Читать книгу Sonnseitig. Schattseitig. - Anna Aldrian - Страница 9
V
ОглавлениеAbschiednehmen
„Ist sie …?“ – Meine Augen suchten eine Antwort im Gesicht meines Bruders. Der schüttelte den Kopf. Ich war als Erste, nur mit Handgepäck, aus dem Zoll gekommen.
„Sie wartet auf dich“, murmelte Karl, und mir wurde dabei klar, dass sein Kopfschütteln kein Verneinen war, sondern Verwunderung: Wieso fliegt seine Schwester wegen der alten Tant über den großen Teich?
„Ich hab’s ihr versprochen“, antwortete ich auf die ungestellte Frage. „Ist sie im Spital?“
„Zwei Wochen war sie im Spital, vorgestern haben wir sie heimgetan, unser Doktor meint, den morgigen Tag erlebt sie nicht mehr.“
Warum hatten sie mich nicht angerufen? Der Weihnachtsbrief war eineinhalb Wochen unterwegs gewesen, und dass sie Tante Pepi ins Spital geben mussten, stand bloß in einem Nebensatz. Seit zwanzig Jahren arbeitete ich in den Staaten, längst war Telefonieren kein Luxus mehr, aber meine Familie blieb beim alten Brauch, mir zu den Festtagen einen Brief mit allen Neuigkeiten zu schreiben. Die unverwüstliche Tante Pepi im Spital! Alarmiert hatte ich einen Flug nach Hause gebucht.
Obwohl fast neunzig, war Tante Pepi nie bettlägerig gewesen. Jedes Mal, wenn am Ende meines Heimaturlaubs das Auto mit den gepackten Koffern vor der Haustür gewartet hatte, hatte ich zum Abschiednehmen nach Tante Pepi gesucht. Gewöhnlich war sie im Stall zu finden gewesen, in letzter Zeit oft vor dem ausrangierten Esstisch im Wirtschaftsraum, wo sie Erbsen auslöste, Möhren putzte, Nüsse aufknackte.
„Ich fahr wieder fort.“
Und sie: „Kommst, wenn’s so weit ist mit mir?“
„Kannst dich verlassen drauf. Und pfiat Gott!“
„Pfiat di Gott!“
Jetzt war es so weit mit ihr.
Ich war zwanzig gewesen, als ich ihr versprochen hatte, „in der Sterbestunde“ den Schubert zu spielen. Sie war damals schon bald siebzig. Gut zwei Jahrzehnte war das her. Ich war nach Amerika gegangen, war verheiratet gewesen und wieder geschieden, hatte Karriere gemacht. Sie, die Tante Pepi, war immer dieselbe geblieben, die schweigsame, arbeitsame alte Frau mit dem Kopftuch. Erst beim vorletzten Heimaturlaub hatte ich gemerkt, dass der ungefüge Körper zusammengegangen war, und das letzte Mal sah ich, dass ihre alten Kleider fremd am hageren Leib herunterhingen.
Noch bevor ich das kleine Zimmer betrat, war Karl zu ihr hineingegangen: „Die Fini ist da!“
Ein gellender Aufschrei empfing mich: „Fini! Die Fini!“ Man hatte mich nach ihr, meiner Taufpatin, Josefine getauft, unglücklicherweise. Ich bin jetzt die Josy. Sie, Josefine Dirnberger, Pepi gerufen, lag mit weit geöffneten Augen in ihrem Bett und schaute mir entgegen.
„Dass d’ da bist!“
„Ich habe dir die Musik mitgebracht“, würgte ich heraus.
Mühsam bewegte sie den Kopf zu einem Nicken. Dann fiel die Anstrengung ab von dem ausgezehrten Gesicht, die Lider senkten sich über die obere Augenhälfte, als wäre es zu mühsam, sie ganz zu schließen. Die Tür der Kammer ging auf und meine Schwägerin kam mit der Nachbarin herein, der Thresl, die musste auch um die neunzig sein.
„Die Thresl ist zum Beten kommen. Sie sagt, die Pepi ist a fromme Frau, die soll net ohne Beten sterben.“ Thresl reichte mir wortlos die welke Hand, setzte sich auf einen Stuhl und nahm ihren abgebeteten Rosenkranz heraus. Ich ging mit der Schwägerin hinaus, holte meinen flachen CD-Player und die CD mit den „Moments Musicaux“, die es inzwischen von János Kahn eingespielt gab.
Eine paradoxe Konkurrenzsituation am Sterbebett: Thresl würde sich durch nichts hindern lassen, die Nacht durchzubeten, ich aber musste Schubert spielen. Deswegen war ich gekommen.
Es ging ganz einfach. Thresl hatte ein Versehkreuz aufgestellt, die zwei Kerzen angezündet und murmelte in ihrem eigentümlichen Singsang ihre „Gegrüßet seist du, Maria“. Grad so, wie ich das aus meiner Kindheit kannte. Damals hieß es noch „… in der Stunde unseres Absterbens“ statt „unseres Todes“. Die vertrauten Worte halfen mir über die aufkommende Panik hinweg.
Fremd, so fremd war mir dieses bleiche Gesicht auf dem Polster. Die Wangen eingefallen, die Nase so spitz, die Augen so tief in den Höhlen. Weißlich-graue Haarsträhnen lagen erschreckend dünn über einer papierenen Kopfhaut. Ich hatte die Tante Pepi nie ohne Kopftuch gesehen, außer bei dem einen Mal, beim Konzert.
Bang drückte ich auf die Play-Taste. Thresl war fast taub, die Musik würde sie nicht stören. Aber Tante Pepi? Nimmt sie noch etwas wahr?
Mit dem Eingangsmotiv klopfte das erste „Moment Musical“ insistierend an das sterbensmüde Gehirn unter dem kopftuchlosen Schädel. Konnte sie das hören? Da hob Pepi mit großer Mühe die halb geschlossenen Lider, sah mich an und flüsterte tonlos: „Dankschön.“ – Oder nur „schön“ – oder „Schubert“?
Tok-tohk, tok-tohk. Nie vorher hatte ich diese C-Dur-Herzklopf-Sequenz im ersten „Moment Musical“ wahrgenommen. Jetzt hörte ich das Pochen unter jeder Phrasierung heraus – eindringlich oder kaum vernehmbar, stolpernd oder hämmernd, sich wieder verlierend. Ein Herz, das dabei ist, das Schlagen aufzugeben.
„Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt’ für uns!“
Das Andantino todtraurig. Ein Erschrecken beim Wechsel von a-Moll in fis-Moll. Noch atmete sie, noch hörte sie zu. Mit einem Satz hüpfte das klopfende Herz in den Tanzrhythmus des Allegro moderato. Lass es noch einmal mitschwingen, Tante Pepi! Du hattest nie einen Tänzer, aber getanzt hast du. Bei den Hochzeiten der anderen. Allein. Vehement drängte sich mir ein Bild auf: Ich seh dich, Tante Pepi, mit einem gefüllten Weinkrug auf dem Kopf. Du hast dich im Takt gewiegt dabei, keinen Tropfen verschüttet. Alles Ungeschlachte war von deinem Körper abgefallen. Hoch aufgerichtet, die Arme in die Hüften gestemmt, hast du die Schritte gesetzt, als gingest du mit einem Korb auf dem Kopf über die Weinhügel in die Bezirksstadt, um Eier, Kirschen, Äpfel, Doppelgebrannten zu verkaufen. Du hättest dich zu diesem Allegro moderato gedreht, als wäre es für dich komponiert worden, beschwingt und fröhlich auf dem Untergrund deiner Lebensmelodie in Moll.
Darum wolltest du Schubert zum Sterben?
Während des c-Moll-Moderatos, wo Schubert gleichmäßig perlend wie Bach klingt, wurde der Atem der Sterbenden ruhiger, leichter. Ihre Augen suchten meine. Oder bildete ich mir das nur ein? Mich packte die Angst, es könnte der letzte klare Blick sein. Ein neues Motiv schob sich über die kristallklaren Läufe: ein rhythmisches Sich-Fallenlassen, Hochschnellen, erneutes Fallen. Unerbittlich. Herzweh, das mir die Kehle abschnürte.
„Wie es war im Anfang, so auch jetzt und allezeit und in Ewigkeit. Amen.“ Die Thresl war etwas lauter geworden, ich hatte ihr Murmeln nicht mehr wahrgenommen.
Das Allegro vivace übertönte es. Zu laut, zu dramatisch, zu viel panischer Herzschlag. Verzweiflung im Marschrhythmus. Erschrocken drehte ich leiser.
Mit dem Allegretto pendelte sich die Musik monoton melancholisch ein. Ich griff nach Tante Pepis Hand, spürte einen leichten Druck. Thresls Singsang und das plötzlich einsetzende rasselnde Atmen der Sterbenden übertönten das gedämpfte, sich von aller Schwere lösende, in den Schluss verlierende letzte „Moment Musical“.
„Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Absterbens. Amen.“