Читать книгу Bist Du bereit? - Anna Betula - Страница 12
VIII.
ОглавлениеDoch nicht nur das streifte mich. Mit einer Gewalt, die nicht zu beschreiben ist, schoss plötzlich ein entsetzlich harter Strahl auf mich herab, in mich hinein, durch mich hindurch, um sich dann blitzschnell aus mir zurückzuziehen. Mit ungeheuerlicher Kraft schleuderte es mich plötzlich einige hundert Meter aus Kilians Nähe, um mich sogleich in rasender Geschwindigkeit zurückzuziehen. Begleitet von einem so zerreißenden Schmerz, dass ich völlig panisch wurde.
Im nächsten Moment stoppte all das und ich befand mich wieder an Kilians Seite.
Jedoch, etwas stimmte nicht. Es benötigte einige Sekunden bis ich realisierte, dass ich mich zwar neben ihm befand, doch abgegrenzt war von seiner Aura. Ohne auch nur eine winzige Möglichkeit der Verbindung zu erkennen. Wie in einer wabernden, undurchdringlichen Seifenblase gefangen. Entsetzt nahm ich all dies wahr und sah direkt neben mir einen meiner Kollegen. Zu nah. Nein! Dieser befand sich in Kilians Astralkörper. Nicht nur das, mit deutlichen Anweisungen führte er ihn aus der Menge heraus Wunna entgegen.
Oh mein Gott, was hatte ich getan!? Warum erledigte der meine Aufgabe?
Natürlich wusste ich weshalb. Doch noch nie zuvor hatte ich so etwas gesehen. Nicht selbst und auch von niemandem gehört.
Ich wusste wohl, dass es in absoluten Ausnahmefällen einen Schutzengelwechsel gab, doch auch, dass dies nicht umsonst äußerst selten vorkam. Ein solches Unterfangen barg so einige Gefahren für die Schützlinge mit sich und auch die Schutzengel brauchten soviel ich wusste einige Zeit, sich an den anvertrauten Menschen zu gewöhnen. Normalerweise wachsen ja beide von Anfang an langsam zusammen. Wir begleiten die Menschen schließlich von ihrem jeweiligen Lebensbeginn an, fühlen uns auf die spezielle Gefühlsebene ein, machen uns mit der Persönlichkeit vertraut, erleben jeden einzelnen Moment dieses Schützlings mit, kennen alle Gedanken, Stärken, Schwächen. Alles.
Eine so explizit auf die Person eingestellte Sprache kann unmöglich nachträglich perfekt gelernt werden. Ein wenig vergleichbar, als wenn Menschen im Erwachsenenalter Fremdsprachen erlernen. Nun und umgekehrt ist es noch viel prekärer. So nehmen die Schützlinge uns ja nicht als eine von sich getrennte Wesenheit wahr. Unsere Führung erspüren sie als einen ganz eigenen Teil ihrer selbst - Etwas, was in ihren Augen schon immer so war und unlösbar von der eigenen Persönlichkeit betrachtet wird. Der Mensch läuft Gefahr sich selbst gegenüber Fremdheitsgefühle zu entwickeln, ohne die leiseste Chance, diese Empfindungen in irgendeiner Form greifbar zu machen. Zusätzlich natürlich sind auch die Abläufe weniger reibungslos, ungeachtet wie sehr sich der neue Schutzengel auch bemühen mag. Länger die Zeiträume, welche es zum Warnen braucht, weniger stark der Trost in schwierigen Zeiten oder die Zeichen, um auf Möglichkeiten aufmerksam zu machen, schlechter geeignet. Im Großen und Ganzen eine etwas holprige Geschichte, die in einer potentiellen Summierung der Ereignisse sogar gefährlich werden könnte. Wie erwähnt kenne ich diesen Fall nur hypothetisch.
Mit stillem Entsetzen begriff ich die Situation.
Ich konnte nun zusehen wie Kilian sich mit Wunna unterhielt, beobachten wie mein Ersatz auf ihn einwirkte. Erntete Ignoranz von diesem und strenge, sehr strenge Blicke von Wunnas Engel. Doch gerade war mir all das gleichgültig.
Eine so tiefe Traurigkeit erfasste mich, dass nichts anderes mich noch berühren konnte. Ein Getrenntsein, welches ich als Engel niemals erlebt hatte durchflutete meinen gesamten Körper und färbte ihn in den dunkelsten Farben. Getrennt von Gott, getrennt von meinen Führern, getrennt von Kilian, völlig allein in meiner Blase.
Gleichzeitig erfasste mich ein schweres Schuldgefühl und schien sich in mir mit einer unsäglichen Gewalt auszubreiten. Was hatte ich nur getan? Am liebsten hätte ich mich aufgelöst, solange geweint, bis ich mich verflüssigt hätte oder mich zumindest verkrochen und all meine Gefühle begraben. Natürlich war dies keine Option, ich war ja noch nicht einmal in der Lage überhaupt zu weinen, geschweige denn meine Blase zu verlassen. Selbst der betäubende Schlaf war uns Engeln ja nicht vergönnt.
In stiller Resignation sah ich Kilian, wie er mit Wunna schäkerte, wie sie das Gelände verließen um sich näher zu kommen. Wie sie sich lachend küssten und schließlich hinter einem Gebüsch verschwanden um sich unbeholfen zu entkleiden. Ich sah das, doch es löste nichts mehr in mir aus, es war mir in Anbetracht meines unermesslichen Schmerzes völlig gleichgültig. „Immerhin das.“ Dachte ich bei mir. Kilian stellte sich bei seinem ersten Mal gar nicht völlig blöd an, konnte ich bemerken. Auch dass Wunna durchaus schon Erfahrungen hatte, durfte ich erkennen.
Ich musste jetzt zugeben, dass sie aus diesem Grunde tatsächlich auch nicht die unsinnigste Gefährtin für dieses Ereignis darstellte. Doch eigentlich fielen mir diese Dinge nur auf, da ich mich der Situation ja keineswegs entziehen konnte. Darüber hinaus ließ es mich völlig kalt.
Oh Gott war ich einsam.
Wir Engel kennen dieses Gefühl nicht. Entweder wir sind ununterbrochen mit unseren Schützlingen und gleichzeitig unseren oberen Engeln und Gott verbunden, oder aber wir befinden uns im Urlaub und erholen uns im Zustand absoluter Glückseligkeit.
So eine Abgeschiedenheit wie diese war das Bitterste, was ich in meiner Laufbahn als Schutzengel je erlebt hatte. Möglicherweise als Mensch, das mochte ich nicht völlig ausschließen - Garantieren hätte ich es nicht können.
So fing ich an zu beten, ja zu flehen und zu wimmern. Natürlich hatte ich mein unentschuldbares Verhalten längst eingesehen. Das hatte ich wirklich. Schon in der ersten Sekunde, in welcher ich die Sachlage erfasst hatte, war mir die Schwere meines Vergehens im Innersten klar. Das, was ich getan hatte, war einer der schrecklichsten Fehler, welcher ein Engel begehen konnte. Wenn nicht der Schlimmste - Ungehorsam.
Für Menschen ein eher niedlicher Begriff, der für Kinder benutzt wird, die nicht hören wollen. Für uns jedoch oberstes Gebot und das nicht zu Unrecht. Wo es bei Menschen durchaus ab und an angebracht ist, Regeln nicht zu befolgen, Aussagen von Erwachsenen oder Mitmenschen kritisch zu hinterfragen oder sich gegen momentane Gesinnungen aufzulehnen, ist es bei uns doch etwas gänzlich Anderes. Menschen sind schließlich fehlbar, und zwar alle - Eltern, Vorgesetzte, Anführer, Könige. Bei allen besteht eine nicht zu vernachlässigbare Anzahl falscher Ansichten, Absichten oder Meinungen.
Wir hingegen wissen, wer uns führt, wir wissen, dass wir allein Gottes Führung unterstehen. Wir haben nicht lediglich eine Ahnung oder einen Glauben - Wir wissen, dass unsere Aufträge direkt der Göttlichkeit entspringen. Zwar gibt es noch höhere Engel und die Erzengel über uns, doch die Führung, welche wir auf direktem Wege unseren Schützlingen weiterzugeben haben kommt von ganz Oben. Es gibt da kein „Vielleicht“, keinen Interpretationsspielraum und auch kein „in Frage stellen“. Es ist eine Anmaßung, ein dermaßen immenser Schwachsinn, diese Führung anzuzweifeln, dass es de facto bei uns eigentlich nicht geschieht.
Es ist keineswegs so, dass wir keinen freien Willen hätten. So haben wir durchaus unterschiedliche Persönlichkeiten und führen ruhige Diskussionen mit unseren Kollegen. Auch haben wir eigene Meinungen zu Geschehnissen der Welt, den Umgangsformen unserer Vorgesetzten oder anderer Engel und Wesenheiten. Wir stellen Vermutungen an, wie dieses oder jenes sich entwickeln könnte. Reden darüber, dass wir bestimmte Weisungen nicht nachvollziehen können, oder ärgern uns mal sanft über den einen oder anderen Auftrag. Doch wir stellen nichts davon in Frage. Wir wissen, dass alles insgesamt seinen Sinn hat, auch wenn wir keineswegs alles verstehen.
So haben wir also einen freien Willen, doch erscheint es uns bezüglich unserer Aufträge völlig sinnlos, diesen zu benützen. Wir können dezent fragende Impulse haben, doch wir wissen ja um die absolute Richtigkeit. Wir können uns darüber unterhalten, welcher Sinn hinter dieser oder jener Weisung wohl stecken mag, doch dass sie falsch sein könnte, steht überhaupt nicht zur Debatte. Alles andere ist eine direkte Auflehnung gegen das Gotteswesen und wie gesagt, die Göttlichkeit ist für uns nicht eine so schwach empfundene Wesenheit wie für euch Menschen. Wir spüren die Führung in dem Maße stark, als wenn Euer Kopf mit einer Stahlstange die genauso breit wäre wie eben dieser, von einem Kran geleitet würde.
Das bedeutet, es ist ein Ding der Unmöglichkeit, sich auf ein Missverständnis herauszureden. Nun, in meinem Falle hatte ich mich gewaltsam der metaphorischen Stahlstange entledigt, um den Auftrag nach meinem Willen fortzuführen.
Dass das nun kein kleineres Vergehen war, wie beispielsweise ein zu offensichtliches Erscheinen, war mir absolut bewusst. Wie die weitere Konsequenz für ein solches Verhalten allerdings wirklich aussah, konnte ich nicht einmal erahnen. Ich konnte nur um Vergebung bitten.
Und ich meinte es ernst, so ernst, wie ich noch niemals etwas ernst gemeint hatte, Die Antwort blieb allerdings aus. So verbrachte ich die nächsten Tage. Betend, hoffend. Immer wieder durchbrachen tiefe Verzweiflung und Trauer mein Sein.
Manchmal meinte ich nach wie vor, dass das Verbrechen zwar unermesslich groß war, ich jedoch durch die Belastung mit den intensiven, ungewollten Emotionen ein wenig von meiner Schuld erlassen bekommen sollte.
Doch was sollte es, diese Überlegungen waren unangebracht und hätte Michael das so empfunden, säße ich nicht hier. In mir war keine Wut mehr, kein Aufbegehren.
Noch immer konnte ich mir nicht erklären, wie ich als an und für sich vorbildlicher Schutzengel nun hier in dieser Blase landen konnte. Weiterhin versuchte ich, ins Leere zu erklären, wie sehr ich mir meiner Schuld bewusst war und flehte unablässig um Gnade.
Ich führte das weiter und weiter, ohne auch nur das geringste Anzeichen zu bekommen, dass mich jemand hörte. „So muss es den Menschen gehen.“ Dachte ich zwischendurch und entwickelte einen ganz neuen Respekt für gläubige Menschen. Menschen mussten die Verbindung zu Gott immer so hypothetisch empfinden wie ich sie gerade empfand, oder zumindest in den allermeisten Fällen. Kein Wunder, dass sie sich nicht drauf verlassen, sondern verzweifelt versuchen Regeln aufzustellen, die den richtigen Weg weisen sollen oder oftmals die Hoffnung und den Glauben verlieren. Jetzt saß ich schon hier und konnte das Gefühl der Verlassenheit kaum ertragen. Ich aber wusste ja nach wie vor, dass es Gott gab. Ich sah meine Kollegen und natürlich sah ich somit auch die göttliche Führung. Sogar war mir durch Erinnerungen an meinen Erholungsort, dem Empfinden der Glückseligkeit, das Göttliche gegenwärtig.
Die Menschen hingegen mussten sich auf ein vages Empfinden verlassen. Einen Glauben entwickeln, der jeder Rationalität und allen Strömungen und Schmerzen standhalten musste. Ohne auch nur eine einzige Sicherheit zu erhalten, dass dieses Empfinden nicht nur reine Einbildung war. Hut ab, vor denen, die es zustande brachten. Nicht, dass mir diese Gedanken recht viel weiterhalfen in meiner misslichen Lage, aber immerhin brachte es mich dem menschlichen Wesen ein Stück näher.
Kilian traf sich noch weitere Male mit Wunna und immer sicherer wurde er im Umgang mit der Sexualität. Gleichzeitig begann seine Ausbildung zu Pferde. Wäre er nicht so abgelenkt gewesen durch seine Verliebtheit, hätte er sich selbstverständlich noch besser konzentriert bei den Übungen. Er machte auch so gute Fortschritte. Auch mit meinem Kollegen schien er einigermaßen zurecht zu kommen, wenngleich die Irritationen sich ab und an in seiner Aura spiegelten. So setzte dieser auf andere Zeichen, war wesentlich ruhiger als ich es war und auch weniger nah.
Sein Ton war professioneller und Kilian empfand seine neue Intuition als recht kühl. Das war nicht optimal, hätte aber weit schlimmer kommen können. Er selbst erklärte sich seine innere Wandlung ein wenig anders. So meinte er, dass im Zusammenhang mit seinem ersten Mal und der Ausbildung zum reitenden Krieger, schlicht der Mann in ihm nun vollends zur Reife gekommen wäre. Er hätte nun logischerweise auch eine nüchternere und angemessenere Art, mit Situationen umzugehen. Sogar schlich sich eine leichte Arroganz in sein Wesen, die ich mit Sorge betrachtete. Meiner Meinung nach bekam diese nicht genügend Beachtung seitens meines Ersatzes. Es blieb mir nichts anderes übrig, als dies gleichgültig und als gegeben hinzunehmen.
So wurde aus Kilian ohne mein Zutun ein Mann, sowohl was die Frauen betraf, als auch als Krieger. In den zwei verbleibenden Wochen an der Festung wurde diese Eigenschaft gefestigt und ausgebaut.
Er hatte zudem guten Kontakt zu Gebhard, der ihn nun ebenfalls mit neuen Augen betrachtete. Durch die Gegebenheit, dass beide gleichermaßen unerfahren auf diesem Gebiet, die Pferde bestiegen, wurde das Machtgefälle zunehmend geringer. Da sich Gebhard nicht unbedingt besser auf dem Tier anstellte als Kilian das tat, betrachteten sich beide immer mehr als gleichrangige Krieger. Zumal sie auch in zukünftigen Schlachten in den gleichen Reihen kämpfen würden. Kilians Ego wurde somit von verschiedensten Seiten in die Höhe katapultiert und mit geschwollener Brust und Hose schritt er über das Gelände.
Er redete sich ein, er würde sich Arvid gegenüber verhalten wie eh und je, doch konnte er den Stolz über seinen Rang kaum verbergen.
Immer wieder musste er erwähnen, dass es doch noch einmal gänzlich andere Fähigkeiten benötigte, um zu Pferde zu kämpfen und wurde nicht müde, sein freundschaftliches Verhältnis zu Gebhard zu unterstreichen. Arvid war verletzt, doch versuchte er wirklich, seinem Freund all das Glück zu gönnen. Er hoffte weiterhin, Kilians Gebaren würde sich wieder etwas regulieren, wenn sie erst wieder unterwegs wären. Doch wieder und wieder ergaben sich Situationen, in denen Arvid einen subtilen Seitenhieb von seinem Freund bekam.
„Das ist mir mittlerweile schon klar, dass für diese Aufgabe einfach nicht jeder geeignet ist.“, verkündete Kilian wiederholt. „Na, dann ist es ja gut, dass sie jemanden wie dich gefunden haben.“, meinte nun Arvid genervt, um sich dann auf seinem Lager zur Seite zu rollen. Kilian hingegen blieb auf dem Rücken liegen und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Selbstgefällig dachte er, „so schnell bekommt man also den Neid zu spüren. Das soll ein Freund sein, der einem nicht einmal den Erfolg gönnt?“
Natürlich bemerkte diese Veränderung auch mein Kollege, doch dies war eine kniffelige Herausforderung, für ihn insbesondere. Zum einen, da es in diesem Falle notwendig war, eine als positiv empfundene Emotion zu regulieren. Dies war ohnehin schon immer ein etwas lästiges Unterfangen, da das Ego in diesen Fällen sehr stark war. Zum anderen, weil es in solchen Momenten von großer Bedeutung war, zu wissen, womit man seinen Schützling am Schlafittchen packen konnte. Dazu musste man wissen, welche Gedanken ausgegraben gehörten, welche Erinnerungen hervorgeholt oder über welche Gefühle eingestiegen werden sollte. Hierfür ist es wiederum nötig, darüber genauestens Bescheid zu wissen.
Mein Kollege hatte diese Informationen gar nicht, es stellte sich für ihn als harte Arbeit heraus, diese Emotionen in die richtigen Bahnen zu lenken. Natürlich bekam auch er die eindeutige Weisung, diese egoistischen Bestrebungen einzudämmen. Jeder Engel setzt jedoch seine Fähigkeiten, dieses Ziel zu erreichen, anders ein. Normalerweise sind Engel und Mensch aber ja auch perfekt aufeinander eingestimmt.
Oh je, das gefiel mir gar nicht. Ich sah meinen Kollegen, der sich abmühte, sah wie er die verschiedensten Mittel einsetzte und wollte am liebsten durch meine Blase brechen. Ihm und Kilian zu Hilfe zu kommen, doch natürlich hatte ich keinerlei Möglichkeit zur Intervention.
Sogar Arvids Engel versuchte meinem Ersatz zu erklären, wie ich dieses oder jenes angestellt hatte, doch es war ziemlich zwecklos. Nicht gänzlich umsonst zwar, aber befriedigend war es keineswegs.
Ich nahm mit meinem Freund, Arvids Engel, Blickkontakt auf. Mehr Verbindung war nicht möglich, dafür war die Wand der Blase zu undurchlässig. Doch immerhin spürte ich über seinen Blick, dass er mich nicht verurteilte und empfing nach wie vor ein starkes Mitgefühl.
Ich war dafür so dankbar - Es half mir direkt, mich ein wenig besser zu fühlen. Schließlich hätte es sein können, dass er mich nicht mehr ansehen würde, oder mir zumindest eindeutig seine Missgunst zeigen können. Doch nichts davon musste ich empfinden und das bedeutete mir viel in meiner Lage. Komischerweise gab es keinerlei Option, mit meinem Ersatz Kontakt aufzunehmen, noch nicht einmal Blickkontakt. Als würde er mich nicht sehen. Wahrscheinlich eine direkte Weisung von Oben.
So verliefen auch die weiteren Tage. Ich gewöhnte mich so gut es ging an die Zuschauerposition. Weiterhin ständig um Vergebung bittend für meinen Fehltritt. Kilian genoss nach wie vor seine neu erworbene Männlichkeit und mein Ersatz mühte sich ab, seine unangebrachte Arroganz zu regulieren.
Kilian und Wunna wurde der kommende Abschied immer bewusster und sie trafen sich in jeder freien Minute auf ein kleines Stelldichein. Beide versprachen sich die Treue und waren überzeugt, die lange Zeit bis zum nächsten Wiedersehen durchzustehen. Wunna versprach zu warten und Kilian, dass er all seine Aufgaben in Gedanken an sie ausführen würde. Doch sah man in ihrem Astralkörper auch Farben, die darauf hindeuteten, dass sie mehr Zweifel an diesem Vorhaben hatte als er. Womöglich hatte sie schon ähnliche Situationen erlebt und trug schon diesbezügliche Narben mit sich. Womöglich entsprangen die Zweifel aus Erfahrungen von Freundinnen oder ganz anderen Erlebnissen. So genau war das den Farben nicht abzulesen. Kilian hingegen war in seiner Unerfahrenheit voller Überzeugung, diese Liebe für immer mit sich zu tragen und malte sich schon seine Zukunft mit Wunna aus. Wie sie leben würden, ihre Vermählung, sogar ihre gemeinsamen Kinder stellte er sich vor.
Natürlich überkam ihn eine Wehmut in Anbetracht des Abschieds, doch da er noch auf keinerlei Erinnerungen an ähnliche Gefühle zurückgreifen konnte, war er sehr zuversichtlich.
Die neuen Konstellationen aus den verschiedenen Stämmen wurden zusammengestellt, die Reiter verteilt und der König informierte die verschiedenen Anführer über ihre Aufgaben.
Kilian hielt sich viel in Gebhards Nähe auf. Zum einen da das nötig erschien, um die genaueren Reiterpositionen festzulegen und bestimmte Schlachtstrategien durchzugehen. Zum anderen aber genoss er die besondere Stellung, welche die berittenen Krieger unweigerlich inne hatten. So konnte Kilian diese Tatsache natürlich auch nach außen gut sichtbar vertreten.
Seit diesem nicht weiter ausgeführten Konflikt zwischen den Freunden, lag eine deutliche Spannung über Kilian und Arvid. Sie sprachen nur oberflächliche Sätze miteinander und pflegten einen höflich distanzierten Kontakt. Jeder für sich warf dem Anderen vor, sich unangebracht zu verhalten und ein jeder war zu stolz, ein tieferes Gespräch darüber zu suchen. Immerhin wurde festgelegt, dass beide weiterhin ein Zelt miteinander teilten, so konnte man darauf hoffen, dass sich die Freundschaft wieder besserte.
Am Tag des Abschieds allerdings fiel Kilian auf, dass der ansonsten so ausgeglichene Gebhard in düsterer Laune über das Gelände schlich. Er wollte mit niemandem reden, sondern setzte sich mit seinem Trinkhorn und Met außerhalb des Lagers unter einen Baum und schon allein seine Haltung verriet, dass es besser war, sich ihm jetzt nicht zu nähern.
Kilian jedoch war nun schon den guten Kontakt zu ihm gewohnt und auch ersetzte der Umgang mit Gebhard ein wenig die Unterhaltungen mit Arvid. So näherte er sich auch jetzt entgegen der eindeutigen Körperhaltung Gebhards dieser alten Eiche. Schweigend setzte er sich seitlich zu ihm an den Baum und beide starrten eine Weile in die Ferne.
„Immer wieder das Selbe, junger Freund.“, murmelte Gebhard, gefolgt von weiterem Schweigen. „Was?“ Fragte Kilian nach einer Weile. „Mit den Frauen. Nein falsch, mit dieser Frau.“ „Friederike?“ „Mh“ „Warum? Ihr scheint doch sehr glücklich miteinander.“ „Oh ja, das sind wir, doch so sehr mein altes Kriegerherz es nicht einsehen mag, die Abschiede fühlen sich jedesmal an, als würde mir jemand ein Schwert in die Brust rammen.“ Das waren ungewöhnlich ehrliche Worte für einen gestandenen Mann. Die wenigsten älteren Krieger waren sich überhaupt auch nur bewusst genug, dieses Gefühl für sich zu benennen. Schon gar nicht würden sie es aussprechen. „Ja, das versteh ich. Ich hab doch dieses Mädchen Wunna kenne...“. „Das denk ich nicht, dass du das verstehst.“ Schnitt ihm Gebhard das Wort ab.
„Ich hatte schon viele Mädchen, kenne auch den Kummer, den du bald erleben wirst. Das mit Friederike ist anders. Ach verdammt, was soll ich erzählen - Du hast keine Ahnung, niemand hat davon eine Ahnung, vergiss was ich gesagt hab und verzieh dich. Ich möchte meine Ruhe.“, brummte er und drehte sich demonstrativ weg.
Kilian blieb verwundert noch einen Moment sitzen, ärgerte sich daraufhin und meinte selbstgerecht, dass scheinbar schon er besser mit der Liebe zurechtkäme als dieser erfahrene Mann.
Damit stand er auf und schritt davon, um sich noch ein letztes Mal ausgiebig zu waschen. Er flocht seine Haare und holte sich seine besten Hosen und ein sauberes Hemd hervor um den verbleibenden Tag sowie die letzte Nacht mit Wunna zu verbringen.
Beim Abschied flossen Tränen. Wunna schnitt sich eine rote Haarlocke ab und überreichte sie Kilian mit dem Versprechen, immer an ihn zu denken und auch er trennte sich von einem der schmalen geflochtenen Zöpfe, welche seitlich an seiner Schläfe herabfielen. „Ich komme wieder, meine Liebe und dann werde ich dich zu meiner Frau machen.“, meinte er aufrichtig. Sie lächelte etwas unsicher, blickte zu Boden und antwortete leise: „Dann werde ich dir viele kleine Kriegersöhne gebären.“ Nach wie vor schien sie der Sache nicht ganz so zuversichtlich entgegenblicken zu wollen, wie Kilian das tat. Doch der Schmerz und die Hoffnung war beiden gleichermaßen anzusehen.
„Möge Odin dich beschützen, mein tapferer Krieger.“ Das waren die letzten Worte bevor sie am Morgen davonlief und weinend im Wald verschwand.
Kilian packte still und ruhig seine Sachen zusammen und spazierte in Gedanken verloren langsam in sein Lager zurück. Traurig und glücklich zugleich, doch seine Zuversicht überwog. Er glaubte fest daran, dass die Zeit bestimmt schnell verginge und er Wunna dann tatsächlich in einer feierlichen Zeremonie zu seiner Frau machen würde. Dass er bis dahin, wohin er auch käme, kleine Geschenke für sie besorgen würde, vielleicht sogar ein kostbares Schmuckstück.
Diese Gedanken beflügelten sein Gemüt und mit Eifer schloss er sich seinen Kameraden an, welche schon seit den frühen Morgenstunden dabei waren, das Lager abzubrechen. Sie verstauten Zelte, packten Proviant und versuchten, sich in der neuen Ordnung zurechtzufinden.