Читать книгу Herr Rudi - Anna Herzig - Страница 11
ОглавлениеDER HEXENSCHUSS HOLT den Herrn Rudi zurück. Realität ist dort, wo Schmerz ist.
Ihm fällt der geöffnete, noch fast volle Rotwein wieder ein, der in Griffweite steht. Der Herr Rudi trinkt aus der Flasche und weint. Trinkt und weint und trinkt und weint, während er auf dem Boden kniet, mit der einen Hand abgestützt, in der anderen die Flasche.
»Que sera, seraaaa«, grölt er zwischen zwei Schluchzern, »whatever will be, will be.« Dann summt er, weil er den Rest vergessen hat. Auf drei Gliedern beginnt er zu wippen. Wiederkehrende Bewegungen. Vielleicht, wenn er schnell genug trinkt und wippt und trinkt und wippt und trinkt und weiter wippt, kann er sich in der Zeit zurücktrinken. Wie eine Zeitmaschine, nur ohne Zeitmaschine, dafür mit Rotwein.
Heureka, wenn das gelänge!
Er würde sich zurücktrinken zur Olivia. Zurück zu jenem Sommer, bevor sie starb. Zurücktrinken zu seinem Vater und ihm sagen, dass er nach dem Tod der Mutter ein Recht darauf gehabt hätte, wieder glücklich zu sein, egal, was die Leute im Dorf sagen. Zurücktrinken zu einer anderen Berufswahl, einer, die das Elend der Menschen nicht noch aussichtsloser macht.
»Que sera«, jammert er und ist für einen Moment unachtsam. Die Flasche rollt davon, und der Herr Rudi ist fassungslos ob dieses Verrats.
»Soso«, sagt er. »Soso, du mieser Verräter. Ich brauch dich eh nicht.«
Die Flasche, mittlerweile regungslos auf der anderen Seite des Raums angekommen, bleibt kühl und lässt sich auf keine Diskussion ein.
»Ich hab’s nicht so gemeint«, flüstert er, »wenn du mir entgegenkommst, wäre das fein.«
Keine Antwort.
»Können wir das so machen, bitte schön?«
Keine Antwort.
»Schau, ich hab doch nur mehr dich.«
Die Flasche, denkt er, könnte ja eine Seele haben, ein Leben. Ein eigenes nämlich, mit Verpflichtungen. Eine Ehefrau, ein lieblicher Muskateller vielleicht. Die Kinder: Rosé. Merlot musste kurzfristig aus dem gemeinsamen Weinregal ausziehen. Man wird sehen, ob Distanz wieder verbinden kann. Merlot und Muska verbindet eine lange Geschichte, die allerdings geheim bleibt. Eine feurige Liebe, so viel kann man sagen. Die großen Gefühle, findet der Herr Rudi, dürfen ruhig eine angemessene Zeit brauchen, um zu reifen. So erzählt er es zumindest der Flasche, hofft auf einen Lufthauch, der sie samt den noch nicht ausgeronnenen Überresten Wein zu ihm herüberrollen lässt. Nichts passiert.
Es ist demnach entschieden. Die Flasche und er werden getrennte Wege gehen. Er denkt über die Sauerei im Badezimmer nach und fragt sich, ob man das irgendjemandem zumuten kann. Wer will denn so etwas beim Morgendienst finden?
»Steh auf, Rudi«, sagt er zu sich.
Er versucht und scheitert im selben Moment daran, sich aufzurichten, gefolgt von einem »AuaScheißeHimmel-HerrgottJosefundMaria.«
»Was tut dir denn weh?«, fragt die Livi plötzlich.
»Das Alter.«
»Kenn ich nicht.«
»Ich weiß.«
»Wie ist das?«
»Elend. Manchmal.«
»Es ist still hier.«
»Weißt, vor ein paar Tagen ist es mir passiert. Das, was nie hätte passieren dürfen. Ich hab mich nicht mehr erinnern können, wie du riechst.«
»…«
»Den ganzen Keller hab ich nach deinem Karton abgesucht, dem braunen, eingerissenen, den mir deine Mutter nach der Beerdigung mitgegeben hat. Decken, Kleidung, der Marmeladenvorrat. Ich hab geglaubt: Ich dreh durch.«
»…«
»Alles hat nach Keller gerochen.«
Der Herr Rudi hört es klingeln.
»Hallo«, sagt er.
»Hallo, hallo, hallo«, sagt die Stimme.
Sein Handy liegt auf dem Bett, Paolo Conte in Dauerschleife. Dieses YouTube ist ein Hexenwerk, findet er.
Aber diese Musik. Damals haben sie nackt im Haus getanzt, wenn niemand da war.
Als die Livi gegangen ist, haben dem jungen Herrn Rudi Dinge wehgetan, von denen er nicht gewusst hat, dass die wehtun können. Regungslos ist er in der Küche gesessen, als wäre er ein Brotkorb, der zum Inventar gehört. Was wisst ihr von Liebe, haben die Eltern der Teenager damals gesagt, was wisst ihr denn schon? Der Vater vom Herrn Rudi hat das im Nachhinein bereut, weil er seinen Sohn noch nie so leiden gesehen, gravierend unterschätzt hat, was die beiden füreinander waren.
Alte Seelen, die sich erkannt haben, möglicherweise.