Читать книгу Schwingen des Adlers - Anna-Irene Spindler - Страница 10

VIII.

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Pfarrer Maierhofer hatte offensichtlich schon sehnsüchtig auf sie gewartet. Kaum hatte sie ihr Auto vor dem Pfarrhaus geparkt, riss er bereits die Haustür auf und kam ihr mit strahlendem Gesicht entgegen.

„Ach Frau Römer, Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue Sie zu sehen!“

Er nahm ihre Hand und schüttelte sie so heftig, dass sie schon befürchtete, ihr Arm würde jeden Augenblick abfallen.

„Kommen Sie herein, ich möchte Ihnen meine Sekretärin Anna vorstellen.“

Als sie gemeinsam das Pfarrbüro betraten, wartete die Sekretärin bereits auf sie. Sie trug ein Tablett mit drei Sektgläsern und strahlte ebenfalls über das ganze Gesicht.

„Schön, dass Sie da sind! Ich bin Frau Berger. Aber sagen Sie einfach Anna zu mir. Das macht jeder in der Gemeinde so. Wann immer Sie Fragen oder Probleme haben können Sie zu mir kommen.“

Sophia, die bisher noch kein einziges Wort gesagt hatte, war überwältigt von diesem herzlichen Empfang.

Sie nahm ein Sektglas und meinte:

„Danke schön für Ihre Einladung und diesen netten Empfang. Mit soviel Herzlichkeit bin ich noch nie begrüßt worden.“

Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, bat der Pfarrer sie in sein Büro zu kommen.

„Sie haben mir am Telefon zugesagt, dass Sie sich um eine Unterkunft für mich kümmern würden. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich gerne umziehen, bevor wir uns über nähere Einzelheiten unterhalten.“

Ein schuldbewusster Ausdruck huschte über das Gesicht des Pfarrers. „Entschuldigen Sie Frau Römer, dass ich nicht selbst daran gedacht habe. Es ist nur so...“ Er stockte kurz und fuhr dann um so eifriger fort:

„Ich habe kein Zimmer in einem Hotel für Sie gebucht. Anna und ich waren der Meinung, dass Sie vielleicht gerne die Wohnung ausprobieren möchten, die extra für die Erzieherin in Saas Gurin eingerichtet worden ist. Wir dachten uns, dass Sie sich so am besten ein Bild von dem machen können, was Sie erwartet. Anna hat alles saubergemacht und hergerichtet. Ich hoffe, das ist Ihnen recht so.“ Beinahe ängstlich wartete er auf ihre Reaktion.

Sophia, die gehofft hatte, sich die Wohnung in aller Ruhe anschauen zu können, war begeistert.

„Aber selbstverständlich. Ich finde es sehr nett von Ihnen, dass Sie daran gedacht haben.“

Man merkte dem guten Pfarrer seine Erleichterung deutlich an, als er Sophias sichtliche Begeisterung sah.

„Dann ist es doch das Beste, wenn wir uns gleich auf den Weg nach Saas Gurin machen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, fahre ich bei Ihnen im Auto mit“, schlug Pfarrer Maierhofer vor.

Sein Gesicht strahlte vor Freude, als Sophia mit einem „Aber gerne!“ zustimmte.

Während der Pfarrer noch allerlei Unterlagen in seiner Aktentasche zusammenpackte, verabschiedete sich Sophia von seiner Sekretärin.

„Ich bin sicher es wird Ihnen dort oben gefallen“, meinte Anna Berger herzlich, schüttelte ihr die Hand und gab ihr einen kleinen Zettel.

„Ich habe Ihnen die Telefonnummer des Pfarramtes und auch meine Privatnummer aufgeschrieben. Wenn Sie irgend etwas brauchen oder noch Fragen haben, rufen Sie einfach an.“

Sophia nahm den Zettel und nickte dankbar. Sie hatte die Pfarrsekretärin, die sie in ihrer freundlichen und hilfsbereiten Art sehr an Schwester Marie-Agnes erinnerte, sofort ins Herz geschlossen.

Sophia stieg in ihr Auto und der Pfarrer ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder. „Wollen Sie sich zuerst Oberkirch noch ein wenig anschauen?“

„Ach, wenn es nichts ausmacht, würde ich doch lieber gleich nach Saas Gurin fahren. Ich bin doch ziemlich neugierig, was mich dort erwartet. Außerdem hatte ich ja bei meinem Urlaub im letzten Jahr Gelegenheit den Ort ganz gut kennenzulernen.“

Ihr Beifahrer lotste sie auf dem kürzesten Weg durch das Städtchen.

Sie hatten das Ortsschild noch gar nicht richtig hinter sich gelassen, da meinte der Pfarrer:

„Da vorne, nach der Kurve geht es links ab. Sie müssen aufpassen, es ist eine ziemlich enge Abzweigung.“

Dieser Hinweis war nicht unbegründet. Die Straße, die nach Saas Gurin abging, verdiente diesen Namen nicht wirklich. Sie war zwar geteert, aber nicht breiter als ein Feldweg. Außerdem war der Wegweiser so klein, dass man ihn zwischen den hohen Grashalmen erst entdecken konnte, wenn man bereits an der Abzweigung vorbei gefahren war. Da Sophia jedoch vorgewarnt war, bog sie ohne vorherige, hektische Bremserei in die Straße ein.

‚Saas Gurin 7 km‘ konnte sie aus den Augenwinkeln heraus auf dem verwitterten Schild lesen.

Die Straße schlängelte sich in engen Kurven durch den Wald. Die Bäume standen dicht an dicht bis an die Asphaltdecke heran. Mächtige dunkle Fichten wechselten sich mit hohen Buchen und Birken ab. Die Kronen der Bäume waren so ausladend, dass sie sich an manchen Stellen oben berührten und die schmale Straße in ein geheimnisvolles Dämmerlicht tauchten.

„Gleich da vorn ist es.“

Pfarrer Maierhofer machte einen langen Hals und sah aufmerksam nach vorn. „Das kann doch nicht sein. Auf dem Wegweiser hieß es doch sieben Kilometer.“

Sophia warf ihrem Beifahrer einen verständnislosen Blick zu.

Er lachte: „Ich meine auch nicht Saas Gurin. Aber da vorne nach der Brücke ist die Schranke.“

Das, was der Pfarrer so hochstaplerisch als Brücke bezeichnet hatte, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als besserer Steg. Der Übergang über den doch relativ breiten, ziemlich reißenden Gebirgsbach war aus soliden Baumstämmen gefertigt. Ein Hinweisschild am Straßenrand besagte, dass dieses ‚Ding‘ bis zu einem Gesamtgewicht von fünf Tonnen befahrbar wäre. Das änderte aber nichts an der Tatsache, dass die sogenannte Brücke keinerlei Geländer hatte und auch nicht wirklich breit war.

In Schrittgeschwindigkeit und mit einem doch reichlich mulmigen Gefühl im Magen überquerte Sophia die Brücke. Für sich selbst fasste sie den Entschluss, nie nach Einbruch der Dunkelheit diesen ‚Hängesteg‘ zu befahren.

Ungefähr zwanzig Meter nach dem Bach versperrte eine Schranke die Weiterfahrt.

„Das haben wir gleich.“

Mit diesen Worten stieg Sophias Mitfahrer aus. Er zog einen Schlüssel aus der Hosentasche und öffnete einen hölzernen Kasten am Straßenrand neben der Schranke. Eifrig betätigte der Pfarrer die darin angebrachte Kurbel. Langsam hob sich die Schranke.

Sophia fuhr ein Stück weiter. Im Rückspiegel konnte sie erkennen, wie sich durch eifrige Kurbelei des Pfarrers die Schranke wieder senkte. Er versperrte den Kasten wieder, krabbelte fast auf allen Vieren unter dem Hindernis hindurch und saß im nächsten Augenblick ziemlich außer Atem neben ihr.

„Das ist mein allwöchentlicher Sportersatz“, schnaufte Pfarrer Maierhofer.

Mit einem großen Taschentuch wischte er sich den Schweiß aus dem Gesicht. Sophia fuhr langsam weiter.

„Was soll denn diese Schranke? Ist das nicht schrecklich umständlich?“ fragte sie mit gerunzelter Stirn.

„Das ganze Gebiet hier ist Privatbesitz. Nur berechtigte Leute sollen die Straße benutzen.“

„Aber was ist mit Saas Gurin?“

„Auch Saas Gurin gehört dazu. Es ist zwar ein Dorf mit momentan ungefähr sechzig Einwohnern, aber der gesamte Grund und Boden gehört einer Familie.“ „Das ist ja wie im Mittelalter!“, entfuhr es Sophia.

„Lassen Sie sich einfach überraschen.“

Pfarrer Maierhofer tätschelte ihre rechte Hand und grinste ihr aufmunternd zu. ‚Wahrscheinlich herrscht dort seit hunderten von Jahren Inzucht und alle Einwohner haben rote Haare und abstehende Ohren‘, ging es Sophia durch den Kopf.

Sie konnte zum Glück diesen wenig erbaulichen Gedanken nicht weiter verfolgen, denn sie musste ihre gesamte Aufmerksamkeit der Straße zuwenden. Diese war noch enger geworden und wand sich in spitzen Haarnadelkurven bergauf. Die Bäume standen längst nicht mehr so dicht. Sie waren jetzt mager, zerzaust und windschief.

Sophia merkte am Druck in ihren Ohren, dass sie sich schon ziemlich hoch oben befanden.

„Wie hoch liegt Saas Gurin eigentlich?“

„Die Kirche steht exakt auf 1634 Metern über dem Meer“, erklärte Pfarrer Maierhofer. Es klang so stolz als hätte er die Stelle persönlich ausgewählt und die Kirche dort eigenhändig errichtet.

Da Sophia durch die ständige Kurbelei am Lenkrad ganz schön ins Schwitzen kam, ließ sie die Scheibe an der Fahrertür herunter. Sofort stieg ihr die milde, reine Luft in die Nase.

Sie atmete tief ein und meinte begeistert:

„Es ist einfach himmlisch! Zu Hause kann man beim Autofahren wegen der vielen stinkenden Abgase kaum die Lüftung anschalten, geschweige denn das Fenster aufmachen.“

„Naja“, lachte ihr Beifahrer, „wenn bei uns die Bauern ihre Wiesen düngen, fahre ich auch lieber mit geschlossenen Fenstern.“

Nach einer letzten, steilen Kurve ließen sie die Bäume hinter sich. Die Straße stieg nun nicht mehr weiter an, sondern schlängelte sich durch karge Grasmatten. Immer wieder erhoben sich aus diesen sanften Wellen niedrige, aber dafür kahle und zerklüftete Felsen.

„Da ist es!“ Pfarrer Maierhofer deutete mit dem Finger nach vorne.

Der holzverkleidete Kirchturm tauchte hinter einer der grasigen Wellen auf. Nach und nach kamen auch die anderen Häuser in Sicht.

Der ganze Ort thronte auf einem Hochplateau umgeben von grünen Almwiesen, die immer mehr anstiegen und allmählich in felsiges Gelände übergingen um schließlich zu steilen Berggipfeln hinaufzuführen. Sie umgaben Saas Gurin von drei Seiten. Die höchsten waren selbst jetzt im Juli noch mit Schnee bedeckt. Das Ganze wirkte wie eine gigantische Arena über der ein tief dunkelblauer Himmel leuchtete, der aussah, als hätte ihn ein Kulissenmaler gepinselt und wäre dabei weit über das Ziel hinausgeschossen.

Kurz vor den ersten Häusern stand rechts neben der Straße eine große, hölzerne Tafel.

‚Willkommen in Saas Gurin‘ war in verschnörkelten Buchstaben in das Holz geschnitten.

„Das haben Sie aber nicht extra für mich aufgestellt?“, fragte Sophia lachend und deutete auf das verwitterte Schild.

„Nein, das steht schon ein bisschen länger da. Aber es spricht mir aus dem Herzen. Willkommen in Saas Gurin! Ich hoffe so sehr, dass es Ihnen hier gefällt.“

Der Pfarrer warf ihr einen bittenden Blick zu.

„Wir werden sehen“, bremste Sophia seine Euphorie.

„Das da vorne ist die Ortsmitte, der Marktplatz so zu sagen. Dort drüben das Haus, das mit den Holzbalken, - sehen Sie es? - das ist die Tourist-Information. Und das hohe dort links ist unser Hotel.“

Aufgeregt fuchtelte er mit den Händen vor ihrem Gesicht herum und deutete einmal hierhin und einmal dorthin.

Sophia konnte mit den Augen kaum folgen.

Schmunzelnd fragte sie: „Sehr schön. Aber wohin müssen wir denn?“

„Da hinten. Unterhalb der Kirche geht die Straße rechts ab.“

Sie sah in die Richtung, die ihr der ausgestreckte Arm ihres Beifahrers wies. Langsam fuhren sie durch den Ort. Der Baustil gefiel Sophia ausgesprochen gut. Die Häuser sahen mit einigen wenigen Abwandlungen alle gleich aus. Das Erdgeschoss war aus grob zurecht gehauenen Bruchsteinen gemauert und der erste Stock war in der Regel aus dunklem, fast schwarzem Holz. Bei den meisten Häusern war über die ganze Breite der Giebelseite ein Holzbalkon angebracht und die flachen Dächer waren mit Schieferplatten gedeckt. Bis auf das Gebäude der Tourist-Information und das Hotel sahen die Häuser allesamt reichlich alt aus. Aber sie wirkten keinesfalls heruntergekommen und verwahrlost, sondern vielmehr ehrwürdig und gediegen. So als hätten sie in vielen hundert Jahren so manchen Sturm über sich hinwegfegen sehen, schweren Schneelasten getrotzt und in Ehren Patina angesetzt.

Die schmale Straße, in die sie einbog, mündete in einen kleinen Parkplatz.

„Da wären wir! Das ist unser Kindergarten!“

Sophia stellte den Motor ab und stieg aus.

Das Gebäude gefiel ihr auf Anhieb. Der Baustil war fast genauso wie bei allen anderen Häusern im Ort. Das Erdgeschoss war gemauert und das Obergeschoss aus Holz. Aber die Fenster im Parterre waren wesentlich größer und das Holz war noch hell und unverwittert. Auch das Dach war wesentlich steiler als bei allen übrigen Häusern. Eine hölzerne Treppe führte hinauf zu einer zweiten Eingangstür im ersten Stock.

„Vor neun Jahren haben wir ihn eingeweiht. Das war damals ein großer Tag für Saas Gurin“, sagte Pfarrer Maierhofer nicht ohne Stolz.

Er zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche und sperrte die Tür im Erdgeschoss auf.

Bereits ein paar kurze Blicke genügten um Sophia zu überzeugen, dass sie sich in ihrer Einschätzung, einen Dorfkindergarten ‚Marke Vorkriegsmodell‘ vorzufinden, gründlich getäuscht hatte. Die Räume waren hell, freundlich und in allen Belangen den Bedürfnissen von Kindern angepasst. Das vorhandene Spielzeug entsprach zwar nicht hundertprozentig ihren Vorstellungen, aber sie wusste nur zu gut, dass man diesbezügliche Unzulänglichkeiten oft mit nur geringem Aufwand beheben konnte.

Die Toiletten und der Waschraum waren in Ordnung und die Küche übertraf ihre kühnsten Erwartungen. In München hätte sie viel darum gegeben, wenn sie für die zwanzig Kinder in ihrer Gruppe eine nur halb so große Küche gehabt hätte.

„Wie viele Kinder wurden hier bisher betreut? Sieben?“

Ungläubig vergewisserte sie sich, ob sie diese Zahl tatsächlich richtig im Gedächtnis hatte. Und als ihr Begleiter nickte, meinte sie anerkennend:

„Da haben Sie aber ein Angebot, das mehr als üppig ist. Von solch großzügigen Einrichtungen können Kinder in München nur träumen.“

Und in Gedanken fügte sie hinzu: ‚Und Erzieherinnen auch!‘

Sie trat an die Fensterfront, die beinahe die gesamte Südseite des großen Gruppenraumes einnahm. Direkt vor dem Fenster befand sich ein gepflasterter Vorplatz, der überdacht war und auf dem ein wuchtiger Holztisch mit zwei Bänken stand. Beides war aus dicken Baumstämmen gefertigt und sah so aus, als ob es noch hundert Kindergartengenerationen überdauern könnte. Auf der Wiese, die sich unmittelbar an die Terrasse anschloss, standen die üblichen Spielgeräte: Rutsche, Kletterturm, Schaukel. Alle aus dem gleichen soliden Holz gefertigt.

Zu ihrer großen Freude sah sie, dass die Spielfläche nahtlos in Almwiesen überging und keine Hecken und Zäune die Kinder einsperrten. Das bedeutete zwar, dass die Betreuer doppelt wachsam sein mussten, aber für die Kinder war so etwas geradezu himmlisch.

„Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen jetzt die Wohnung, die für die Erzieherin eingerichtet worden ist“, sagte Pfarrer Maierhofer, als sich Sophia alle Räume des Erdgeschosses angesehen hatte.

„Gerne!“ Sophia nickte zustimmend.

Gewissenhaft sperrte der Pfarrer die Eingangstür des Kindergartens ab.

„Hier hinauf!“ Er wies mit der Hand auf die Holztreppe, die an der Vorderseite des Hauses hinaufführte und gleichzeitig als Überdachung für den Kindergarteneingang diente.

Sophia war mittlerweile doch reichlich neugierig. Denn seit sie den Kindergarten gesehen hatte, fand sie den Gedanken hier zu arbeiten gar nicht mehr so abwegig. Wenn ihr die Wohnung nur halb so gut gefiele wie die Räume unten, müsste sie die Vorstellung in Saas Gurin einen Neuanfang zu wagen tatsächlich genauer in Betracht ziehen.

Ihr Herz schlug ein bisschen schneller als sie dem Pfarrer in die Wohnung folgte.

Und dann war es auch schon passiert. Kaum hatte sie das Appartement betreten, wusste sie, dass es um sie geschehen war. Es war Liebe auf den ersten Blick! Die Sonne schien durch das riesige Fenster, das die gesamte Giebelseite einnahm und vom Boden bis unter die Dachspitze reichte.

Sie hatte schon immer eine besondere Schwäche für Mansardenwohnungen gehabt, aber diese hier übertraf alles was sie bisher gesehen hatte.

Da das Dach des Kindergartens wesentlich steiler war, als bei allen anderen Häusern in Saas Gurin, war die Wohnung ausgesprochen hoch. Durch den leicht rötlichen Farbton der Holzverkleidung zwischen den mächtigen Dachbalken, wirkte das Ganze trotz der enormen Höhe anheimelnd und gemütlich.

Aber das Beste war die Galerie, die unmittelbar vor dem Fenster unter dem Giebel eingezogen war. Eine steile Holztreppe führte auf der rechten Seite hinauf und soweit sie es von unten sehen konnte stand dort oben, direkt vor dem Fenster das Bett.

Bereits ein flüchtiger Blick genügte, um sich zu vergewissern, dass der Pfarrer nicht übertrieben hatte. Die Wohnung war tatsächlich komplett eingerichtet. Und das bedeutete, dass nicht nur sämtliche Möbel vorhanden waren, sondern auch so ‚Kleinigkeiten‘ wie Flachbild-Fernseher, Stereoanlage, Spülmaschine und Mikrowelle.

Als Sophia einen der Küchenschränke öffnete, stellte sie fest, dass sogar Geschirr, Gläser und Töpfe blitzblank geputzt im Regal standen.

Sie ging zurück in den Wohnraum, drehte sich langsam im Kreis und sah danach ihren Begleiter mit gerunzelter Stirn an.

„Und wo ist der Haken bei der ganzen Geschichte?“

Verständnislos musterte der Pfarrer Sophia.

„Ich verstehe Sie nicht recht. Was meinen Sie mit Haken?“

„Naja, irgend etwas stimmt doch bei der ganzen Sache nicht. Jede normale Erzieherin muss doch bei der Vorstellung in einem toll ausgestattetem Kindergarten eine Gruppe mit nur sieben Kindern zu betreuen schon begeistert sein. Wenn dann auch noch eine derartig phantastische Wohnung mietfrei - so haben Sie zumindest in Ihrem Brief geschrieben - zur Verfügung gestellt wird, sollte man meinen, dass die Bewerber in Dreierreihen Schlange stehen. Es hat sich aber Ihrer Aussage nach niemand gemeldet. Folglich muss doch ein Haken dabei sein.“

Erwartungsvoll sah sie den Pfarrer an.

Ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sagte:

„Der Haken ist Saas Gurin. Auf meine Stellenanzeigen haben sich mehr als dreiundzwanzig Erzieherinnen und sechs Erzieher gemeldet. Aber als ich ihnen mitteilte, wo ihre neue Arbeitsstätte liegen wird, haben sie alle ohne Ausnahme abgelehnt. Sie sind die Erste, die überhaupt bereit war nach Saas Gurin zu kommen und sich den Kindergarten und die Wohnung anzusehen.“

Jetzt war Sophia hellhörig geworden.

„Was stimmt denn mit Saas Gurin nicht? Gibt es da etwas, das ich unbedingt wissen müsste? Sie wissen schon was ich meine: Fremdenhass, eine bestimmte Sekte, Inzucht - um was handelt es sich?“

Pfarrer Maierhofer lachte schallend los. Als er sich wieder beruhigt und die Tränen abgewischt hatte, tätschelte er ihren Arm und meinte:

„Nichts von alledem. Das dürfen Sie mir ohne Weiteres glauben. Es ist das äußere Umfeld. Keine Einkaufsmöglichkeiten. Nur ein winziger Tante-Emma-Laden. Kein Arzt. Keine Schule. Sie haben ja selbst gesehen, wie weit es bis nach Oberkirch ist. Von November bis Ende März liegt hier oben Schnee. Der Bus, der sechsmal am Tag fährt, kommt zwar auch im Winter herauf. Also so richtig eingeschneit und von der Welt abgeschnitten ist man hier höchstens ein oder zwei Tage im Jahr. Aber trotzdem ist es eine Tatsache, dass man ab und zu das Gefühl hat, die restliche Welt hätte Saas Gurin einfach vergessen. Da gibt es nur ganz wenige Menschen, die soviel Abgeschiedenheit und Einsamkeit auf Dauer ertragen können, vor allem wenn man es nicht von klein auf gewöhnt ist. Ich denke das ist der Grund, warum keiner hier arbeiten will.“

Er musterte Sophia um zu sehen welche Wirkung seine Schilderung auf sie hatte. Aber er konnte in ihrem Gesicht keinerlei Regung feststellen.

So sah er auf seine Uhr und sagte erschrocken:

„Oje, ich habe die Zeit vergessen. Der Bus fährt in fünfzehn Minuten und ich muss vorher noch in der Kirche vorbei. Da muss ich mich ganz schön beeilen, wenn ich den Bus noch erwischen will. Soviel ich weiß hat Anna irgendwelche Sachen zum Essen in den Kühlschrank geräumt. Ansonsten können sie in dem kleinen Laden Brot, Semmeln und auch Wurst kaufen. Einen Gasthof gibt es auch und im Hotel finden Sie natürlich auch ein Restaurant. Ich möchte Sie bitten, sich alles in Ruhe anzusehen. Damit meine ich natürlich nicht nur den Ort, sondern auch den Kindergarten und das Büro.“

Er gab ihr die Schlüssel und verabschiedete sich herzlich. Als er schon halb die Treppe hinuntergeeilt war, drehte er sich noch einmal um und rief:

„Am Samstagnachmittag komme ich wieder herauf. Aber Sie können mich selbstverständlich auch schon vorher in Oberkirch erreichen.“

Noch bevor sie etwas erwidern konnte, war er schon die restlichen Stufen hinuntergestiegen und marschierte im Eilschritt die schmale Straße zurück in Richtung Kirche.

Sophia sah kurz auf den Schlüsselbund in ihrer Hand, schob ihn dann in die Hosentasche und stieg ebenfalls die Stufen hinunter, um ihre Tasche aus dem Auto zu holen.

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