Читать книгу Herr Rudi - Anna Herzig - Страница 15
ОглавлениеDIE HEDI, DIE GÄRTNERIN, hat sich damals erbarmt, den Burschen in die Badewanne gesetzt, Wasser eingelassen und sorgsam gewaschen.
Sie hat ihn beschützt, eigentlich vor dem Vater. Hätte der Kurt Renninger gesehen, dass der Sohn es nicht mehr schafft, auf die Toilette zu gehen, dann wäre ein anderes Lied am Klavier gespielt worden. Trauer hin oder her. Also hat sie die angepinkelten Bettlaken gewaschen und gewechselt, seine mit Exkrementen verschmierten Pyjamas weggeworfen und neue gekauft, das Zimmer regelmäßig gelüftet und gewischt. Jeden Montag und Freitag neue Blumen aus dem Garten ins Zimmer gestellt. Die Hedi hat ihn gefüttert, weil er sonst vor jedem randvoll gefüllten Teller verhungert wäre.
»Ein Löffel, Bub.«
»Ich kann nicht.«
»Nur einer.«
»Ich kann nicht.«
»Schau. Das ist die Suppe, die meine Mutter immer gemacht hat.«
»Ich will sterben.«
»Ich weiß.«
»Wenn man jemanden so sehr liebt.«
»Ich weiß.«
»Ich mag kein Mensch mehr sein.«
»Ich weiß.«
»Bitte mach, dass das aufhört.«
»Ich würd dir so gern helfen.«
»Du liebst den Papa«, hat der junge Herr Rudi gesagt.
»Ja.«
»Und er?«
»Das ist schwierig.«
»Es tut so weh, Hedi«
»Ich weiß.«
»Wann hört das auf?«
»Das dauert.«
»Wie lange?«
»Manchmal ewig.«
Ein aufbewahrter Karton Marmelade. Den hat er überallhin mitgenommen. Zu Vorstellungsgesprächen, zum Arzt, zur Führerscheinprüfung, auf die Toilette, ins Bett. Jedes Mal, wenn man einen milden Versuch unternommen hat, ihm den Karton auszureden, oder sich vorsichtig bemüht hat, diesen wegzunehmen, hat der Herr Rudi einen Tobsuchtsanfall bekommen, der Menschen zurückweichen hat lassen.
»Bub, so geht das nicht weiter«, hat der Kurt Renninger irgendwann gesagt. Ein gekrümmter Mann war er, der Vater vom Herrn Rudi, mit einem dichten Schnurrbart und drei kleinen Fältchen zwischen Stirn und Nasenwurzel.
»Sieben Wochen«, hat der Sohn geantwortet.
Der Vater kennt diese seelenlose Stimme, weiß, dass die von ganz tief drinnen kommt, und sagt: »Nimm ein Bad. Danach geht’s dir besser.«
»Ich will nicht.«
»Du musst dich waschen.«
»Wozu?«
»Glaubst, die Olivia hätte das gewollt?«
»Was?«
»Dass du dir das antust.«
Der junge Herr Rudi sitzt im Schneidersitz auf dem kalten Steinboden in der Küche, vor ihm das Livi-Marmeladen-Erbe. Er greift in den Karton, dreht behutsam den Deckel eines Marmeladenglases auf und legt ihn neben sich. Antworten sind heute ausverkauft. Auch die nächsten Tage. Stattdessen wird er den Rest des Herbstes damit verbringen, die gesamte Marmelade – bis auf ein Glas – mit den Fingern auszulöffeln.
In jenem Jahr muss erst der Winter kommen, bis der Bursche sich dazu entschließt, wieder am Leben teilzunehmen und zu sagen: Okay.