum noch gesehen und nicht gewusst, woran ich war. Eigentlich seit Silvester. Das hatte ich mit Jenny am Bodensee bei der Hausparty eines Bekannten verbracht und nicht mit ihm. Darüber war er ziemlich sauer gewesen. Ab dem Moment hatte er kaum noch Zeit für mich gehabt. Obwohl er beteuerte, es sei nur stressig bei ihm, hatte Jenny schon früh ein anderes Mädchen vermutet und damit leider recht behalten. Er war ein Abenteurer. Das hatte mich angezogen. Ich hatte meiner Freundin nicht geglaubt. Ich hätte es tun sollen, es hätte mir einigen Kummer erspart. Es auch noch so zu erfahren, war das Demütigendste, was mir bisher passiert war. Noch immer ging ich nicht an mein Handy, wenn Tobias versuchte, mich anzurufen. Zum Glück war er noch nicht auf die Idee gekommen, vor meiner Haustür aufzutauchen.

Die Beerdigung, auf der wir heute spielen sollten, trug auch nicht zu einer Verbesserung meiner Stimmung bei. Da Papa in dem Fall ermittelte, war es selbstverständlich, dass auch er zu der Beerdigung ging. Mama ging pflichtbewusst mit, nur mein Bruder weigerte sich. Er war nach der Schule direkt zu seinem Kumpel Maik abgehauen, um dem Ganzen zu entfliehen. Soviel Glück wollte ich auch mal haben. Ich seufzte und nahm meinen schwarzen Pulli. Auf eine Bluse hatte ich wirklich keine Lust, zumal ich sie sowieso erst noch bügeln müsste. Und das hasste ich wie die Pest. Ich gab immer alles Mama, was zum Bügeln anfiel. Sie meckerte dann zwar jedes Mal aufs Neue, aber sie machte es zum Glück trotzdem.

Plötzlich hupte es draußen. Ich erschrak. Ein schneller Blick nach draußen zeigte mir, dass meine Eltern bereits im Auto warteten. Mein Akkordeon hatte ich schon am Morgen ins Auto gepackt. Ich schnappte mein Handy, warf die Tür hinter mir zu und rannte die Treppe herunter. Die Banane in der Obstschale auf dem Küchentisch hatte heute kein Glück. Ich nahm sie mit.

"Musstest du unbedingt den schwarzen Pulli anziehen? Eine Bluse wäre viel hübscher und angebrachter für diesen Anlass", empfing mich Mama missmutig. Ich verdrehte die Augen und erhaschte einen Blick auf meinen belustigt dreinschauenden Vater. Da musste ich doch kurz grinsen.

Die Beerdigung sollte am Spullberger Stadtfriedhof stattfinden. Papa parkte etwas abseits.

"Anna, geht's dir soweit gut?", fragte er mich. Sein Blick sah sehr besorgt aus.

"Ja, alles gut. Wirklich", log ich. Zur Bestätigung schickte ich noch schnell ein Lächeln hinterher, auf das Papa leider nicht ganz hereinfiel. Doch er sagte kein Wort mehr. Ein letzter kritischer Blick und dann gingen wir zum Friedhof. Viele Menschen strömten bereits in die gleiche Richtung. Der Mord hatte viele Leute aufgeschreckt. Sie wollten dem Toten daher alle die letzte Ehre erweisen. Außerdem spielte der HHC, was hier in den Örtchen rund um Spullberg immer das Zuhören wert war. Auch wenn der Anlass diesmal kein Grund zum Feiern war.

Die kleine Kapelle am Friedhof war bereits fast voll besetzt. Walter hatte mich sofort entdeckt und brachte mich in den kleinen Raum nebenan. Dort konnte ich mein Akkordeon abstellen. Die meisten anderen saßen bereits auf ihren Plätzen. Sie hatten das Orchester in die Ecke neben den Altar gequetscht. Etwas beengt, aber es ging. Ich drückte mich mitsamt meinem Akkordeon an den anderen vorbei und ließ mich auf meinen Platz fallen. Da fiel mir auf, dass es besser gewesen wäre, den Notenständer zuerst aufzubauen, bevor ich mich zu meinem Platz durchgeschoben hatte. In der ganzen Kapelle war es fast mucksmäuschen still. Keiner traute sich, ein Wort zu sagen. Der Sarg war offen aufgebahrt. Daneben stand eine ältere Dame und zwei junge Männer. Vermutlich waren das die Söhne.

"Hey, Anna", flüsterte Olaf neben mir. "Alles okay bei dir?"

"Hey, ja klar", flüsterte ich zurück. "Wie ist den jetzt der Ablauf?"

"Ach du, keine Ahnung. Lassen wir uns mal überraschen." Er zwinkerte mir zu und ich grinste.

Mittlerweile war der Pfarrer in einem schwarzen Gewand erschienen. Er hatte der älteren Dame am Sarg ein paar leise Worte gesagt und ihr die Hand gedrückt. Nun ging er langsam durch die Stille der Kirche zum Altar. Dort stellte er sich hin und hob die Arme.

"Seid gegrüßt, liebe Gemeinde, liebe Damen und Herren. Anlässlich des sehr tragischen Ablebens eines unserer bekannten Gemeindemitglieder haben wir uns heute hier versammelt. Wir wollen gemeinsam Abschied nehmen von Günther Schwab, der viel zu früh von uns gegangen ist. Lasst uns beten, dass der Herr seiner Seele gnädig sei. Er war ein guter Mensch. Ein solch tragisches Ende hat niemand verdient. Lasst uns beten, dass er im Himmel die Glückseligkeit erhält, die ihm zusteht. Er wurde plötzlich und unerwartet aus unserer Mitte gerissen. Lasset uns nun eine Schweigeminute einlegen. Anschließend wird der HHC Tigersheim Adiemus spielen", sprach der Pfarrer mit ruhiger Stimme.

Alle senkten den Kopf und schwiegen. Ich dachte wehmütig an Tobias.

Stopp!, befahl ich mir. Jetzt geht es um die Trauerfeier. Das andere hat später noch Zeit. Verstohlen blickte ich mich um. Mir war nicht ganz geheuer. Ralph lächelte mir zu. Die alte Dame wischte sich die Tränen aus den Augen. Mama ebenfalls. Papa jedoch war ganz auf die Umgebung konzentriert. Heute Morgen hatte er gemeint, dass der Täter höchstwahrscheinlich zu der Beerdigung kommen würde. Da sehr viel Wut im Spiel gewesen war, wäre es möglich, dass der Täter heute die Trauerfeier stören würde.

Deswegen hatte Papa einige Polizisten in Zivil unter die Menge gemischt. Den einen oder anderen kannte ich vom Sehen. Da hob Ralph den Arm. Eins, zwei, drei und los. Adiemus erklang und brachte genau die Trauerstimmung zum Ausdruck, die jetzt alle brauchten. Viele hielten sich Taschentücher vor das Gesicht. Auch bei mir regten sich Tränen. Das war fürs Spielen nicht gut, weil die Noten verschwammen. Ich blinzelte ein paar Mal, da wurde es wieder besser. Der letzte Takt verklang in der Stille der Kirche.

"Ein wunderbares Stück", sprach der Pfarrer weiter. "Wir haben uns versammelt, um gemeinsam Abschied von einem geliebten Menschen zu nehmen. Er war, so wurde mir berichtet, ein liebevoller Ehemann und ein herzensguter Vater. Ein hoch geschätzter Steuerberater, sowohl von Kollegen als auch den zahlreichen Kunden. Er hatte immer ein offenes Ohr für die anderen, hörte sich ihre Sorgen und Nöte an. Gab gute Ratschläge. Auch wenn er mitunter etwas chaotisch war, was sein Büro angeht, hat er es doch geschafft, mit seiner charmanten Art alle zu erfreuen. Nie vergaß er etwas, wenn er es versprochen hatte. Leider kann er sein zuletzt gegebenes Versprechen gegenüber seiner Frau nicht mehr erfüllen. Sie wollten sich nach einigen arbeitsreichen Jahren vier Wochen Auszeit nehmen und eine große Kreuzfahrt unternehmen. Kein Mensch ist sicher vor der Gewalt einiger weniger. Und so ist es geschehen, dass ihm jemand auflauerte und ihm sein Leben nahm, als wäre er berechtigt zu entscheiden, wer stirbt oder wer weiterleben darf. Das sollte nur Gott allein entscheiden können."

Jetzt schaltete ich ab. Ich konnte mich kaum konzentrieren und ertappte mich dabei, wie ich wieder an Tobias dachte. Erinnerungen stiegen in mir auf, Dinge, die wir gemacht hatten, Orte die wir gemeinsam besucht hatten und sein Geruch, den ich trotz allem schmerzlich vermisste.

"Nun hören wir das Stück Trumpet Voluntary", sprach der Pfarrer. Damit riss er mich aus meinen Gedanken. Ralph hob die Arme und zählte leise. Dann spielten wir und die ersten Takte erklangen. Wieder wischten sich einige die Tränen aus den Augen. Die einfache Melodie Jeremia Clarks erfüllt immer wieder aufs Neue die Herzen. Als die letzten Töne verklangen, wischte sich selbst der Pfarrer verstohlen eine Träne aus dem Auge.

"Nun werden einige Worte der Ehefrau folgen." Er winkte sie herbei und zog sich hinter den Altar zurück. Sie stand auf. Ihr schwarzer Schleier verbarg ihr Gesicht kaum. Die Augen waren gerötet.

"Ich ... ich ... weiß nicht, was ich sagen soll." Ihre Stimme zitterte und war kaum zu verstehen. Da trat einer der beiden jungen Männer, die vorher am Sarg gestanden hatten, vor und legte ihr den Arm um die Schulter. Diese kleine Geste gab ihr Mut und sie sprach mit gefestigterer Stimme weiter.

"Danke, dass Sie alle gekommen sind. Das bedeutet mir sehr viel. Zu sehen, dass so viele Menschen an ihn denken. Wir gönnen ihm die Ruhe, die er nun hat, obwohl es für uns schwer zu begreifen ist, was sein Verlust bedeutet. Als ich ihn damals, vor über 35 Jahren kennenlernen durfte, war er davon überzeugt, durch seine Arbeit anderen helfen zu können. Das hat mich fasziniert. Der Sommer hatte uns fest im Griff. Wir trafen uns immer öfter. Er mochte Wanderungen, möglichst einsam. So waren wir oft unterwegs und suchten uns einsame Plätze, wo wir den Tag verbrachten. Schließlich heirateten wir und dann kam Max auf die Welt. Er war der Sonnenschein in unserem Leben. Und das wird er auch bleiben. Genauso wie Tom, unser zweiter Bub."

Sie lächelte dem jungen Mann neben sich zu. Er drückte seine Mutter fest. Dann sprach sie weiter.

"Er schenkte ihnen so viel Liebe und Geborgenheit. Der Kontakt zu ihnen war ihm immer sehr wichtig. Trotz der zunehmenden Arbeit hat er nie geklagt und immer Zeit für die beiden gehabt. Laute Worte lagen ihm gar nicht, aber seine Meinung konnte er, wenn es Zeit dafür war, durchsetzen. Er hat nie die Hand gegen einen seiner Söhne erhoben. Der Verlust eines so lieben Menschen ist kaum zu begreifen. Wir hatten noch so viele Fragen, die nun nicht mehr beantwortet werden können. Wir werden ihn in unseren Herzen tragen, egal was wir tun, egal wo wir sind. Er hat eine große Lücke in unserem Leben hinterlassen, die niemand zu schließen vermag. Wir danken ihm für das große Glück, einen so wundervollen Menschen kennengelernt zu haben. Ruhe nun sanft im Frieden und mach dir keine Sorgen, Günther. Wir alle lieben dich."

Nach diesen sehr gefühlvollen Worten trat sie langsam an den Sarg heran und gab ihrem toten Ehemann einen Kuss auf die Stirn. Als sie sich wieder aufrichtete, sah ich die Tränen in ihren Augen.

"Wir haben letztes Jahr das Herbstkonzert vom HHC besucht. Sein Lieblingslied spielen sie jetzt", fügte sie leise hinzu.

Ralph hob schon die Arme und zählte leise. Summer of 69 erklang. Bryan Adams. Der Ich- Erzähler erinnert sich an seine Jugend in seiner ersten Band mit seiner ersten Freundin, zu der er vorbehaltlos zurückkehren würde. Der Hit aus dem Jahr 1985. Immer wieder genial. Genau richtig für den Anlass. Wenn man könnte, würde man die Zeit zurückdrehen. Aber das ging ja leider nicht.

"Liebe Trauergemeinde, nun wird Max einige Worte sprechen."

Damit zog der Pfarrer sich wieder zurück und der andere Sohn trat an das Rednerpult.

"Der amerikanische Schriftsteller Thornton Wilder hat einmal gesagt: Da ist ein Land der Lebenden und da ist ein Land der Toten, als Brücke dazwischen ist unsere Liebe. Wir haben dieses lebende Land mit Günther erlebt. Manche von uns sind mit ihm einige Schritte gegangen, andere fast den gesamten Lebensweg. Über die Zeit haben sich Erinnerungen angesammelt. Nie vergessen werde ich die Szene, als ich mit vier in den Garten gelaufen bin. Papa saß wie immer auf der Bank und starrte in den Garten. Ich wollte, dass er mit mir Ball spielt. So gab ich ihm den Ball. Er schaute ihn wohl volle fünf Minuten an und sagte kein Wort. Dann fragte er mich, wie man damit spielt. Er hatte über der ganzen Arbeit verlernt, wie man Ball spielte. Ich lachte und zog ihn mit mir mit. Wir spielten und spielten Ball, bis die Sonne unterging. Mama hat uns nicht davon abbringen können. Da ist ein Land der Lebenden und da ist ein Land der Toten, sagte der Dichter. Wir haben viele solcher Erinnerungen, von denen erzählt werden könnte, mehr noch, als die Zeit hier und heute reicht. Über das Land der Toten können wir nichts sagen. Dahin ist er nun unterwegs. Wir wissen nicht, wie es dort sein wird oder was ihn erwartet. Wir wünschen ihm das Beste für den Weg, den er nun geht, für das Land, das ihn erwartet."

Die Leute klatschten. Ralph hob die Arme und wir spielten Ozzy Osbourne Dreamer. Ein Träumer, der von besseren Tagen träumt. Ich mag diesen Song. Er lässt einen davon träumen, weit weg zu sein, irgendwo zu sein, wo es schöner ist.

Als die letzten Takte verklangen, trat der Pfarrer vor und schloss den Sarg vorsichtig. Mehrere schwarz gekleidete Männer hoben den Sarg hoch und schritten langsam den Mittelgang der Kapelle entlang. Die verwitwete Ehefrau und die beiden Söhne folgten ihm als erste. Die restliche Trauergemeinde reihte sich nacheinander ein. Wir spielten noch einmal Adiemus, während die Menschen in Richtung des Grabes strömten. Ich sah Bürgermeister Knapp mit Papa ein paar Worte wechseln. Vermutlich ging es um den Fortschritt in den Ermittlungen.

Wir vom HHC folgten nicht. Als der letzte Takt verklungen war, blieben wir fast allein in der Kapelle. Schweigend bauten wir ab. Ich nahm mein Akkordeon und verließ schnell die Kapelle. Ich lief bis zum Auto. Dort lehnte ich mich an die Tür an. Ich konnte die Tränen kaum noch zurückhalten. Dann zog ich mein Handy heraus und steckte die Kopfhörer in meine Ohren. Superheros von The Script gab mir etwas Kraft. Ich atmete tief durch und schaute in den wolkenverhangenen Himmel hinauf.

Stinkender Verdacht

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