Читать книгу Schwingen des Adlers - Anna-Irene Spindler - Страница 12
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ОглавлениеHallo Maus!
Ich weiß, ich habe Dir erst vor ein paar Tagen geschrieben und die beiden Briefe werden wahrscheinlich gleichzeitig bei Dir ankommen, aber es ist einfach so wichtig, dass ich es Dir unbedingt sagen muss, sonst platze ich. (Buh, ist das ein langer Satz!)
Ich habe mich entschlossen es in Saas Gurin zu versuchen! Heute Nacht bin ich wachgeworden und habe mich auf den Rücken gedreht. Das Bett steht direkt neben einem Fenster, das von der Decke bis zum Boden reicht. Da habe ich die Sterne gesehen! Ich bin aufgestanden und auf den Balkon gegangen. Es war so unglaublich schön, dass man es mit Worten überhaupt nicht beschreiben kann. Keine Straßenlaterne, kein Reklameschild, kein Licht aus irgendeinem Fenster! Nichts! Kein Geräusch war zu hören. Es war so still, dass man meinen konnte, man wäre allein auf der Welt. Und über Allem das Leuchten der Sterne! Du wirst jetzt vielleicht über mich lachen, weil Du das in Afrika andauernd erlebst, aber für mich war das komplett neu. Dass es soetwas mitten in unserem dichtbesiedelten Europa geben kann, ist eigentlich unvorstellbar. Auf jeden Fall habe ich mich heute Nacht entschieden. Ich werde hierbleiben! Ob ich in einem halben Jahr, wenn der Schnee bis zur Dachrinne reicht und wir hier von der Außenwelt abgeschnitten sind, noch genauso denke, weiß ich nicht. Aber das ist mir im Augenblick auch egal! Ich will es auf jeden Fall versuchen!
Ich bin mir nicht sicher, ob Du stolz auf mich bist, weil ich so spontan etwas Neues anfange oder ob Du ganz einfach an meinem Verstand zweifelst, weil ich aus einer quirligen Großstadt in ein Kaff ziehe, das die Welt anscheinend vergessen hat. Ich jedenfalls bin sehr stolz auf mich!
In den nächsten vier Wochen werde ich vermutlich nicht dazu kommen Dir zu schreiben, aber vielleicht könntest ja Du zur Abwechslung mal einen Stift in die Hand nehmen.
Ich hab’ Dich lieb!
Sophia
Sophia steckte den Brief in das Kuvert, schnappte sich ihre Handtasche und zog los, um eine Briefmarke zu besorgen. Die Frau in dem kleinen Laden, in dem sie heute morgen schon ihre Weggli geholt hatte, erklärte ihr, dass sie Postkarten und auch Briefmarken in der Tourist-Information kaufen könnte. Der Briefkasten wäre dort auch direkt daneben, an der Bushaltestelle.
Mit beschwingten Schritten marschierte sie durch den Ort. Die Menschen, denen sie begegnete musterten sie neugierig. Da hier jeder jeden kannte, fiel ein neues Gesicht sofort auf. Sophia nahm es mit einem Schmunzeln zur Kenntnis. Um in München überhaupt eine Chance zu haben von seinen Mitmenschen wahrgenommen zu werden, musste man schon splitterfasernackt durch die Fußgängerzone spazieren. Und selbst das würde sicher nur der Hälfte der Passanten als etwas Ungewöhnliches auffallen.
An der Tourist-Information wurde sie jedoch enttäuscht. Die Tür war abgesperrt und ein handgeschriebener Zettel mit einem Reißnagel daran befestigt. Nur mit äußerster Mühe konnte sie das Gekrakel entziffern.
‚Bin um 11:00 wieder da!‘ Sophia sah auf die Uhr. Es war kurz vor zwölf. Mit einem Seufzer drehte sie sich um. Eigentlich hatte sie überhaupt keine Lust, wegen einer Briefmarke nach Oberkirch hinunter zu fahren. Spontan entschloss sie sich ein bisschen spazieren zu gehen und nachmittags noch einmal vorbei zu kommen. Zuerst musste sie jedoch zurück zum Kindergarten, um festere Schuhe anzuziehen. Sie wandte sich zum Gehen, als eine Stimme hinter ihr ertönte: „Warten Sie bitte! Ich bin schon da!“
Sophia drehte sich um. Ein alter, verbeulter Geländewagen ohne Verdeck, der dem Anschein nach nur noch vom Rost zusammengehalten wurde, hielt vor dem Holzhaus. Thomas Anninger stieg aus.
„Es tut mir leid. Ich habe mich ein bisschen verspätet! Was kann ich denn für Sie tun“, sagte er diensteifrig und kam auf sie zu.
Abrupt blieb er stehen. Ein breites Grinsen ließ die weißen Zähne in seinem dichten Vollbart leuchten, als er sie erkannte.
„Ja wenn das mal keine Überraschung ist! Seit wann sind Sie denn hier, Frau ..., Frau....?“
„Römer!“, half ihm Sophia auf die Sprünge. „Hallo Herr Anninger! Schön Sie wieder zu sehen!“ Sie streckte ihm die Hand entgegen.
„Ganz meinerseits!“, antwortete Thomas.
Er ignorierte ihre Hand. Statt dessen packte er Sophia an den Schultern. Er zog sie zu sich heran und drückte ihr auf jede Wange einen so herzhaften Begrüßungskuss, dass ihr Hören und Sehen verging.
Sophia lachte: „Sie sollten alle Fremden so begrüßen, dann würden die weiblichen Gäste bis hinunter nach Oberkirch Schlange stehen.“
„So ein Willkommen ist nur ganz besonderen Besuchern vorbehalten“, antwortete er würdevoll.
Aber als er fortfuhr konnte man die ehrliche Freude aus seiner Stimme heraushören.
„Es ist schön, dass Sie wieder hier Urlaub machen. Wohnen Sie in Oberkirch?“ „Eigentlich mache ich gar nicht Urlaub. Ich bleibe nur bis zum Sonntag. Pfarrer Maierhofer hat mir geschrieben, dass er händeringend eine Erzieherin hier in Saas Gurin sucht. Er hat mich eingeladen alles vor Ort in Augenschein zu nehmen. Ich wohne drüben im Kindergarten“, antwortete Sophia.
Das fröhliche Leuchten in Thomas’ Augen vertiefte sich noch.
„Sie sind also der tolle Fang von dem mir Beat gerade erzählt hat.“
Als er Sophias fragenden Blick sah, fügte er erklärend hinzu:
„Ich komme gerade aus Oberkirch. Dort habe ich Beat, ich meine Pfarrer Maierhofer, getroffen. Er hat mir freudestrahlend von der Erzieherin erzählt, die vielleicht in Saas Gurin bleiben will.“
Sophia konnte ein Lachen nicht unterdrücken.
„Ja, Pfarrer Maierhofer scheint mir ein sehr mitteilsamer Mensch zu sein.“
„Sie dürfen ihm das nicht übelnehmen. Er war so verzweifelt, weil er nur Absagen erhalten hatte. Im Geiste sah er Saas Gurin wohl schon als verlassenes Geisterdorf, in dem nur noch zwei, drei verhutzelte Greise leben“, sagte Thomas.
„Aber ich habe gesehen, dass Sie in die Tourist-Information wollten. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ach Sie sind der Bin-um-elf-wieder-da“, meinte Sophia ironisch.
Thomas Anninger stellte sich mit gewölbter Brust vor sie hin und schlug die Hacken zusammen.
„Darf ich vorstellen: Thomas Anninger! Bergführer, Leiter der Bergwacht von Oberkirch, Leiter des Fremdenverkehrsbüros Saas Gurin, Weintrinker und persönlicher Betreuer alleinstehender Frauen! Stets zu Ihren Diensten!“ „Hocherfreut Sie kennenzulernen, Herr Fremdenverkehrsbüroleiter. Verkaufen Sie auch Briefmarken?“
„In allen Farben und Größen! Wenn Sie mich bitte begleiten wollen.“
Mit einer leichten Verbeugung wies er zur Tür seines Büros. Er riss den Hinweiszettel ab und sperrte die Holztür auf. Sophia folgte ihm.
„Hier befinden Sie sich in der Schaltzentrale aller touristischen Aktivitäten von Saas Gurin“, sagte Thomas stolz.
‚Das können ja nicht allzu viele sein‘, ging es ihr durch den Kopf, als sie die drei einsamen Prospekte begutachtete, die verloren auf dem Holztresen lagen. Diesen naseweisen Gedanken behielt sie jedoch schön brav für sich.
„Hübsch haben Sie es hier.“
Der kleine Raum gefiel ihr. Er wirkte so anheimelnd und gemütlich mit seinen Holzwänden. Das Sonnenlicht, das durch die offene Tür hereinfiel, tauchte sie in ein warmes Hellbraun.
„Sie brauchen sicher Briefmarken für Ansichtskarten“, sagte Thomas, öffnete eine Schublade eines Schreibtisches und kramte darin herum.
„Nein. Ich habe hier einen Brief, der per Luftpost nach Gabun gehen soll.“ Thomas schaute sie überrascht an. Verlegen kratzte er sich am Kopf.
„Tja, da muss ich aber erst in meiner Liste nachschauen, was das kostet. So auf Anhieb kann ich das nicht sagen.“
„Ich muss zugeben, dass ich ganz schön irritiert wäre, wenn Sie das so aus dem Stegreif sagen könnten“, lachte Sophia.
Nach ein paar Minuten gemeinsamen Suchens in der Portoliste, fanden sie tatsächlich den entsprechenden Betrag. Da die passende Marke nicht vorrätig war, zierten schließlich sieben verschiedene Briefmarken das Kuvert.
Thomas warf einen neugierigen Blick auf die Adresse.
„Katie Römer! Eine Verwandte?“
„Ja, meine Tochter“, antwortete Sophia.
„Sie haben eine Tochter in Afrika?“
Die Verblüffung stand ihm nur allzu deutlich im Gesicht geschrieben.
„Ja, aber erst seit drei Wochen. Seit 1. Juli arbeitet Katie in einem Lepradorf in einer Schule. Sie hatte keinen wirklichen Plan, was sie nach dem Abitur anfangen sollte und wollte sich ein Jahr Überlegungszeit gönnen. Dass sie diese Zeit ausgerechnet in Gabun verbringen will, fand ich nicht so berauschend. Aber es ist ja ihr Leben.“
Sophia machte eine kurze Pause und fuhr dann fort:
„Ich habe ihr übrigens geschrieben, dass ich es hier in Saas Gurin versuchen werde. Zumindest für ein Jahr.“
„Das ist ja großartig! Beat wird sich vor lauter Freude gar nicht mehr beruhigen können. Weiß er es schon?“
„Nein, Sie sind der Erste, dem ich es erzählt habe.“
Sophia musste schmunzeln, als sie seine Begeisterung bemerkte.
Strahlend trat Thomas vor sie hin, küsste sie wieder auf beide Wangen und sagte sehr würdevoll:
„Es ist mir eine besondere Ehre, Sie im Namen aller Einwohner von Saas Gurin herzlich willkommen zu heißen. Es wird Ihnen hier bestimmt gefallen.“
„Wir werden sehen“, meinte Sophia und zuckte mit den Schultern.
„Eine gewaltige Umstellung wird es sicher werden. München und Saas Gurin. Da besteht doch ein klitzekleiner Unterschied.“
„Ja, München ist vielleicht ein ganz klein wenig größer, aber Kinder sind doch überall auf der Welt gleich. Oder etwa nicht?“
Lachend nickte sie: „Richtig.“
„Wissen Sie schon wann Sie anfangen werden?“
„Keine Ahnung. Aber was ich so von Pfarrer Maierhofer mitbekommen habe, wäre es ihm am liebsten, wenn ich gleich hierbleiben würde.“
„Das kann ich mir denken“, lachte Thomas und fuhr nach einer kurzen Pause fort „aber Sie müssen das ja auch erst mit Ihrer Familie klären.“
Sophia bemerkte den prüfenden Blick mit dem er sie ansah. Sie beschloss ihn ein wenig auf die Folter zu spannen und sagte:
„Meine Familie ist in Gabun, das ist also kein Problem. Aber ich muss es natürlich erst mit meinem bisherigen Arbeitgeber klären und das ganze Drumherum mit meiner Wohnung regeln. Das wird alles noch ein ganz schöner Stress ehe ich hier anfangen kann.“
„Ach, das ist doch für Sie alles kein Problem. Sie sind doch eine so tatkräftige, energische Frau.“
Zur Bekräftigung klopfte er ihr so kräftig gegen die Schulter, dass sie aus dem Gleichgewicht geriet.
„Wenn Sie meinen“, brummte Sophia unsicher und rieb sich den schmerzenden Oberarm.
Thomas Anninger hatte anscheinend einige überschüssige Kräfte. Wenn die Bergdörfler alle so waren, konnte sie sich ja auf Einiges gefasst machen. Aber seine direkte, herzliche Art gefiel ihr sehr. Er erinnerte sie an Schwester Marie-Agnes.
„Jetzt werde ich Sie aber nicht mehr länger aufhalten. Ich will mir den Ort noch ein bisschen genauer anschauen und den Kindergarten muss ich auch noch unter die Lupe nehmen. Es war schön, dass wir uns wiedergesehen haben. Bis bald, Herr Anninger!“
Sophia streckte ihm die Hand hin, die er sofort ergriff und herzhaft drückte. „Die Freude war ganz meinerseits, Frau Römer. Auf Wiedersehen!“
Sophia stand schon vor der Tür, als sie sich plötzlich umdrehte.
„Beinahe hätte ich es vergessen. Wie geht es eigentlich Ihrem Freund? Ist er wieder ganz gesund?“
„Sie meinen Mark? Aber ja. Hatte ich Ihnen nicht gesagt, dass er hart im Nehmen ist? Seinetwegen war ich vorhin unterwegs. Ich habe ihn in Oberkirch am Bahnhof abgeliefert. Morgen früh um halb sechs geht sein Flugzeug. Er fliegt für vier Wochen nach Kanada.“
Als Thomas ihren erstaunten Blick sah, fuhr er fort:
„Mark hat sich auf dem Gebiet der Greifvogel-Auswilderung einen gewissen Namen erworben. Sie haben ihn nach Edmonton eingeladen, damit er dort an der Universität Seminare hält.“
„Schön, ...schön, dass es ihm wieder gutgeht. Also dann auf Wiedersehen.“ Sophia drehte sich um und ging langsam die Dorfstraße entlang.
Thomas sah ihr nach, bis sie hinter einem der Häuser verschwand. Ihm war das Stocken in ihrem letzten Satz nicht entgangen. Er hatte beinahe das Gefühl, dass eine gewisse Enttäuschung in ihrer Stimme mitgeschwungen hatte. Aber vielleicht war das auch nur Einbildung. Er pfiff fröhlich vor sich hin als er zurück in sein Büro ging. Prima, dass nun der Kindergarten bald wieder offen sein würde.