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VON EINER INDUSTRIEKAUFFRAU ZUR FOTOGRAFIN
ОглавлениеIn der Schule kristallisierte sich schnell heraus, wo meine Stärken und Schwächen lagen. Mathe war eine Katastrophe, während ich in Sport, Kunst und Sprachen punktete. Meine Fantasie war, laut meinen Grundschullehrern, sehr ausgeprägt, was sich bereits in den ersten Schuljahren beim Schreiben kreativer Aufsätze zeigte. Ich kann mich an viele Momente erinnern – zum Bespiel auf der Rückbank unseres Opel Corsas auf dem Weg nach Italien –, in denen ich im Vorbeifahren Situationen sah, anfing zu träumen und mir Geschichten ausgemalt habe. Vielleicht fällt es mir auch dadurch so leicht, Geschichten mit meinen Bildern zu erzählen. Mindestens so ausgeprägt wie meine fantasievollen Träumereien waren leider auch meine Konzentrationsprobleme und mein energiegeladener Geist. Mir fiel Lernen immer sehr schwer, ich konnte schlecht ruhig sitzen und mich auf eine Sache konzentrieren. So schleppte ich mich regelrecht durch die Schule und schaffte mit durchschnittlichen Noten die Mittlere Reife. Parallel schrieb ich Bewerbungen für einen Ausbildungsplatz zur Fotografin an alle Fotostudios Siegens – obwohl die meisten gar keine Auszubildenden suchten! Die Möglichkeiten, hier als Fotografin zu lernen und zu arbeiten, waren nicht wirklich gegeben. Um des Friedens willen entschied ich mich kurzerhand für eine kaufmännische Ausbildung zur Industriekauffrau bei einem Betrieb im Nachbarort, was immerhin besser war, als ganz ohne Ausbildung dazustehen. Leider stellte sich aber sehr schnell heraus, dass der Beruf, damit verbunden das ganze Wirtschafts- und Industrie-Zeug, mir überhaupt keine Freude bereiteten. Meine Motivation war im Keller, ich war gefrustet, traurig, fühlte mich antriebslos, und ein Ziel war erst mal nicht in Sicht. Drei Jahre Ausbildung standen mir bevor.
Kann es so falsch sein, auf sein Herz zu hören?
2016, Sonnenaufgang in Miami mit Evi
In meiner Freizeit lenkte mich die geliebte Fotografie ab. Ich knipste Lisa, wir uns gegenseitig, bearbeiteten die Bilder und teilten anschließend unsere »Kunstwerke« auf sozialen Netzwerken wie Myspace, um Gleichgesinnte zu suchen. Die einfache Kompaktkamera, die Lisa und ich uns gemeinsam mit lang angespartem Geld gekauft hatten, wurde unseren damaligen Ansprüchen nur gering gerecht. Ich wollte unbedingt besser werden, richtige Bilder machen, diesen doofen Hintergrund unscharf und endlich mein geliebtes goldenes Licht in Lisas Haare bekommen. Wie? Ich wusste es nicht, trotz ständigem Lesen und Probieren. Aber dann, mit dem lang ersehnten Kauf der ersten digitalen Spiegelreflexkamera, betrat ich eine komplett neue Welt der Fotografie. Eine Nikon D60 ging ab jetzt mit mir auf Tour. Die Möglichkeiten schienen endlos, ab jetzt verging kein einziger Tag mehr ohne Fotos, ganz zum Leid meiner Freunde, die für spontane Fotoideen immer am Start sein mussten. Ich steckte jede freie Minute in das Thema, las Bücher, statt Rechnungswesen zu lernen, brachte mir die Bildbearbeitung bei und häufte mir immer mehr Wissen und Erfahrungen an. Das alles ging natürlich nicht spurlos an der Ausbildung vorbei, die Noten wurden immer schlechter, was wiederum dazu führte, dass ich noch weniger Lust und Motivation auf den grauen Büroalltag hatte, während doch draußen die bunte Welt der Fotografie auf mich wartete.
Ich zog nach endlosen Diskussionen mit meiner Familie, einem Klassenwechsel, weil ich in der Schule so schlecht war, und einer mündlichen Nachprüfung die Ausbildung durch, absolvierte endlich die Prüfung und war ausgebildete Industriekauffrau. So weit, so gut. Und jetzt? Jetzt fing ich wieder von vorne an, schrieb wieder Bewerbungen als Fotografin, sammelte wieder Absagen und wusste wieder nicht, was ich tun sollte. Irgendwann hatte ich mich damit abgefunden, nie Fotografin werden zu können. Ich jobbte, bediente Trucker in einer Spielothek, fuhr beim AWO-Fahrdienst und landete kurzerhand doch irgendwie wieder in einem Handwerkerbüro, wo ich immerhin coole Kollegen, einen Alltag und ein geregeltes Einkommen hatte. So konnte ich mir nach und nach Objektive und Zubehör für meine Kamera zulegen und mit der Fotografie weiterkommen. Als ich 2011 anfing, meine Fotografien bei Facebook zu teilen, war das Feedback toll und die Nachfrage direkt sehr groß. Kein Wunder, denn zu diesem Zeitpunkt waren natürliche Porträts von Menschen und Spielereien mit Licht etwas ganz Neues im Vergleich zu den gewohnt gestellten Studioporträts in Schwarzweiß. Nach und nach wurden immer mehr Leute auf meine Fotografie aufmerksam, kamen zu Fotoshootings, um von mir fotografiert zu werden, und ich erinnere mich noch gut an das Gefühl, als ich den ersten 50-Euro-Schein, nach einem vierstündigen Shooting, in der Hand hielt und mein Glück nicht fassen konnte: »Wow. Ich darf machen, was ich liebe, lerne dazu, hänge mit coolen Leuten in der Natur ab und bekomme dafür sogar Geld.« Ich war überglücklich, gründete ein Nebengewerbe, jobbte weiter im Büro, bis ich mich nach anderthalb Jahren erfolgreicher Nebenselbstständigkeit dazu entschied, mich ganz der Fotografie zu widmen. »Was soll schon passieren?«, fragte ich mich immer wieder bei aufkommenden Zweifeln. Eigentlich kann nichts passieren. Das Schlimmste wäre, dass es nicht lange gut geht, keine Aufträge mehr reinkommen, was zur Folge hätte, dass ich kein Geld verdienen würde und im schlimmsten Fall zurück ins Büro oder zu einem anderen Job müsste. Da gibt es weitaus schlimmere Ausgangssituationen. Wenn ich es jetzt nicht einfach probiere, würde ich es nie rausfinden. Nur Mut, sagte ich mir immer wieder. Nur Mut.