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Alles beim Alten

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Eine dicke grün schimmernde Schmeißfliege krabbelte an der weißen Säule des Terrassengeländers nach oben. Marie-Helene beobachtete gespannt, wie sie sich langsam aber stetig dem kleinen Gecko näherte, der geduldig auf der anderen Seite der gedrechselten Säule auf seine Beute wartete. Eine blitzartige Bewegung des kleinen Jägers, die Zunge schnellte in einem Bruchteil einer Sekunde nach vorn und die Fliege verschwand im Maul des Geckos. Wenn Marie-Helene genau hinhörte, konnte sie sogar das genüssliche Schmatzen der kleinen Echse hören. „Marie-Helene! Hör auf zu träumen. Frau von Schwenger hat dich etwas gefragt.“ Die vorwurfsvolle Stimme ihrer Mutter riss Marie-Helene aus ihrer Betrachtung. Der kleine Gecko verschwand und das leise Rascheln des Laubs verriet ihr, dass er sich im dichten Gebüsch in Sicherheit gebracht hatte. Ach wie gerne hätte sich Marie-Helene ebenfalls in den Büschen versteckt! Mit einem kaum hörbaren Seufzer wendete sie sich wieder der dicken Matrone zu, die wie eine fette, aufgeblasene Truthenne auf dem Stuhl neben ihr saß. „Pastor Rieflein sagt, er sei mit meinem Klavierspiel sehr zufrieden und meine Fortschritte seien ganz beachtlich. Besonders meine Bach-Kantaten hätten es ihm angetan. Er meinte kürzlich, ich könnte beim Nachmittagstee des Nähkränzchens einige meiner neu erlernten Stücke vortragen.“ Marie-Helene lächelte artig und nippte gekonnt an ihrem Tee. „Was für eine reizende Idee!“ rief Marianne von Schwenger, die Säule des gesellschaftlichen Lebens der deutschen Kolonie, voll Begeisterung. „Die Damen des Kränzchens werden entzückt sein.“ Sie fächelte sich mit einem großen weißen Spitzenfächer unablässig Luft zu. Aber außer dass sich einige feine Strähnchen aus der aufwendig toupierten Hochsteckfrisur lösten und keck in alle Richtungen standen, zeigten ihre Bemühungen keinerlei Wirkung. Viele kleine Schweißperlen auf ihrer wulstigen, von einem leichten Damenbärtchen verunzierten Oberlippe zeugten von den Qualen, die das tropische Klima Frau von Schwenger bereitete. Das kleine Spitzentaschentuch in der behandschuhten Linken wurde eifrig zum Abtupfen benutzt und hatte mittlerweile schon ziemliche Ähnlichkeit mit einem nassen Spüllappen. ‚Sie sollte einfach die Handschuhe und das Korsett weglassen und ein Kleid ohne Stehkragen und mit kurzen Ärmeln wählen‘, überlegte Marie-Helene. Aber vielleicht würde es auch helfen, wenn sie einfach dreißig Kilo abnahm. Dieser Gedanke war so erheiternd, dass Marie-Helene ein Kichern nicht unterdrücken konnte. Der strafende Blick ihrer Mutter veranlasste sie, das Gekicher hinter einem kleinen Hustenanfall zu verbergen. „Entschuldigen Sie bitte“, stammelte sie „ich habe mich verschluckt.“ „Ich sage es immer und immer wieder: Die jungen Mädchen von heute kennen keine Mäßigung mehr. Selbst das Teetrinken verrichten sie hastig“, mahnte Frau Klienzel. Im Gegensatz zu Frau von Schwenger war sie dürr und hager. Das weiße Spitzenkleid hing an ihren mageren Gliedern wie die Lumpen an einer Vogelscheuche. Sie hatte eine dünne Hakennase, die wie ein riesiger Vogelschnabel aussah. Marie-Helene fand, dass sie eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Marabu hatte. Aber da ihrem Mann die größte Plantage auf Samoa gehörte, musste Marie-Helene immer besonders nett und zuvorkommend zu ihr sein. „Ich werde zukünftig daran denken und mich der Mäßigung befleißigen“, sagte sie artig. Frau Klienzel nickte hoheitsvoll. „So ist es recht mein Kind. Nur wer stetig an sich arbeitet wird einmal zur Vollkommenheit gelangen. Aber bis dahin ist es für dich noch ein sehr weiter Weg. Also lasse nicht nach in deinem Eifer.“ „Ich werde stets ihrer Mahnung eingedenk sein und ihrem werten Vorbild nachzueifern trachten.“ Marie-Helenes Gesicht zeigte ein unschuldiges und dankbares Lächeln als sie im Geiste ‚du alte Gewitterziege‘ hinzufügte. Oh wie sie die beiden elenden Weiber hasste, die dreimal in der Woche auf der Von-Schlingenhard'schen Terrasse hockten, Tee tranken, sich mit Gebäck und Kuchen vollstopften und über Alles und Jeden auf der Insel herzogen! Gnadenlos zwang ihre Mutter sie dazu, an diesen furchtbaren Teenachmittagen teilzunehmen und den beiden fetten alten Kühen schön zu tun. ‚Sie haben großen Einfluss und können deinem Vater weiterhelfen‘, war die stete Mahnung ihrer Mutter. Also lächelte sie ihnen freundlich ins Gesicht, schmierte ihnen Honig ums Maul und gab all die hirnlosen, kleinen Albernheiten von sich, die man von einem wohlerzogenen Mädchen aus gutem Haus erwartete. Schon vor geraumer Zeit hatte sie gelernt, dass man nur so in das begrenzte Weltbild dieser alten Drachen passte. Immer gut zuhören. Niemals eine der allwissenden Damen unterbrechen. Unter gar keinen Umständen durfte man eine eigene Meinung haben. Schön brav musste man ihnen immer alles nachplappern, wie ein Papagei. Ein junges Mädchen war völlig außerstande ohne entsprechende Anleitung auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Es musste jederzeit demütig, bescheiden, sittsam und keusch sein. Denn nur so konnte es darauf hoffen, dass irgendwann ein junger Mann kam, der es heiraten wollte. Und das war ja nun einmal der innigste Wunsch eines jeden anständigen Mädchens. So war zumindest die gängige Meinung, die ihre Mutter und alle ihre Freundinnen und Bekannten vertraten. Marie-Helene hatte so sehr gehofft, dieses unnatürliche und gezierte Getue für immer hinter sich gelassen zu haben. Umso entsetzter war sie gewesen, als sie festgestellt hatte, dass sich für sie absolut nichts geändert hatte. Diese nervtötenden Teenachmittage hätten ebensogut in der guten Stube der Villa in Hamburg stattfinden können. Und die Damen unterschieden sich um keinen Deut von den Matronen, die schon in ihrem alten Zuhause das Sofa platt gesessen hatten. Auch die Themen hatten sich nicht geändert. ‚Hast du schon gehört?‘ fingen die meisten Gespräche an. Und mit dem vielsagenden ‚Bitte nicht vor dem Kind‘ ihrer Mutter endeten sie. Es war jedes Mal das Gleiche. Immer wenn es anfing wenigstens ein klein wenig spannend und interessant zu werden, warfen sich die Damen vielsagende Blicke zu, rollten mit den Augen, rührten mit wachsender Begeisterung in ihren Teetassen und hockten stumm da, wie ein Haufen steinerner Wasserspeier. Es war zum aus der Haut fahren. „Frau Mama! Darf ich kurz aufstehen? Ich möchte mich ein wenig frisch machen.“ Marie-Helene nutzte eine kurze Gesprächspause und sah ihre Mutter mit ihrem unschuldigsten Lächeln an. Madame de Slingenard lächelte huldvoll und entließ ihre Tochter mit einem kleinen Nicken. Langsam und gesittet wie es sich gehörte verließ Marie-Helene die Terrasse. Sobald sie sich vor den Blicken der Damen sicher wusste, raffte sie ihre Röcke und huschte auf Zehenspitzen quer durch die Diele. Leise schlich sie durch das Arbeitszimmer ihres Vaters. Die langen dünnen Stores bauschten sich vor der offenen Tür zur Terrasse. Die Teegesellschaft saß auf der anderen Seite des Hauses. Aber wenn sie nur angestrengt genug lauschte, konnte sie einige Brocken der Unterhaltung aufschnappen. Das hatte an den vergangenen Nachmittagen wunderbar funktioniert. Wenn sie nicht am Tisch saß, unterhielten sich die Damen ungeniert über genau die Dinge, die für die Ohren eines unschuldigen Mädchens ungeeignet waren. „Es ist ein Skandal! Der Mann ist völlig verkommen und amoralisch!“ Dies war die Stimme der tugendsamen Roswitha Klienzel. „Ich sage schon eine ganze Weile zu meinem Mann, dass man dieses liederliche Subjekt einfach von der Insel jagen müsste.“ „Und was sagt dein Heinrich dazu?“ Deutlich konnte man zwischen den einzelnen Worten das Schnaufen der dicken Marianne von Schwenger heraushören. „Er meint, dass dieser Flügler der beste Verwalter der Insel sei und die Plantage nicht ohne seine Unterstützung geleitet werden könne. Trotzdem finde ich das unerhört.“ „Wie lange geht das denn schon mit den Beiden?“ Marie-Helenes Mutter war noch nicht lange genug hier um bei allen Klatschgeschichten auf dem Laufenden zu sein. „Die Haushälterin von Missionar Wolter hat unserer Köchin erzählt, dass dieses Lotterleben schon ein dreiviertel Jahr dauert.“ Die Stimme von Frau Klienzel zitterte vor Empörung. „Es ist einfach entwürdigend. Wie kann ein Mann, der aus einer so alten und angesehenen Familie stammt, seinen ehrbaren Namen derart beschmutzen?“ Und so leise, dass Marie-Helene es kaum verstehen konnte, fügte sie hinzu: „Mit eigenen Augen habe ich gesehen, wie er abends in das Gesindehaus zu dieser eingeborenen Schlampe geschlichen ist.“ Beinahe hätte Marie-Helene angefangen zu kichern. Sie konnte sich gut vorstellen, wie die Klienzel sich die lange Hakennase an der Scheibe plattgedrückt hatte, damit ihr ja nicht der kleinste Schritt ihres Aufsehers entging. Leise zog sie sich von ihrem Lauscherplatz zurück. Es war höchste Zeit zur Teegesellschaft zurückzukehren um nicht den Argwohn ihrer Mutter zu erregen. Höchst befriedigt und mit einem feinen Lächeln auf den Lippen trat sie auf die Terrasse. Diese kleinen Lauschaktionen machten die öden Nachmittage wenigsten halbwegs erträglich. Und immerhin erfuhr sie auf diese Weise, die letzten Neuigkeiten der Insel.

Paradies im Mondlicht

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