Читать книгу Braune Augen - Anna-Irene Spindler - Страница 5
Das Schloß
ОглавлениеDer Geruch von frisch gemahlenen Kaffeebohnen zog durch ihre Küche. Teresa öffnete die Haustür. Tatsächlich, Alex hatte sie nicht vergessen! Zweimal pro Woche brachte er ihr frische Brezeln mit, wenn er morgens zur Arbeit kam. Er hängte die Stofftasche immer an die Türklinke. Sie revanchierte sich mit Kaffee, den sie ihm in seiner Frühstückspause in den Aufenthaltsraum brachte. Ein, wie sie fand, äußerst praktisches Arrangement. Sie schaltete das Radio ein.
„Und jetzt das Tageshoroskop für alle Frühaufsteher und auch Morgenmuffel unter unseren Hörern.”
Sie schmunzelte, denn sie bedauerte all die armen Tröpfe, die ihr Leben nach einem solchen Unsinn ausrichteten.
„Die Krebs-Geborenen sollten ihren Träumen nicht so viel Bedeutung beimessen.”
Träume! Plötzlich musste sie wieder an den Traum von heute nacht denken. Seltsam, sie hatte wunderbar geschlafen und fühlte sich ausgezeichnet an diesem Morgen. Aber der Traum! Etwas irritierte sie. Sie konnte sich nur nicht mehr genau erinnern, was es war.
„Ach was soll’s! Es wird nicht mein letzter Traum gewesen sein“, murmelte sie vor sich hin.
Entschlossen stand sie vom Tisch auf, um sich fertig anzuziehen. Je früher sie ins Büro kam, desto eher war sie mit ihrer Arbeit fertig und konnte auf den Platz zum Spielen.
In dieser Zeit des Jahres bestand die Post des Golfclubs fast ausschließlich aus Angeboten für Golfreisen in sonnige Gefilde. Die aufwändigste Arbeit war es, zu sortieren, was gleich zum Altpapier wandern konnte und was man für die Mitglieder zum Mitnehmen auslegen musste. Sie war mit ihrer Arbeit im Prinzip fertig, als Alex um kurz vor halb eins seinen Kopf in ihr kleines Büro streckte.
„Wie sieht es aus? Brauchst du noch lange? Ich für meinen Teil, bin nämlich für heute fertig.” Fragend schaute Alex sie an.
Sie ließ einen kurzen Blick über ihren Schreibtisch schweifen und nickte.
„Ich mache auch Schluss. Die Meldungen an den Verband sind erst am dreißigsten November fällig. Das kann ich auch morgen erledigen.” Sie überlegte kurz. „Ich muss mich nur noch schnell umziehen. Treffen wir uns um zwei Uhr. Okay?”
„Gut! Also, bis gleich!” Alex Kopf verschwand wieder.
Teresa schaltete ihren Computer aus und den Anrufbeantworter ein und sperrte das kleine Büro ab. Es befand sich auf der linken Seite des Eingangsbereiches des Clubhauses. Dem Büro vorgebaut, direkt links neben der Eingangstür, befand sich der Raum, in dem sie während der Sommersaison hauptsächlich tätig sein würde. Er war gebaut wie die Rezeption eines Hotels, so dass sie für Clubmitglieder und Gäste als Ansprechpartnerin gut erreichbar war. Das Clubhaus hatte ihr bereits bei ihrem ersten Besuch gut gefallen. Jetzt allerdings lag es ziemlich öde und verlassen da. Es gab zwar einige unermüdliche Golfspieler, denen kein Wetter zu wüst war, aber auch die gingen nach der Runde gleich nach Hause. Auf dem Nachhauseweg warf sie einen prüfenden Blick auf die zweite Spielbahn. Es war nicht allzu nass. Normale Schuhe würden also ausreichen. Zu Hause holte sie trotzdem eine alte Hose aus dem Schrank, weil sie aus Erfahrung wusste, dass sie nach zwei Stunden aussehen würde, als wäre sie durch den Schlamm gewatet. Sie setzte sich auf die Bettkante um Socken anzuziehen. Dabei fiel ihr Blick auf die Wand neben ihrem Bett.
Da hing kein Bild! Das war es also, was nicht gestimmt hatte!
Sie versuchte sich an den vollständigen Traum zu erinnern. Aber es fiel ihr nichts mehr ein. Das Einzige was klar und deutlich vor ihr stand, war das Gesicht mit diesen eigentümlich glitzernden braunen Augen. Merkwürdig! Sie überlegte, wo sie es schon einmal gesehen haben könnte. Im Fernsehen? Im Kino? In einer Golfzeitschrift? Auf einem Plakat?
„Wieso sehe ich im Traum ein Gesicht, das mir vollkommen unbekannt ist?”
Ihr Spiegelbild wusste auch keine Antwort. Aber sie war spät dran und musste sich beeilen, um rechtzeitig zum ersten Abschlag zu kommen.
Es war ein herrlicher Nachmittag. Meteorologen pflegten so etwas ‚ruhiges, stilles Herbstwetter‘ zu nennen. Die Sonne ließ sich zwar nicht blicken, aber es war nicht kalt. Eigentlich ideales Golfwetter. Um halb fünf, kurz bevor es dunkel wurde, kamen sie wieder beim Gutshof an.
„Es war toll Alex. Vielleicht klappt es ja in diesem Jahr noch einmal, dann wiederholen wir das Ganze.”
„Aber gerne! Übrigens, morgen werde ich nicht kommen. Ich fahre zur Vorstellung einer neuen Maschine. Also bis übermorgen! Tschüs!”
Sie schaute noch seinem Auto hinterher und ging dann über den Hof zu ihrer Wohnung. Das Knirschen der kleinen Kieselsteine unter ihren Schuhen mit den Spikes wurde durch die hohen Gebäude, die den Hof umgaben, so verstärkt, dass sie unwillkürlich vorsichtiger auftrat, um nicht solchen Lärm zu machen. Sie schaute zum Haupthaus hinüber und blieb überrascht stehen. Im zweiten Stock war einer der hohen Fensterflügel offen. Mittags war ihr das überhaupt nicht aufgefallen.
‚Seltsam, heute geht doch gar kein Wind‘, dachte sie, als sie ihre Haustür aufsperrte. Sie zog andere Schuhe an und ging wieder zurück über den Hof zum Greenkeeper-Büro. Es war zwar nicht ihr Problem, aber Alex würde ja morgen nicht kommen und in der momentanen Jahreszeit konnte man das Fenster auch nicht einfach offenstehen lassen. Nicht einmal in einem alten Gemäuer. Außerdem würde der Fensterflügel vermutlich gegen die Mauer schlagen sobald Wind aufkam und sie müsste sich das Geklapper anhören. Im Büro fand sie tatsächlich einen überdimensionalen Schlüsselbund, von dem sie annahm, dass er zum Gutshaus gehörte. Die Schlüssel sahen allesamt ziemlich antik aus.
Als sie vor der großen, mit verwitterten Schnitzereien verzierten Eingangstür stand, zögerte sie kurz. Aber dann probierte sie die Schlüssel der Reihe nach aus, um den richtigen heraus zu finden. Es bedurfte zwar einiger Anstrengung, ehe sie den passenden Schlüssel im Schloß umdrehen konnte, aber die Tür ließ sich leicht und gänzlich ohne jedes spektakuläre Quietschen öffnen.
‚Hoffentlich gibt es in dem alten Kasten schon elektrisches Licht. Ich habe wahrhaftig keine Lust mit einer Taschenlampe oder einer Kerze durch die Gänge zu geistern‘, schoss es ihr durch den Kopf.
Inzwischen war es draußen schon ziemlich dunkel. Sie tastete mit der Hand an der Wand neben dem Türrahmen entlang. Nach kurzem Suchen stieß sie tatsächlich auf einen reichlich altertümlichen Drehschalter, den sie schwungvoll betätigte. Zwei total verstaubte Wandlampen tauchten die Halle und das Treppenhaus in einen trübes Licht. Neugierig sah sie sich um. Früher einmal musste es traumhaft schön gewesen sein. Selbst in der spärlichen Beleuchtung der beiden verstaubten Lampen konnte man noch die einstige Schönheit der Stuckdecke erahnen, obwohl sie große bräunliche Stockflecken aufwies und an vielen Stellen abgeblättert war. Die Schnitzereien am Treppengeländer waren teilweise zerbrochen. Aber das schwarze, durch die jahrhundertelange Benutzung ganz blank polierte Holz wirkte eigenartiger Weise kein bisschen schäbig oder lächerlich. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als sie die Treppe hinaufging. Sie hatte schon viele Burgen und Schlösser besichtigt, die allesamt hervorragend renoviert waren. Aber immer hatte sie das Gefühl gehabt, als wäre die ganze zu besichtigende Pracht künstlich und unecht. Hier hingegen wirkte alles so gediegen und würdevoll. Wie hatte sich Alex ausgedrückt?
‚...ziemlich heruntergekommen. Nichts Besonderes.‘
Da war sie aber ganz anderer Meinung.
‚Schade, dass es schon so dunkel ist‘, dachte sie und beschloss gleichzeitig am nächsten Tag wieder zu kommen um sich das Alles hier in Ruhe bei Tageslicht anzuschauen. Es gab ja weit und breit keinen Menschen, den sie vorher um Erlaubnis hätte fragen können. Also konnte auch niemand etwas dagegen haben.
Im zweiten Stock überlegte sie kurz, wo sie das offene Fenster gesehen hatte, aber da hörte sie es gegen die Hauswand klappern. Das Geräusch kam aus der rechten Hälfte des Ganges der vom Treppenhaus wegführte. In den Seitengängen schien es kein elektrisches Licht zu geben, aber die Beleuchtung reichte gerade noch aus, um zu sehen wo sie hintrat. Schemenhaft konnte sie an den Wänden die Umrisse von unzähligen Hirschgeweihen und sonstigen Jagdtrophäen erkennen. Es kostete sie einige Mühe und einen abgebrochenen Fingernagel den offenen Fensterflügel wieder zu schließen. Der Rahmen war sehr verzogen. Als sie zur Treppe zurückging, knarrte der abgetretene Parkettboden unter ihren Füßen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie die vornehmen Damen früherer Zeiten wohl diese Treppe hinunter geschritten waren. Ihre rechte Hand legte sie leicht auf das Geländer, mit der Linken hielt sie einen imaginären Reifrock elegant in die Höhe und ging mit zierlichen Trippelschritten sie Stufen hinunter.
„Es ist mir eine Ehre, Sie alle hier als meine Gäste empfangen zu können”, sagte sie huldvoll zu ihren nicht vorhandenen Bewunderern.
Ihre Stimme hallte laut und unnatürlich durch das hohe Treppenhaus. Erschrocken hielt sie sich die Hand vor den Mund, grinste und hüpfte wie ein ertapptes kleines Kind immer zwei Stufen auf einmal nehmend in das Erdgeschoss hinunter.
In dieser Nacht schlief sie ruhig und ungestört wie ein Baby. Eine Stunde früher als sonst wurde Teresa von ihrem Radio geweckt. Obwohl sie üblicherweise eine Langschläferin war, die nicht gern früher als unbedingt notwendig aufstand, hatte sie sich am vorigen Abend spontan entschlossen schon um sieben Uhr anzufangen. So konnte sie am Nachmittag das Schloß in aller Ruhe besichtigen. Die Verbandsmeldung mit dem lästigen Ausfüllen der ganzen Formulare erledigte sie in einem ihr selbst schon unheimlichen Tempo. Überhaupt ging ihr die gesamte Arbeit an diesem Morgen leicht von der Hand.
‚Du benimmst dich wie ein Teenager, der sich auf sein erstes Rendezvous freut.‘
Sie musste über sich selbst lächeln, als sie aufatmend bereits um zwanzig Minuten vor zwölf das Clubhaus verließ. Teresa hatte aber überhaupt kein schlechtes Gewissen. Sie hatte alles erledigt was zu tun war. Im Gegenteil. Dinge, die erst am Monatsende fällig waren, hatte sie auch heute schon abgeschlossen. Sie konnte also ruhigen Gewissens ihre ‚Schlosserforschungs-Expedition‘ starten.
Auch bei Tageslicht bestätigte sich der Eindruck, den sie am Tag zuvor gewonnen hatte. Nein, es war wahrhaftig nicht schäbig. Im Gegenteil. Auf sie wirkte es wie das Gesicht eines alten Menschen, das erst durch viele Falten und Furchen sein würdevolles Aussehen erhielt. Von den Zimmern im Erdgeschoss war sie ein bisschen enttäuscht. Sie waren alle leer, ohne jegliche Möbel. Auch Teppiche und Bilder waren fort. Der Fußboden, ein ehemals herrlich gearbeitetes Parkett, hatte viele häßliche Kratzer und Schrammen, so als seien darauf häufig Möbel hin und her geschoben worden. Vielleicht waren die Räume in neuerer Zeit einmal Zweck entfremdet worden und hatten als Büro herhalten müssen.
Im ersten Stock jedoch war alles so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Die Zeit schien in den Räumen stehen geblieben zu sein. Sie waren alle ähnlich eingerichtet. Jedoch jedes Zimmer in einem anderen Farbton. Die Farben waren zwar im Laufe der langen Zeit verblichen, aber man konnte noch gut erkennen, dass Alles aufeinander abgestimmt worden war. Die Vorhänge auf die seidene Wandbespannung. Die Gobelins auf die Sitzbezüge. Und die Teppiche auf die Deckenmalereien. In einem Raum war alles in einem freundlichen Gelb gehalten. Der nächste war wohl einmal in dunklem Rot eingerichtet worden, jetzt war es zu kräftigem Rosa verblasst. Es gab außerdem noch einen grünen, einen blauen und einen silberfarbenen Salon. Anhand der spärlichen Möblierung konnte man den ursprünglichen Zweck der Zimmer noch erahnen. Speisezimmer, Bibliothek, Rauchsalon, Spiel- und Arbeitszimmer – so zumindest hätte Teresa die einzelnen Räume betitelt. Als sie alle Räumlichkeiten der ersten Etage inspiziert hatte, stieg sie in das zweite Stockwerk hinauf. Wie sie bereits am Abend zuvor festgestellt hatte, waren die Wände der beiden Gänge, die vom Treppenhaus nach links und rechts führten, bis unter die Decke mit Jagdtrophäen geschmückt. Da gab es außer Hirschgeweihen noch präparierte Elch- und Keilerköpfe. Wisente schauten ebenso von ihren hölzernen, geschnitzten Trophäenbrettern auf sie herunter wie Wölfe, Gemsen und Rehböcke.
‚Scheint eine sehr Jagd begeisterte Familie gewesen zu sein‘, dachte sie.
Als sie die Tür am rechten Ende des Flurs öffnete, versuchte sie zu raten, welcher Raum sich wohl hier befand. Sie tippte ja auf ein Gästezimmer. Erwartungsvoll streckte sie den Kopf durch die Tür. Falsch! Sie befand sich wieder in einem langen Gang, der sich offensichtlich über die gesamte Länge der Ostseite des Hauses erstreckte. Durch die vielen hohen Fenster war es hier heller als in den Räumen, die sie bisher gesehen hatte. An der rechten Wand hingen Bilder.
„Sieh mal einer an, die Ahnengalerie!“, murmelte sie vor sich hin.
Die ganze Palette adeliger Urahnen war hier versammelt. Männer in Orden gespickten Uniformen oder weißen Kniehosen und Puderperücken standen in Lebensgröße in aufwendig geschnitzten Bilderrahmen. Die Frauen trugen wahlweise weite Rokokoroben oder streng taillierte Reitkleider. Gemeinsam war ihnen Allen der überaus strenge und freudlose Blick.
„Na, ihr hattet wohl nicht sehr viel zu lachen.”
Schmunzelnd ging sie an den einzelnen Bildern entlang und musterte sie gründlich. Bei den meisten war unten am Bilderrahmen ein Messingtäfelchen mit dem Namen und dem Geburts- und Sterbejahr angebracht. Sie machte sich einen Spaß daraus für diejenigen, an deren Rahmen sich keine Tafel befand, einen Namen zu erfinden. Eine überaus füllige, streng blickende Dame auf dem Bild vor ihr sah sehr herablassend auf sie herab.
„Ich glaube du siehst nach Mathilde aus. Ja! Das scheint mir doch ein sehr passender Name für dich zu sein.”
Mathilde äußerte sich nicht zu ihrem Vorschlag, sah aber womöglich noch missbilligender drein. Der Mann auf dem Bild daneben hieß Friedrich August. Auch er sah ziemlich säuerlich aus.
„Ist das dein Ehemann?”, fragte sie Mathilde. „Jetzt verstehe ich warum du so verdrießlich aussiehst. Mit so einem Mann war das Leben bestimmt nicht sehr witzig.”
Neben Friedrich August hing wieder das Bild einer Frau. Sie war die hübscheste von den Frauen, die sie bisher in der Galerie gesehen hatte. Eine richtige Schönheit! Das eng taillierte schwarze Reitkleid ließ erkennen, dass sie im Gegensatz zu den anderen Matronen eine ausgezeichnete Figur gehabt hatte. Sie trug einen schwarzen Hut mit langen weißen Straußenfedern und um ihren Mund spielte sogar ein kleines Lächeln.
‚Elena Fürstin von Maybach-Berghof, geb. Gräfin von Gerona‘ stand auf der kleinen Tafel.
„Aha, du bist nicht von hier. Deshalb schaust du so viel hübscher aus als deine angeheiratete Verwandtschaft.”
Unvermittelt fing Teresa schallend zu lachen an.
„Jetzt unterhalte ich mich schon mit Bildern. Gut dass es niemand hören kann, sonst würde man mich in die Klapsmühle stecken.”
Auf dem nächsten Bilderrahmen war wieder kein Namensschild. Im Augenwinkel konnte sie dunkelbraune Stiefel erkennen.
„Ich weiß, du bist sicher Maximilian, der schneidige Ehemann von Elena!”
Erwartungsvoll schweifte ihr Blick nach oben. Hellbraune Reithosen, ein weißes Hemd, dunkle Haare, braune Augen.
Braune Augen! Es war das Gesicht aus ihrem Traum! Kein Zweifel war möglich! Der gleiche spöttische Blick! Das Glitzern in den Augen! Ungläubig starrte sie auf das Bild des Mannes. Er war ihr völlig unbekannt und doch hatte sie ihn im Traum gesehen.
„Wer um alles in der Welt bist du?“ Teresas Stimme klang ein wenig heiser. Sie hatte einen richtigen Frosch im Hals.
„Auf jeden Fall ist mein Name nicht Maximilian. Was für eine absurde Idee!”
Mit einem spitzen Schrei fuhr Teresa herum. Der Mann stand vor ihr! Keine drei Meter von ihr entfernt! Genau wie auf dem Bild! Dieselbe Kleidung! Dasselbe spöttische Lächeln auf den Lippen! Dasselbe Funkeln in den braunen Augen!
‚In einem Kinofilm müsstest du jetzt das Tablett fallen lassen und schreiend davon laufen oder zumindest stilvoll in Ohnmacht sinken.‘
Wie in Zeitlupe tröpfelten die Gedanken durch ihren Kopf. Aber Teresa tat weder das Eine noch das Andere. Sie trug ja auch kein Tablett mit sich herum. Alles was sie tat war, ihn mit offenem Mund anstarren.
„Es tut mir furchtbar leid, wenn ich Euch erschreckt haben sollte. Aber ich konnte Euch doch nicht in dem Glauben belassen, mein Name sei Maximilian.”
Es war kein Irrtum möglich. Er redete mit ihr. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte es aber erst nach einigen Anläufen fertig, Worte zu formen.
„Was für ein kranker Scherz soll das denn sein? Wer sind Sie? Was tun Sie hier?”
„Oh entschuldigt mein überaus ungebührliches Verhalten. Aber es kommen heutzutage so selten Menschen hierher. Ich bin etwas aus der Übung, was die Etikette betrifft. Da keine Euch bekannte Person anwesend ist, die mich vorstellen könnte, werde ich das ausnahmsweise selbst übernehmen. Auch wenn ich zugeben muss, dass dies in höchstem Maße unpassend ist. Mein Name ist Antonio José Emilio Sebastiano Friedrich August Henrik Graf von Gerona Fürst von Maybach-Berghof.”
Eine überaus schwungvolle, elegante Verbeugung folgte dieser, mit einer tiefen, weichen Stimme vorgetragenen Vorstellung. Sie schloß die Augen ganz fest. ‚Ich bilde mir das alles nur ein. Wenn ich die Augen aufmache ist er sicher wieder weg.‘
„Fühlt Ihr Euch nicht wohl? Wollt Ihr Eure Zofe rufen?”
Ganz vorsichtig öffnete Teresa die Augen nur einen winzig kleinen Spalt. Nein, er war nicht fort. Im Gegenteil, er war einige Schritte nähergekommen und seine Augen hatten sogar einen leicht besorgten Ausdruck angenommen. Wenn sie sich später an diesen Augenblick zurück erinnerte, wunderte sie sich immer vor allem über eines: Seltsamerweise hatte sie sich niemals auch nur einen Moment lang gefürchtet. Sie konnte nicht sagen warum, aber sie empfand keine Angst. Vielleicht lag es daran, dass es heller Tag war. Vielleicht lag es aber auch an seinen Augen. Ja, das musste es sein! Diese braunen Augen, die auch im Tageslicht den leicht grünen Schimmer hatten. Ihr wurde bewusst, dass sie ihn immer noch anstarrte. Er hatte doch mit ihr gesprochen. Richtig! Er hatte ihr seinen Namen genannt.
‚Fürst von Maybach-Berghof!‘
Jetzt wurde ihr Einiges klar. Ihm gehörte das Alles hier. Er war der Besitzer. Komisch war nur, dass sie ihn nicht hatte hereinkommen hören. Auch seine Kleidung war etwas extravagant. Sie versuchte ihrer Stimme einen möglichst normalen Klang zu verleihen als sie ihn ansprach:
„Sie haben eine außergewöhnliche Ähnlichkeit mit Ihrem Vorfahren.”
Erwartungsvoll sah sie ihn an.
Er runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht so recht was Ihr meint.”
„Sie müssen doch zugeben, dass Ihnen der Mann auf diesem Bild ziemlich ähnlich sieht.”
„Tut mir leid, ich kann Euch nicht ganz folgen.” Er runzelte die Stirn.
„Okay. Ganz langsam. Dieses Schloß gehört Ihnen. Richtig?”
„In einem gewissen Sinn, ja”, kam prompt die Anwort aus seinem Mund.
„Gut! Und Sie haben Ähnlichkeit mit dem Mann auf dem Bild, der ja offensichtlich einer Ihrer Vorfahren ist.” Zustimmung heischend blickte sie ihn an.
Stirnrunzelnd betrachtete er das Bild, dann wendete er sich wieder Teresa zu.
„Ich wusste es! Man hätte diesem dilettantischen italienischen Pinsler das geforderte Honorar nicht auszahlen sollen! Auch ich bin der Meinung, dieses Porträt ist nicht allzu gut gelungen. Die Ähnlichkeit ist einfach nicht groß genug.”
Jetzt war es an ihr, ihn verständnislos anzustarren.
„Was meinen Sie damit? Wer ist der Mann auf dem Bild?”
Er musterte sie höchst irritiert. Sie kam ihm vor, wie ein kleines Kind, das von Nichts, aber auch gar nichts eine Ahnung hat. Mit einer ausladenden Geste zeigte er auf das Bild.
„Dies, meine verehrte Unbekannte, soll ein Abbild meiner Person darstellen. Gemalt im Jahr des Herrn 1769. Fertiggestellt drei Wochen vor meinem Tod. Ich bin, wie ich Euch bereits gesagt habe Antonio José Emilio Sebastiano Friedrich August Henrik Graf von Gerona, Fürst von Maybach-Berghof, geboren am 14. Juni 1742 auf dem Schloß meiner Mutter in Spanien, gestorben am 5. August 1769 ungefähr an der Stelle, wo sich jetzt das vierzehnte Grün Eures Golfplatzes befindet.”
Das war zuviel für Teresa. In ihrem Kopf drehte sich Alles und ihre Knie wurden weich. Sie schaffte es gerade noch bis zu einer Fensternische. Hätte sie sich nicht am Fensterknauf festgeklammert, wäre sie tatsächlich umgekippt.
„Ihr solltet Euch ausruhen. Ihr seht ein wenig blass aus.”
Er stand jetzt dicht neben ihr, aber seine Stimme drang kaum bis zu ihr durch.
Die Gedanken rasten durch ihren Kopf, so als wollten sie Fangen spielen.
„Er ist tot! Seit mehr als zweihundert Jahren! Aber wieso kann ich ihn dann sehen und mit ihm sprechen?”
Ohne dass es ihr selbst bewusst war, hatte sie laut gesprochen.
Der Mann neben ihr zuckte leicht zusammen. Das Leuchten verschwand aus seinen Augen. Sie konnte noch kurz seinen niedergeschlagenem Blick erhaschen, ehe er traurig den Kopf hängen ließ. Obwohl er nur eine Armeslänge von ihr entfernt stand, verschwammen plötzlich seine Umrisse. Es war so, als würde er in einem dichten Nebel verschwinden. Seine Konturen waren nur noch undeutlich zu sehen. Er hatte den Kopf wieder gehoben. Das Letzte, was sie von ihm sah waren seine Augen. Dann war er verschwunden. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie ihren Blick von der Stelle losreißen konnte.
„Es kann nicht sein! Ich habe das nur geträumt!”, flüsterte Teresa.
Sie sah aus dem Fenster. Die Spielbahnen des Golfplatzes lagen genauso friedlich da wie immer. Auch die Bäume am Horizont hatten sich nicht verändert. Sie drehte sich um. Aber es war kein Zweifel möglich. Der Mann mit dem sie gesprochen hatte und der Mann auf dem Bild waren ein und dieselbe Person. Was hatte er gesagt? Krampfhaft versuchte sie sich an seine Worte zu erinnern.
‚Geboren 1742, gestorben 1769.‘ Siebenundzwanzig Jahre. So ungefähr hätte sie auch das Alter des Mannes auf dem Bild geschätzt.
‚Antonio Graf von Gerona Fürst von Maybach-Berghof‘. An die anderen Vornamen konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie schüttelte den Kopf. Es war unmöglich! Sie warf einen letzten Blick auf das Gemälde und verließ dann die Bildergalerie. Die Treppen rannte sie so schnell hinunter, dass sie einige Male fast gestürzt wäre. Sie warf das große Hauptportal mit einem lauten Knall hinter sich zu und versperrt die Tür. Den Hof überquerte sie, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Erst als sie ihre eigene Türe hinter sich geschlossen hatte, konnte sie wieder aufatmen. Auf dem Wohnzimmertisch stand die Cognac Flasche. Sie schnappte sich ein Glas und ließ sich auf das Sofa plumpsen. Nach zwei Gläsern fühlte sie sich deutlich besser. Und nach einem weiteren großen Schluck war sie wieder in der Lage richtig zu denken. Eines war auf jeden Fall klar: Sie hatte nicht geträumt! Sie war weder alt, noch senil, noch hatte sie jemals hysterische Anwandlungen gehabt. Nach zwei weiteren Gläsern Cognac, kam sie dem Rätsel endlich auf die Spur.
„Ist doch klar altes Mädchen, du wohnst hier nicht allein. Du teilst das schnuckelige Anwesen mit einem Hausgeist!” Zufrieden kicherte sie vor sich hin.
Dass sie darauf nicht schon früher gekommen war! Unverzüglich leerte sie noch ein weiteres Glas um diese weise Erkenntnis auch gebührend zu begießen. Als sie die Flasche bis auf einen kleinen Schluck geleert hatte, war es selbstverständlichste Sache der Welt, einen Hausgeist zu kennen. Was sie noch nicht ganz verstand, war die Tatsache, dass er am helllichten Tag herumlief, anstatt um Mitternacht mit grauslichem Gestöhn durch die Gänge zu schleichen und mit Ketten zu rasseln. Aber obwohl sie auch noch die allerletzten Tropfen Cognac aus der Flasche heraus kitzelte, kam sie der Lösung dieses Problems kein bisschen näher. Teresa runzelte die Stirn und versuchte angestrengt sich zu konzentrieren. Vergebens. Es gab keine plausible Erklärung.
„Danach muss ich ihn unbedingt fragen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe“, lallte sie schließlich halblaut vor sich hin. Da sie mit einem Mal schrecklich müde war, stand sie auf um ins Bett zu gehen. Mit viel Konzentration schaffte sie es den Weg in das Schlafzimmer zu bewältigen ohne hinzufallen. Nachdem sie sich das Knie am Schrank und den Kopf am Türrahmen gestoßen hatte, fiel sie auf ihr Bett und schlief den Schlaf der Gerechten.