Читать книгу Sonnseitig. Schattseitig. - Anna Aldrian - Страница 12
Landaufenthalt I
ОглавлениеHeuballen
Dr. Roland Stückler, aufrechten Gangs, wenn auch der Stütze eines Wanderstocks bedürftig, trat aus dem Dunkel des Waldes. Im jähen Sonnenlicht breitete sich vor ihm eine stark ansteigende Wiese aus, darüber hin verloren sich sommergrüne Weinzeilen ins Blau hinein. Frohgemut über Stock und Stein wandernd (wie er für sich selbst sein mühsames Hochstapfen zu bezeichnen pflegte), hielt er auf die beiden Traktoren zu, die sich am oberen Rand des Wiesenstücks bewegten. Sein aufgekratzter Sportsgeist reute ihn bald; er hätte den Umweg über die schmale Straße nehmen können, die sich weit weniger schweißtreibend als die von ihm gewählte Direttissima in sanften Kurven weinbergwärts wand. Stehenbleiben. Luftholen. Unangenehm nässend machte sich der Schweiß an gewissen Stellen seines Altmännerkörpers bemerkbar. Keine Wehleidigkeiten! Wiewohl schon im Ruhestand, war er immer noch fit, immer noch ein hochgeschätzter Chirurg, also frisch drauflos! Erhobenen Kopfes schritt er weiter aus.
Was es heutzutage nicht alles gibt! Der eine Traktor dort oben sog mit einem gierigen, grünen Rachen Gras in sich hinein, das hinten wie fest gepresster Riesenkot ausgeworfen wurde. Der zweite Traktor nahm den gepressten Ballen auf ein Gestänge, schlang einen überbreiten, weißlichen Nylonverband herum und begann den zentnerschweren Rundballen einzuwickeln, bis er mumiengleich wieder vom Gestänge gerollt und auf der Wiese abgelegt wurde. Neugierig geworden, stieg Dr. Stückler, der sich erst vor zwei Tagen im südsteirischen Weinland eingemietet hatte, über die hingemähten halb trockenen Streifen Grases. Er reckte die Nase vor und sog dieses herzhafte Aroma ein, das er zwischen dem einer frisch gemähten Wiese und dem von sonnengetrocknetem Heu genüsslich einordnete. Mit halb geschlossenen Augen erinnerte er sich an die Heumahden von anno dazumal: von Ochsen gezogene Heuwagen, Heugabeln, Bauernmädchen – und die Angst vor dem drohenden Gewitter.
Zum Teufel! Sein Hemd war nassgeschwitzt, bei jedem Windstoß lief es ihm unangenehm kühl über den Rücken. Dieser steile Hang! Er hatte sich übernommen. Sein Herz klopfte unregelmäßig. Wie hilfesuchend hob er seinen Arm und grüßte die beiden Traktorfahrer. Oder Fahrerinnen? Tatsächlich: Frauen auf diesen bedrohlichen Landmaschinen! Jetzt hielten sie an. Grüßten sie nicht freundlich zurück? Er ruderte mit beiden Armen, setzte sein leutseligstes Gesicht auf – sicher hatten sie ihn erkannt! Das Landvolk hatte ihm, dem „Herrn Primar“, immer Respekt gezollt, und er hatte sich das gerne gefallen lassen.
„Er ist’s“, sagte Verena, „dass der sich traut und hier auftaucht!“
Sie war vom ersten Traktor, dem mit der Heupresse, heruntergeklettert. Ein sekundenschneller Blickwechsel mit der Frau auf dem zweiten Traktor.
„Er ist’s – gewesen“, sagte Julia, die von ihrem Traktorsitz aus das Einwickelgerät betätigte. Mit äußerster Konzentration bewegte sie den joystickartigen Steuerungshebel. Die Gestängegabel, die gerade dabei war, einen gepressten Heuballen zum Einwickeln hochzuwuchten, drehte sich talwärts und rollte ihre massige Last wieder zu Boden.
„Passt genau“, sagte Verena.
Das Letzte, was Dr. Stückler wahrnahm, waren drei hochgereckte Finger, Pappeln gegen den Sommerhimmel und ein heugrünes Ungetüm, das rasend schnell auf ihn zurollte.