Читать книгу Schwingen des Adlers - Anna-Irene Spindler - Страница 11
IX.
Оглавление„Hallo Beat! Was führt dich denn mitten in der Woche nach Saas Gurin?“ Pfarrer Maierhofer blickte suchend zur Seite.
Mark Suttner schloss die Tür de Tourist-Information und kam mit einem Pack Blättern in der Hand auf ihn zu.
„Ach du bist es, Mark! Stell dir vor, die Erzieherin, die sich auf meine Stellenausschreibung gemeldet hat, ist heute gekommen. Ist das nicht wunderbar?“, verkündete der Angesprochene. „Ich habe ihr Alles gezeigt und bin jetzt auf dem Heimweg.“
„Und, gefällt ihr der Kindergarten?“
Der Pfarrer nickte. Mit einem verschmitzten Lächeln fügte er hinzu:
„Aber noch besser gefällt ihr die Wohnung. Ich habe das Gefühl, dass sie hierbleiben wird.“
Mark klopfte ihm anerkennend auf die Schulter.
„Meinen Glückwunsch! Das wäre eine feine Sache für Saas Gurin. Die Leute werden begeistert sein, wenn der Kindergarten endlich wieder geöffnet ist. Dann hört hoffentlich auch das Gemaule auf, dass wir damals beim Bau des Kindergartens zu viel Geld ausgegeben hätten.“
Beat Maierhofer musterte seinen Gegenüber aufmerksam.
„Und wie geht es dir?“
Ein leichtes Lächeln huschte über Mark Suttners Gesicht. Ihm war der besorgte Unterton in der Frage nicht entgangen.
„Mir geht es gut“, antwortete er. „Ich habe gerade die restlichen Unterlagen für Kanada zusammengesucht.“
Mark deutete auf die Zettel, die er in der Hand hielt.
„Kanada?“ Fragend schaute ihn der Pfarrer an.
„Habe ich dir das gar nicht erzählt? Ich fliege übermorgen für vier Wochen nach Edmonton. Zehn Tage lang leite ich Seminare an der Uni in Edmonton. Danach betreue ich noch Kurse für Park-Ranger im Banff-Nationalpark. Anscheinend haben meine Artikel über das Auswildern von Greifvögeln den Weg bis nach Kanada und in die USA gefunden. Sogar einige Ranger aus Kalifornien haben sich angemeldet. Sie haben an der Westküste offensichtlich massive Probleme mit ihrem Bestand an Kalifornischen Kondoren. Ich freue mich schon unheimlich. Das wird sicher eine tolle Sache werden.“
Ein Leuchten erhellte Marks Gesicht und seine blauen Augen strahlten mit dem Blau des Himmels um die Wette.
„Du und deine Geier!“, lachte der Pfarrer.
Er wusste nur zu gut, dass Mark Suttner Greifvögel beinahe noch mehr liebte als die Berge.
Der Bus fuhr die Dorfstraße herauf, wendete auf dem Marktplatz und hielt neben den beiden Männern.
„Mach’s gut, mein Junge! Und komm nur nicht auf die Idee, dass es in Kanada eventuell schöner sein könnte als hier“, sagte Beat, klopfte Mark auf die Schulter und stieg in den Bus.
Mark Suttner hob die Hand zum Gruß und machte sich auf den Heimweg.
Als er seine Haustüre aufsperrte, wanderte sein Blick über die Fassade seines Hauses. Sie sah irgendwie kahl aus. Wirklich komisch, dass ihm das nicht schon längst aufgefallen war. Früher hatten immer Blumenkästen die Fenster geschmückt. Wenn er wieder aus Kanada zurück war, würde er Gina fragen, wo man diese typischen Balkonblumen kaufen konnte. Vielleicht half sie ihm ja sogar beim Einpflanzen.
Seinen großen Trekkingrucksack hatte er gestern schon gerichtet. Als er im Geiste noch einmal kontrollierte, was er alles eingepackt hatte, beschloss er ganz spontan doch noch wenigstens eine Krawatte mitzunehmen. Zumindest am ersten Tag, wenn er sich in der Universität vorstellte, konnte es nichts schaden, gediegen und solide zu wirken. Seine Aufzeichnungen, die Reiseunterlagen und sein Notebook packte er in eine braune Ledertasche. Sie wirkte zwar schon reichlich schäbig, war aber ungeheuer praktisch.
Erleichtert stellte er seine Sachen in den Hausgang. Das Packen war für ihn immer das Schlimmste.
Er nahm eine abgewetzte Lederweste vom Garderobenhaken und zog sie an. Während er sie zuknöpfte ging er in die Küche. Aus dem Kühlschrank holte er eine kleine Plastikschüssel. Er öffnete sie und füllte den Inhalt - es waren kleingeschnittene, rohe Fleischstücke und Knochen - in eine kleine Ledertasche, die auf dem Kühlschrank gelegen hatte. Mit zwei Druckknöpfen befestigte er die Tasche an seinem Gürtel. Ein Fernglas und ein fester Lederhandschuh komplettierten seine Ausrüstung.
Mark verließ das Haus nicht durch die Vordertüre, sondern er öffnete die Glastüre in der Küche. Sie führte auf die, dem Dorf abgewandte Seite seines Anwesens. Einige alte, knorrige Apfelbäume standen im Garten. Lediglich ein windschiefer Gatterzaun trennte das Grundstück von den Almwiesen. Mit weit ausgreifenden Schritten durchquerte er seinen Obstgarten und setzte mit einer gekonnten Flanke über den Zaun. Nach kurzer Zeit hatte er sein Ziel erreicht: Einen großen, durch die Witterungseinflüsse vieler Jahrtausende glatt polierten Findling. Wie ein Eisberg im Ozean erhob er sich aus der welligen Almwiese hinter seinem Garten. Er war schon so oft hinaufgeklettert, dass er genau wusste wo er seine Füße hinsetzen musste.
Mark stellte sich auf den höchsten Punkt des Findlings. Er hob das Fernglas an die Augen und bemühte sich dabei möglichst jeden Zentimeter Himmel genau abzusuchen. Ohne Erfolg. Er ließ das Glas sinken, stieß einige sehr hohe, kurz aufeinanderfolgende Pfiffe aus. Dann setzte er sich auf den harten Stein. Jetzt hieß es warten!
Sein Blick wanderte hinüber zu seinem Haus, verweilte kurz auf den schwarz schimmernden Schieferplatten, mit denen das Dach gedeckt war, und schwenkte dann hinüber zum Dorf. Haus für Haus tasteten sich seine Augen weiter, blieben kurz am Kirchturm hängen und landeten schließlich beim Kindergarten. Er markierte das Ende des Dorfes und war von seinem eigenen Haus am weitesten entfernt. Mark dachte an Pfarrer Maierhofer und dessen kindliche Freude über die Erzieherin, die er aufgegabelt hatte. Er hob das Fernglas, um einen genauen Blick auf den Kindergarten zu werfen, als ein vertrauter Ton an sein Ohr drang. Mark ließ den Feldstecher sinken, zog seine Sonnenbrille aus der Westentasche, setzte sie auf und suchte den Himmel ab. Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. Langsam stand er auf und stülpte den langen, derben Lederhandschuh über die rechte Hand. Wieder stieß er die eigenartigen Pfiffe aus. Dann streckte er die Faust mit dem Handschuh hoch über seinen Kopf. Mit der linken Hand fasste er in die Gürteltasche, holte ein Fleischstück heraus, hob es demonstrativ in die Luft und klemmte es dann in die behandschuhte Faust der rechten Hand. Vorsichtig senkte er seine Faust bis auf Brusthöhe. Er winkelte seinen Unterarm so weit ab, dass der Handschuh einen guten halben Meter von seinem Gesicht entfernt war. Dann sah er kurz zu Boden und prüfte seinen Stand. Anschließend wanderte sein Blick wieder suchend nach oben. Und da war er schon!
Wie ein Pfeil schoss der riesige Vogel mit abgewinkelten Flügeln nach unten, direkt auf ihn zu. Erst im letzten Augenblick, als er nur noch wenige Meter von dem Mann entfernt war, öffnete er seine breiten Schwingen ganz und streckte die befiederten Fänge mit den geöffneten, nadelscharfen Krallen nach vorn. Obwohl Mark darauf gefasst war, sackte sein Unterarm unter dem ungeheueren Aufprall des Greifvogels nach unten. Die krallenbewehrten Füße schlossen sich um seine Faust und den Unterarm, so dass er das Gefühl hatte in einen Schraubstock geraten zu sein. Der Druck der Krallen ließ erst nach, als der Vogel die Flügel angelegt hatte und mit dem rasiermesserscharfen, gelben Schnabel das Fleischstück aus der Faust des Mannes zerrte. Noch zwei weitere Brocken verschwanden in dem gekrümmten Adlerschnabel. Eine nur allzu verdiente Beute für einen Sturzflug aus tausend Metern Höhe. Dann war endlich Zeit für eine Begrüßung, wie sie zwischen zwei so alten Freunden wie Mark und Sam angemessen war.
„Hallo, mein Junge“, flüsterte Mark und streichelte zärtlich über Kopf und Rücken des Steinadlers.
Der Adler streckte seinen Schnabel nach vorn, knabberte vorsichtig an Marks Hemdkragen und rieb seinen Kopf an dessen Hals. Immer wieder strich Marks Hand über die braunen Rückenfedern des Vogels, die sich wie Seide anfühlten. Er kannte den Vogel seit dieser vor viereinhalb Jahren aus dem Ei geschlüpft war. Mit einer Pinzette hatte er damals dem kleinen, ziemlich hässlichen, weißen Flaumball beinahe rund um die Uhr winzige Hackfleischportionen in den nimmersatten Rachen gestopft. Sam hatte es ihm mit unzähligen Bissen seines winzigen, aber bereits teuflisch scharfen Schnabels gedankt, so dass seine Hand nach kurzer Zeit mit Kratzern übersät war.
„Komm, lass los!“, schimpfte Mark.
Sam riss ihn ziemlich abrupt aus seinen Gedanken, indem er den Mann ins Ohr zwickte, um ihn daran zu erinnern, dass die nächste Ration Fleischstücke fällig war. Lachend kramte er noch weitere Leckerbissen aus seiner Tasche, die genauso schnell den Weg in den Magen des Adlers fanden wie die vorherigen. Sam war wirklich ein Prachtexemplar. Das lag sicher daran, dass er von klein auf stets genügend Nahrung bekommen hatte. Und obwohl er jetzt schon über ein Jahr in Freiheit lebte, kam er regelmäßig bei Mark vorbei, um den einen oder anderen Nachtisch aus dieser kleinen Tasche, die niemals leer wurde, einzufordern. Entweder rief der Mann nach ihm, so wie heute, oder Sam ließ sich einfach auf dem alten Gatterzaun nieder und wartete bis Mark ihn bemerkte. Wenn das zu lange dauerte, konnte es schon manchmal vorkommen, dass er einfach zur Küchentüre marschierte und mit dem Schnabel anklopfte, um sich bemerkbar zu machen.
Mark ließ sich wieder auf dem Felsen nieder und setzte den Vogel vorsichtig neben sich ab. Dieser schüttelte sich, legte dann seine Flügel wieder an und zupfte ein paar Federn in die richtige Position. Als er aber Anstalten machte mit dem Schnabel an der Gürteltasche zu zerren, schob Mark ihn energisch zur Seite.
„Schluss jetzt, du Vielfraß! Du wirst viel zu fett.“
Sam ließ einen heiseren Protestschrei hören, begnügte sich dann aber damit, mit stolz erhobenem Kopf starr geradeaus zu blicken. Marks Augen wanderten wieder über den Himmel.
„Siehst du, da ist sie schon“, meinte Mark mit einem Seitenblick auf seinen Freund.
Er stand auf und hielt den Arm vor sich. Diesmal hatte er einen kleinen Knochen in die Faust geklemmt. Obwohl der Vogel nicht im Sturzflug ankam, sondern in weiten Spiralen nach unten segelte, musste Mark seinen rechten Arm mit der linken Hand abstützen, um das Gewicht des landenden Geiers abfangen zu können. Daisy, das Bartgeier Weibchen, war nicht nur deutlich größer als Sam, sondern auch erheblich schwerer.
„Hallo, mein Mädchen! Hübsch siehst du aus!“
Tatsächlich waren Daisy’s Federn so gleichmäßig und ordentlich, dass sie beinahe künstlich wirkten. Ihr Gefieder schimmerte in hellen Brauntönen, zu denen die leuchtend weißen Kopffedern in deutlichem Kontrast stand. Die Federn, die am Schnabelansatz wie ein kleiner Bart nach unten standen waren kohlschwarz.
Auch Daisy begrüßte ihren menschlichen Freund überaus liebevoll. Sie stocherte mit ihrem Schnabel in seinen Haaren, untersuchte seine Hemdknöpfe und steckte schließlich ihren Kopf in seinen Halsausschnitt und rieb ihren Hals an seiner nackten Haut. Nach dieser ausgedehnten Begrüßung setzte sich Mark wieder hin. Der Geier hüpfte von seiner Faust herunter und ließ sich links neben ihm nieder. Der Mann legte sich auf den Rücken. Er verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Daisy wanderte noch ein paarmal neben ihm auf und ab. Sie steckte ihren Kopf neugierig in sein Hosenbein und zupfte an seiner Weste. Als Mark nicht reagierte, stocherte sie mit ihrem Schnabel noch ein wenig in ihren Federn herum, um danach genauso bewegungslos dazusitzen und in die Ferne zu starren wie Sam.
Erst als die Sonne bereits untergegangen war, erhob sich Mark und kletterte vom Felsen herunter. Er streckte die Hand nach oben und Sam flatterte auf seine Faust. Langsam ging er zu seinem Haus zurück. Daisy sah den Beiden einen Augenblick nach, so als ob sie überlegte, dann öffnete sie die Flügel, segelte ebenfalls vom Felsen herunter und marschierte sehr würdevoll hinter ihnen her.