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Das Abenteuer beginnt

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Sie beugte sich nach vorn und stützte den Ellenbogen auf ihr Knie. Das Kinn ruhte in ihrer Handfläche. Wenn sie den Kopf ganz nach rechts legte und dabei das linke Auge zukniff, hatte sie den Tassenrand genau in ihrem Blickfeld. Gleich war es wieder so weit! In der Dünung des Ozeans neigte sich das Schiff und der Inhalt näherte sich bedenklich dem Tassenrand. Diesmal würde der Tee bestimmt überschwappen. „Marie-Helene, nimm bitte eine aufrechte Haltung ein. Es sieht unmöglich aus! Möchtest du später einmal einen Buckel bekommen wie eine alte Katze?“ Die schrille Stimme ihrer Mutter ließ sie kurz zusammenzucken. Da war es auch schon geschehen! In der Untertasse hatte sich eine kleine Pfütze gebildet und sie hatte den Moment, in dem es passierte, wieder verpasst. Sie waren jetzt schon seit Wochen auf diesem Schiff. Keine Teestunde war seither vergangen, in der nicht mindestens einmal der Tee übergeschwappt war und sie hatte es noch kein einziges Mal geschafft, diesen Augenblick zu beobachten. Mit einem Seufzer setzte sie sich aufrecht hin. Ein schelmisches Grinsen huschte über ihr Gesicht, als sie die Teetasse mit der linken Hand hochhob, die Untertasse mit der rechten an ihre Lippen hielt und deutlich hörbar leer schlürfte. „Marie-Helene!“ Die Stimme ihrer Mutter überschlug sich. „Lass auf der Stelle diesen Unsinn! Du bist unerträglich.“ Besorgt blickte ihre Mutter nach links und rechts und vergewisserte sich, dass niemand das ungebührliche Benehmen ihrer Tochter bemerkt hatte. „Aber der Tee ist immer so heiß. Wenn ich ihn aus der Tasse trinke verbrenne ich mir jedes Mal die Zunge“, verteidigte sich das Mädchen. „Großmama hat ihren Kaffee auch immer so getrunken“, fügte sie noch trotzig hinzu um ihrem Argument mehr Gewicht zu verleihen. Ihre Mutter hob die vergoldete Lorgnette über die Nase und sah sie höchst missbilligend an. „Du redest wirres Zeug, mein Kind. Du weißt ebenso gut wie ich, dass Grandmère - Gott sei ihrer armen Seele gnädig! - so etwas niemals in der Öffentlichkeit getan hat. So und jetzt benimm dich bitte wie es sich für eine junge Dame geziemt. Und öffne um Himmels willen deinen Parasol, sonst bekommst du wieder diese fürchterlichen Sommersprossen auf der Nase wie im vergangenen Sommer. Es reicht schon, dass du so unanständig braun bist wie eine Bauernmagd.“ Nur äußerst widerwillig öffnete Marie-Helene den verhassten Sonnenschirm. Von je her hatte sie es als albern empfunden immer mit dem rüschenverzierten Schirmchen aus weißer Spitze herumlaufen zu müssen. Man konnte sich nie richtig bewegen. Immer wurde man durch das dumme Ding gestört. Andauernd stieß sie mit anderen Leuten zusammen. Sie verhedderte sich in ihren eigenen, oder was noch viel schlimmer war, in den Haaren fremder Frauen, die sich dann unter hysterischem Gekreische bei ihrer Mutter über ihr unmögliches Benehmen beschwerten. Brav hielt sie das Schirmchen in der Linken, fasste die Teetasse mit Daumen und Zeigefinger der Rechten, selbstverständlich ohne dabei die restlichen Finger ungebührlich weit abzuspreizen, und führte die Tasse möglichst anmutig an die Lippen. Kein Geräusch durfte dabei entstehen. Die Schlückchen durften nicht zu groß sein und die Tasse nicht zu hastig an den Mund geführt werden. Oh ja! Sie verabscheute die Teezeremonie von ganzem Herzen. Endlich war die Tasse leer. „Bitte, Frau Mama, darf ich aufstehen?“ Ihre Mutter legte großen Wert darauf von ihrer Tochter mit Frau Mama angeredet zu werden. Hierbei durfte niemals versäumt werden ‚Mama‘ auf der zweiten Silbe zu betonen, da dies französisch und somit vornehmer klang. Ihrem Vater, als preußischem Beamten durch und durch, war alles Französische verhasst. Aber ihre Mutter hatte ein Faible für alles, was sich jenseits des Rheins abspielte. Wann immer sie konnte, bei jeder passenden oder auch unpassenden Gelegenheit, verwendete Elisabeth Augustine Wilhelmine Freiin von Schlingenhard, Gattin des zweiten Direktors der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft und von ihrer gesamten Dienerschaft stets als ‚Madame de Slingenard‘ angesprochen, französische Redewendungen und Ausdrücke. „Gerne, liebes Kind“, nickte ihre Mutter huldvoll, neigte den Kopf leicht zur Seite und hielt ihrer Tochter die rechte Wange hin. Marie-Helene gab ihrer Mutter einen leichten Kuss und knickste artig, ehe sie sich zum Gehen wandte. „Achte auf die Sonne! Beuge dich nicht über die Reling! Halte stets deine Röcke fest! Und dass du mir ja nicht wieder mit den Matrosen kokettierst!“, gab Madame de Slingenard ihrer Tochter mit auf den Weg. Seit sie das Schiff betreten hatte, bekam Marie-Helene diese Ermahnungen Tag für Tag zu hören. Morgens, mittags, abends und zwischendurch selbstverständlich ebenfalls. „Denke stets daran: Du bist eine junge Dame, Marie-Helene!“, äffte sie ihre Mutter leise nach und verzog das Gesicht zu den schrecklichsten Grimassen. Oh, wie sehr sie es doch hasste eine junge Dame zu sein! Damen durften niemals auch nur den allerkleinsten Spaß haben. Sie durften nicht rennen, nicht schreien, nicht pfeifen, nicht fluchen, nicht spucken und auch nicht auf Bäume klettern. Und sie durften unter gar keinen Umständen rittlings auf einem Pferd sitzen. Stattdessen mussten sie diesen albernen Damensattel benutzen und stets darauf achten, dass selbst im wildesten Galopp die Knöchel züchtig vom Reitkleid bedeckt blieben. „Hallo Nene!“, tönte es von oben. Marie-Helene legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zur Takelage. Ihr großer Bruder Wilhelm, benannt nach dem deutschen Kaiser - Möge Gott ihm ein langes Leben schenken! -, kletterte in den Wanten herum. Sie seufzte leise vor sich hin. Wie sehr sie ihre beiden Brüder doch beneidete! Sowohl Wilhelm, mit seinen sechzehn Jahren der Älteste und somit der ganze Stolz seines Vater, als auch den kleinen elfjährigen Heinrich. Seit die ‚Kläre Auguste‘ den Hamburger Hafen verlassen hatte, tobten sie von morgens bis abends über das Schiff. Vom untersten Laderaum bis hinauf in den Ausguck. Ihrem Bewegungsdrang waren keine Grenzen gesetzt. In der ersten Woche hatte ihre Mutter noch versucht sie in Zaum zu halten. Sie mussten ordentliche Kleidung tragen. Pünktlich zu allen gemeinsamen Mahlzeiten erscheinen, immer adrett gekleidet und gewaschen. Und sie mussten am Unterricht teilnehmen, den Pastor Rieflein jeden Nachmittag für die drei Kinder abhielt. Aber bereits in der zweiten Woche konnte Madame de Slingenard ihre beiden Söhne nicht mehr bändigen. Die beiden Brüder besorgten sich heimlich Matrosenkleidung, die sie ab sofort täglich trugen. Sie kamen und gingen wie es ihnen beliebte. Weder das gemeinsame Mittagessen noch die nachmittägliche Teestunde interessierte die beiden noch. Ganz zu schweigen von den täglichen Unterrichtsstunden. „Schau mal Nene!“, rief ihr Wilhelm von oben zu. Er hielt sich nur mit einer Hand fest, lehnte sich weit nach außen und streckte den rechten Arm in die Luft. „Ich kann fliegen! Komm doch herauf und versuch es auch einmal. Du kannst deine Unterröcke ja als Fallschirm benutzen!“ Wieder sah Marie-Helene nach oben. „Blödmann!“, schrie sie zornig und streckte ihrem Bruder die Zunge heraus. Wilhelm hatte ein blau-weiß geringeltes, kurzärmliges Hemd an, wie die Matrosen des Schiffes, und trug dazu weite, wadenlange, weiße Hosen. Und er war barfuß! Niedergeschlagen und missmutig betrachtete sie ihre eigene Kleidung. Ein eng anliegendes, Rüschen besetztes Kleid mit langen Ärmeln und einem Stehkragen, der es ihr kaum erlaubte den Kopf so weit zu senken, dass sie die Spitzen der schwarzen Schnürstiefel sehen konnte, die unter dem Saum des knöchellangen Kleides herauslugten. Damit jedoch noch nicht genug. Unter dem Kleid trug sie Strümpfe, die oberhalb der Knie von breiten Strumpfbändern aus Gummi gehalten wurden. Sie hätte sich aber die Strümpfe eigentlich auch sparen können, weil die Beine der baumwollenen Rüschenunterhose bis zur Oberkante der Stiefel reichten. Und obwohl es mittlerweile jeden Tag über fünfundzwanzig Grad hatte, musste sie unter ihrem Kleid selbstverständlich auch noch ein Unterhemd tragen, ebenfalls aus schöner, warmer Baumwolle und darüber dieses ekelhafte, ihr aufs Äußerste verhasste Korsett. Sie konnte sich noch genau an ihren dreizehnten Geburtstag erinnern, als ihre Mutter am Morgen in ihr Zimmer gekommen war und voll mütterlichem Stolz ihrer Tochter das erste Korsett präsentiert hatte. ‚Jetzt bist du wirklich und wahrhaftig eine junge Dame‘, hatte sie gesagt und sich ganz gerührt eine Träne aus dem Augenwinkel getupft. In den ersten Tagen fand Marie-Helene das neue Kleidungsstück ja auch noch richtig spannend. Wohlgefällig betrachtete sie jeden Morgen vor dem Spiegel ihre schlanke Taille und ihren Busen, der sich jetzt viel deutlicher als früher, unter den Falten ihres Kleides abzeichnete. Aber bereits nach kurzer Zeit war die anfängliche Begeisterung über ihre frauliche Figur verflogen und die Nachteile des Korsetts machten ihr das Leben schwer. Beim Sitzen, beim Aufstehen, beim Essen, beim Reiten - selbst mit dem albernen Damensattel -, beim Husten und Niesen, beim Treppensteigen, ja sogar beim Benutzen des Nachtgeschirrs, überall wurde sie von dem störrischen Teil behindert. Marie-Helene lehnte sich an die Reling und stieß wieder einen tiefen Seufzer aus. Nein, das Leben als Dame machte wahrhaftig keinen Spaß! Seit sie auf dem Schiff war, wünschte sie sich inständig immer und immer wieder ein Junge zu sein. Sie musste bei Pastor Rieflein lateinische und griechische Vokabeln pauken und sich mit dem Katechismus abplagen, während ihre Brüder im Laderaum Verstecken spielten. Sie musste jeden Tag beim Teezeremoniell die Standpauken ihrer Mutter über sich ergehen lassen, während Wilhelm und Heinrich mit den Matrosen lachten, aßen, fluchten und spukten. Erst vor zwei Tagen hatte sie den kleinen Heinrich dabei erwischt, wie er vollkommen grün im Gesicht über der Reling hing und die Fische fütterte, weil ihm ein Matrose Kautabak geschenkt hatte und er ihn natürlich sofort ausprobieren musste. Wilhelm stand daneben, kaute genüßlich an einem Priem und spukte gewaltige Fladen des bräunlich gelben Breis ins Meer. Als sie ihren Bruder auch um ein Stückchen Kautabak bat, fing dieser schallend zu lachen an und meinte nur abfällig: „Nene, mach dich nicht lächerlich. Kautabak ist nur etwas für richtige Männer.“ Daraufhin versetzte ihm Marie-Helene einen derben Stoß. Wilhelm erschrak und schluckte den Kautabak hinunter. Kurze Zeit später hing auch dieser hoffnungsvolle Sprößling des Hauses von Schlingenhard, benannt nach dem deutschen Kaiser - Möge Gott ihm ein langes Leben schenken! -, und ganzer Stolz seines Vaters, mit grünlichem Gesicht neben seinem kleinen Bruder über der Reling und versuchte verzweifelt das wieder loszuwerden, was seiner eigenen Aussage nach einen richtigen Mann ausmachte. Sie starrte auf die tintenblaue Wasserfläche, die sich vor ihren Augen bis zum Horizont ausbreitete. Gedankenverloren drehte sie den mit Schnitzereien verzierten Elfenbeingriff ihres Sonnenschirmchens zwischen den Handflächen. Sie versprach sich so unendlich viel von dieser Reise ans andere Ende der Welt. Vielleicht würde sich ja ihr Leben in der neuen Heimat ändern. Vielleicht würden sich die starren Regeln, die für das Verhalten einer wohlerzogenen jungen Dame aus gutem Haus unabdingbar waren, mit der Zeit aufweichen lassen. Vielleicht hatte sie dann auch die Möglichkeit sich ab und zu von den Unterrichtseinheiten davon zu stehlen, wie es jetzt ihre Brüder andauernd taten. Vielleicht durfte sie dann auch legere Kleidung tragen. Vielleicht konnte sie sogar das scheußliche Korsett im Schrank lassen. Vielleicht gab es ja dort keine nachmittäglichen Teestunden und keine gräßlich langweiligen Einladungen bei anderen wohlerzogenen Damen mit denen man elegante Konversation pflegen und die neuerworbenen Französischkenntnisse unter Beweis stellen musste. Vielleicht gelang es ihr ja diesem schrecklich einengenden Gefängnis ihres bisherigen Lebens zu entkommen. Ja, vielleicht! Ihre Gedanken wanderten zurück zu jenem denkwürdigen Tag im vergangenen September, als ihr Vater mit der überwältigenden Neuigkeit nach Hause gekommen war. Ihre Mutter schrieb gerade einen Brief an Frau von Berlitz, die das angesehenste Mädchenpensionat in Hamburg leitete. Marie-Helene sollte diese Einrichtung ab Januar besuchen und Madame de Slingenard wollte in dem Schreiben um die Aufnahme ihrer Tochter in das berühmte Höhere Töchter Institut bitten. Friedrich August Freiherr von Schlingenhard nahm seiner Frau die Feder aus der Hand, zog sie in die Höhe, fasste sie um die Taille, hob sie hoch und wirbelte sie im Kreis herum. „Betty, ach Betty! Ich habe es geschafft. Ach meine Herzensbetty!“, rief er ein ums andere Mal, küsste seine Frau immer wieder auf den Mund und drehte sich wie ein Besessener mit ihr im Kreis. Ihre Mutter, die nichts so sehr hasste wie diese vertrauliche Anrede in aller Öffentlichkeit, kreischte erbost: „Friedrich August! Du vergissest dich! Lass mich auf der Stelle los!“ Ihr Vater stellte seine Frau schließlich wieder auf den dicken roten Teppich und sah belustigt zu wie sie ihr derangiertes Äußeres wieder in Ordnung brachte. „Was um Himmels Willen ist denn in dich gefahren?“ Madame de Slingenard hatte die eine Hand in die Hüfte gestützt und mit der anderen hielt sie sich die unvermeidliche Lorgnette über die Nase. Mit zusammengekniffenen Lippen und stark gerunzelter Stirn sah sie ihren Gatten Antwort heischend an. Ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht, erzählte Freiherr von Schlingenhard, dass er von der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft mit der Leitung der Niederlassung in Deutsch-Samoa betraut worden war. Im Januar sollte er seinen Dienst dort antreten und im März würde dann der Rest der Familie nachkommen. In den folgenden Wochen kam es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Ehegatten. Madame de Slingenard war nur sehr schwer von den enormen Vorteilen zu überzeugen, die dieses Amt für das berufliche Vorwärtskommen ihres Mannes bedeutete. Erst das Wissen, dass der Leiter der Niederlassung vom Status her quasi dem Gouverneur gleichgestellt, ja in manchen Angelegenheiten diesem sogar übergeordnet war, ließ das Ganze auf einmal in einem völlig neuen Licht erscheinen. Von diesem Zeitpunkt an ergriff Madame de Slingenard jede Gelegenheit, ihrem Bekanntenkreis die glänzende Zukunft der Familie Derer-von-Schlingenhard in den leuchtendsten Farben zu schildern. Marie-Helene hatte am Anfang eigentlich gar keine Meinung zu dieser überraschenden und so völlig unerwarteten Entwicklung. Sie war einfach nur froh, dass ihr auf diese Weise der Aufenthalt im Pensionat erspart blieb. Denn Viktoria von Berlitz stand in dem Ruf ein grimmiger, halsstarriger, unausstehlicher Drachen, mit unübersehbar diktatorischen Zügen zu sein. Von Pastor Rieflein ließ sie sich auf dem Globus die neue Heimat zeigen. Es war ein winziger schwarzer Punkt mitten im Blau des Stillen Ozeans, der mit dem bloßen Auge kaum zu erkennen war. Mit zusammengekniffenen Augen suchte Marie-Helene den Horizont ab. Kapitän Gustafsson hatte ihnen heute beim Frühstück erzählt, sie würden in den nächsten Tagen in den Hafen von Apia einlaufen und dass sie den charakteristischen Gipfel des Berges mit dem lustigen Namen Fito schon aus weiter Ferne erkennen würden. In den vergangenen Wochen waren sie an zahllosen Inseln vorbeigesegelt. Manche von ihnen waren nicht größer gewesen als die ‚Kläre-Auguste‘. Pastor Rieflein hatte ihr die flachen, palmenbewachsenen Atolle gezeigt, die sich kaum mehr als ein oder zwei Meter über die Meeresoberfläche erhoben. Es waren aber auch steil aufragende Berge zu sehen gewesen, überzogen von einem dichten grünen Pflanzenteppich. Vulkanischen Ursprungs seien diese Inseln, hatte er ihr erzählt, und dass es im Pazifischen Ozean auch noch unzählig viele tätige Vulkane gäbe. Sie musste an ihr Naturkundebuch denken, in dem sie von dem verheerenden Vulkanausbruch vor noch nicht einmal zwanzig Jahren gelesen hatte. Die ganze Insel Krakatau war in die Luft geflogen. Die Vulkanasche war achtzig Kilometer hoch in den Himmel geschleudert worden und in Europa mit dem Regen wieder zur Erde zurückgekommen. Als sie damals ganz fasziniert die Zeichnungen in ihrem Schulbuch betrachtet hatte, wäre es ihr nie im Traum eingefallen, sie könnte jemals im Leben Vulkaninseln zu Gesicht bekommen. Auch in ihrer neuen Heimat sollte es ja Feuerberge geben, so hatte zumindest der Pastor gesagt. Sie fing zu kichern an, als sie daran zurückdachte wie puterrot der Rieflein geworden war als sie ihn gefragt hatte ob es stimmte, dass die Einwohner in Samoa alle nackt herum liefen. Er hatte dies entschieden verneint und betont, die Missionare würden schon dafür sorgen, dass sich die Wilden anständig kleideten. Sie sah wieder über das Meer und stellte sich vor, wie es wäre in einem Bastrock, einem Oberteil aus halben Kokosnussschalen und einer Blumenkette um den Hals mit nackten Füßen über den weißen Sand eines Palmen gesäumten Strandes zu gehen. „Ach wäre das schön“, murmelte sie vor sich hin. Marie-Helene runzelte die Stirn. Warum eigentlich nicht? Sie straffte ihre Schultern, hob den Kopf und streckte ihr Kinn ein wenig nach vorn. Ein entschlossener Ausdruck ließ ihre Augen funkeln und sie nickte zur Bekräftigung. Jawohl! Sie würde für ihre Freiheit kämpfen! Warum sollten nur ihre Brüder in den Genuss eines freien Lebens kommen, fern aller Zwänge und Konventionen? Sie wusste, sie würde sehr diplomatisch vorgehen müssen um ihre Mutter und Pastor Rieflein zu überlisten. Auf keinen Fall durfte sie eine Revolution anzetteln. Langsam und unauffällig, Schritt für Schritt würde sie sich immer mehr Freiraum verschaffen. Und sie musste ihren Vater für ihre Zwecke mit einspannen. Er liebte sie heiß und innig und wenn sie wollte, konnte sie ihn mit Leichtigkeit um den kleinen Finger wickeln. Er war zwar ein aufrechter Mann, der stets danach trachtete das Richtige zu tun und jeden seiner Schritte hundertmal im Voraus zu überdenken, aber er hatte nicht diesen Faible für überkorrektes und gesellschaftlich einwandfreies Benehmen, dem ihre Mutter so huldigte. Es war immer wieder vorgekommen, dass er sich während einer Gesellschaft zu seiner Tochter heruntergebeugt und ihr alberne Bemerkungen über irgendeine unmögliche Freundin seiner Frau ins Ohr geflüstert hatte. Wenn Marie-Helene dann laut prustend versuchte das Lachen zu unterdrücken, was stets einen bitterbösen Blick ihrer Mutter zur Folge hatte, schenkte er seiner Frau seinen unschuldigsten Dackelblick und zwinkerte aber gleichzeitig seiner Tochter mit verschwörerischer Miene und einem schelmischen Grinsen zu. Marie-Helene war sicher, auf die Unterstützung ihres Vaters zählen zu können. Sie musste es nur richtig anfangen. Wieder suchten ihre Augen ungeduldig den Horizont ab. Sie konnte es kaum erwarten endlich nach Samoa zu kommen. Dort würde alles anders werden. Dort würde für sie ein neues Leben anfangen. Das wusste sie ganz genau.

Paradies im Mondlicht

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